Der westasiatische Zipfel, den wir bewohnen, hat nicht mehr Probleme als der Rest der Welt. Selbst in Griechenland lebt es sich noch weit besser als in Marokko oder gar Madagaskar. Wir sind auf diesem Zipfel circa 800 Millionen Menschen, weniger als in Indien oder China. Würden wir unsere Einkommen auch nur einigermassen egalitär verteilen, dann ginge es allen recht gut. Das durchschnittliche Prokopfeinkommen betrüge ca. 25’000 US-Dollar, weit über dem Weltdurchschnitt, der bei 12’000 Dollar liegt.[1] Allerdings macht die Abgrenzung dieser Weltregion etwas Mühe: Gehört nun der ganze Mittelmeerraum, samt allen nordafrikanischen und westasiatischen Staaten (Türkei, Israel) dazu? Reicht Europa, zu dem Russland zweifelsfrei gehört, dank der russischen Föderation bis zu den Kurilen? Und was ist mit Grönland? Wenn Martinique zu Europa gehört (samt Euro), warum dann nicht auch Kuba oder Kolumbien? Nun, der gleiche Diskurs kann für die ganze Welt gemacht werden: Wie können wir mit 12’000 Dollar Einkommen überleben? Das eine wie das andere ist zu schaffen, wenn wir unser Leben anders einrichten. Es muss zu schaffen sein.
Doch nehmen wir einmal das 800-Millionen-Europa (also inklusive Russland und Osteuropa).[2] Sollen wir ihm beitreten? Wollen wir ohne Pass bis Kamtschatka reisen können? Oder sollen wir vorerst nur der EU beitreten, sozusagen als erster, kleiner Schritt? Das BIP der Schweiz liegt bei 46’000 Dollar, das der EU bei 32’000 Dollar. Schlimmstenfalls könnten wir also auf 32’000 Dollar absacken, wenn wir uns solidarisch verhalten. Ein Wohlstandsverlust von einem Drittel? Ist das ein Problem? Wohl kaum. Auch in der Schweiz leben viele Menschen mit weniger. Dafür hätten wir die Chance mit Menschen in Rumänien, Portugal oder Bulgarien zu teilen und Europa etwas gleicher und netter zu machen.
Europa ist zerrissen durch extreme Einkommensunterschiede, durch extrem unterschiedlich entwickelte Infrastrukturen, unterschiedlich solide Institutionen. Das Kapital – materiell, immateriell, kulturell, sozial – ist unterschiedlich verteilt, was natürlich Wanderbewegungen dorthin, wo es mehr davon hat, auslöst. Die Menschen kommen nicht in die Schweiz, weil sie das Land und die Leute lieben, sondern, weil es hier Jobs hat. Und Jobs hat es hier, weil Kapital aus der ganzen Welt hierher fliesst. Wenn wir unsere Jobs nach Europa exportieren (das heisst Kapital), dann gehen die Menschen dorthin. Oder noch besser: Wenn es überall weniger Jobs braucht, dann können die Menschen dort bleiben, wo sie sind. Bald müssen wir sowieso froh sein, wenn es noch für eine 20-Stundenwoche reicht. Es gibt schlicht nichts mehr zu tun. Wachstum können wir vergessen. It’s the economy, stupid. Weniger economy = weniger Ärger.[3]
Es ist nicht mehr möglich, Frieden und Wohlergehen in ganz Europa auf der Grundlage der bisherigen Wirtschaftsweise herzustellen. Ein bisschen Herumschieben von Geld und Deficit Spending bringt es nicht mehr. Sparen ist für die einen eine Zumutung, lohnt sich für die andern nicht, weil keine Zinsen mehr bezahlt werden. Austerität und künstliche Konsumankurbelung führen gleichermassen in den Abgrund. Merkel und Tsipras funktionieren beide nicht. Hollande hat es bei seiner Kandidatur gesagt: Ihr könnt mich wählen, aber es wird nichts nützen: Die Finanzwelt macht jede Politik wirkungslos. Er hat Wort gehalten. Und alle lieben ihn.
