Als Gilles Deleuze und Félix Guattari 1972 den Anti-Ödipus veröffentlichten, war das Echo in der Nach-68er-Szene gross: Das Rhizom, die Falte, die Mannigfaltigkeit etc. waren bald in aller Munde. Doch gelesen, geschweige denn verstanden wurde das Buch kaum. Kann man sich aber von einem Buch begeistern lassen, das man nicht versteht? Oder ist dies blosse Schwärmerei? Oder schlimmer noch: das Blöken der Herde?
Die Rede soll aber nicht vom Anti-Ödipus sein, sondern von Differenz und Wiederholung, der Habilitationsschrift von Deleuze, die 1969 im französischen Original erschien. Wenn ich behaupte, die Hälfte davon verstanden zu haben, bin ich nachsichtig mit mir. Und dennoch: Es hat mein Denken von Grund auf verändert. Und nicht nur meines. Toni Negri, Alain Badiou und viele andere politische Theoretiker sind ohne Deleuze nicht denkbar. Michel Foucault hat einmal behauptet, man werde eines Tages das 20. Jahrhundert deleuzianisch nennen. Und er hat wohl Recht behalten.
Die Lektüre von Differenz und Wiederholung hatte auf mich den Effekt, den der Ruf des Jungen «Er ist ja nackt» im Märchen Des Kaisers neue Kleider auf die Menge hatte: Plötzlich stand die Tradition des abendländischen Denkens entblösst vor mir. Oder besser: eine bestimmte abendländische Tradition. Seit Plato, so die These von Deleuze, sei das europäische Denken dualistisch. Es werden zwei Ebenen bestimmt, von denen eine der anderen vorgezogen werde: Das Tiefe ist besser als das Oberflächliche, das Sein besser als der Schein, das Ewige besser als das Vergängliche, das Ideal besser als die Realität, die Identität besser als die Differenz, das Eine besser als die Mannigfaltigkeit. Die mindere Ebene wird entweder verdammt oder, schlimmer noch, auf die höhere reduziert. Das Mannigfaltige reduzieren wir auf den Begriff, im Schein entdecken wir das Sein, in der Realität steckt die Möglichkeit des Ideals. Die Folge davon ist, dass wir immer mit dem Mangel operieren. Was ist, ist gegenüber dem, was sein könnte, immer im Defizit.
In der Nachfolge Nietzsches entdeckt Deleuze im dualistischen Denken ein Macht- und Gewaltpotential. Wenn den Menschen weisgemacht wird, dass sie die Fülle des Lebens und die Vielfalt der Möglichkeiten – kurz, die Realität, wie sie ist – zugunsten eines Ideals aufschieben und sich selbst zugunsten höherer Werte aufgeben und unterdrücken müssen, werden sie zu Wachs in den Händen der Mächtigen.
Die Frage, die Deleuze ein Leben lang umtreibt, ist folgende: Ist das dualistische Denken der menschlichen Vernunft eingeschrieben und damit unumgänglich, oder ist eine anderes Denken möglich, ein Denken, das gegen die Herrschaft andenkt? In der Beantwortung dieser Frage fährt Deleuze zwei Strategien: Einerseits erfindet er Begriffe und probiert aus, ob diese ein monistisches Denken begünstigen, andererseits gräbt er, wie ein Archäologe, eine vergessene und verdrängte Traditionslinie aus, die dem Dualismus nicht verfallen ist. Seine Gewährsleute sind Johannes Duns Scotus, Baruch Spinoza, David Hume, Friedrich Nietzsche und Henri Bergson.
Seine Lieblingsfeinde sind Hegel und vor allem Freud; nicht weil sie am anderen Ende des Spektrums stehen würden, sondern weil sie einem nicht-dualistischen Denken so nahe gekommen sind und es dann doch verraten haben. Es ist die Feindschaft einer enttäuschten Liebe. Von Freud übernimmt Deleuze den Begriff des Wunsches als zentrales Konzept und versucht, es anders zu denken. Für gewöhnlich verstehen wir den Wunsch als Plan, einen mangelhaften Zustand zugunsten eines besseren zu beheben. Was aber kann ein Wunsch sein, wenn es – Spinoza folgend – keinen Mangel gibt, weil alles einfach so ist, wie es ist, weil die Realität immer voll ist? Der Wunsch, besser: die Wunschmaschine, ist, so Deleuze, ein Gefüge, das Verknüpfungen herstellt, Möglichkeiten eröffnet und Kräfte fliessen lässt. Der Wunsch ist somit ein immer schon verwirklichter Bewegungszustand. Wir trinken am Feierabend kein Bier, weil uns ein Bier fehlen würde, weil wir an einem Biermangelsyndrom leiden würden, sondern weil wir ein Gefüge herstellen wollen, in dem wir sein können. Der Wunsch zielt also nicht auf einen Gegenstand, der fehlt, sondern auf eine Situation, zu der der Ort, die Mittrinkenden, die Musik und der Tisch gehört. Er zielt nicht auf Objekte, sondern auf Intensitäten.
Deleuze ist ein philosophischer Bastler, der unentwegt an einem neuen Denken, aber auch an einer neuen Welt herumwerkelt. Nicht immer gelingen die Basteleien. Manchmal fallen sie auseinander, manchmal brechen sie unter der Last der Originalität zusammen. Aber das gehört zum Schicksal des Bastlers. Was bleibt, ist der geschärfte Blick auf sogenannte Denknotwendigkeiten. Man kann auch anders denken. Und dies ist die Voraussetzung dafür – das ist die feste Überzeugung von Gilles Deleuze –, dass man in die Welt eingreifen kann.
Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. München 1992. Wilhelm Fink Verlag, 408 S.