Die EU bemüht sich nicht wirklich Ressourcen gerechter zu verteilen. Die viel gerühmten Rettungsschirme halfen vor allem den Banken der reichen Länder, die sich im Süden verspekuliert hatten. Man sagt daher, die EU sei ein neoliberales Projekt. Na und? Die ganze Welt ist momentan ein neoliberales Projekt. Sollen wir deshalb aus der Welt austreten? Und der Mond? Der ist auch ein neoliberales Projekt. Sieht man ihm auch an: voller Narben und Krater! Es wäre schön, Europa wäre kein neoliberales, sondern ein ökologisches, soziales, demokratisches Projekt. Können wir dazu beitragen, indem wir nicht mitmachen? Kaum. Europa braucht uns. Man liebt uns sogar in den meisten europäischen Ländern, völlig unverdienterweise, bis jetzt jedenfalls. Nicht mehr lange, wenn wir so weitermachen.
Beitreten? Aber subito!
Wenn die Schweiz Europa beitritt, dann freuen sich viele Menschen in Europa. Es würde einem sozialeren, regionaleren, herzlicherem Europa neuen Schub verleihen. Die Briten würden sich vom neuen schweizerischen Geist in Europa anstecken lassen und wieder aktiver mitmachen. Na, wenn die Schweiz mitmacht, dann können wir ja nicht zurückstehen! Man würde nicht mehr auf Le Pen, Wilders, die AfD und ähnliche finstere Gestalten und Gruppierungen hören, sondern auf die Schweizer Kommissarin in Brüssel. Mann, diese SchweizerIn, die bringt uns schön auf Trab! Dazu kommt noch, dass die CH-Kommissarin eine tamilische Seconda ist (wie ja auch der halbe Bundesrat ab 2017 aus Secondas besteht). Will sich jemand mit Anbarasi anlegen? Nie.
Die Frage ist: was hat die Schweiz von einem EU-Beitritt? Nichts. Aber wir sind eigentlich unwichtig. Nur 1 Prozent. Wir freuen uns einfach mit allen andern 792 Millionen Menschen, dass es uns gut geht. Was wollen wir mehr? Wir haben genug zu essen, zu trinken, wir haben viele Freunde, tragen Secondhand-Klamotten und organisieren Gratiszüge bis nach Wladiwostok. Autos können und wollen wir uns schon lange nicht mehr leisten. Wohnraum hat’s genug, weil ja die Weltbevölkerung langsam schrumpft. Die Zuwanderung aus andern Kontinenten wird – abgesehen von Besuchen – leider abnehmen, weil die sich dort ebenso vernünftig wie im guten alten Europa einrichten werden. Also schrumpfen wir fröhlich dahin. Man braucht nicht viele zu sein um es lustig zu haben.
Unsere Bedingungen: hart, aber fair
Selbstverständlich stellt die Schweiz zusammen mit ihrem Beitrittsgesuch einige harte, aber vernünftige Bedingungen:
Lakima
Zuerst einmal verlangt die Schweiz, dass das Gebilde, das weder mythologisch Europa (=Kreta!), noch ein Kontinent, noch eine Union, noch eine Konföderation ist, sondern etwas eigenes, das unten definiert werden wird, umbenannt wird. Wir schlagen Lakima vor.[4] Einfach so. Der EU beitreten? Na. – Lakima beitreten? Aber sofort![5]
1000 Watt
Lakima muss ökologisch weltverträglich werden. Das heisst, wir müssen mit 1000 Watt Energieumsatz auskommen und auch sonst viel weniger Ressourcen verbrauchen. Das erreichen wir nur mit einem neuen lakimischen Lebensstil, der mit folgenden Eckwerten illustriert werden kann:
- 20 m2 Privatwohnraum (Minergie, beheizt)
- kein Auto
- keine Flugreisen
- 9 Personenkilometer/Tag Bahnfahrten (heute: 6; 2291/Jahr)
- Europareise von 2000 km (Bahn)
- Schiffsreise von 12’000 km (neue High-Tech Hybrid Segelschiffe)
- 18 kg Fleisch pro Kopf und Jahr
- 70 Liter Wasser pro Tag
- 1 Zeitung pro 10 Bewohner
Wenn wir so leben, dann dürfte es sogar schwierig werden pro Jahr 25’000 Dollar Einkommen nur schon auszugeben. Vielleicht braucht es dann Kontingente um die Massenauswanderung ins boomende Afrika zu stoppen. Wer schon The Power of Neighborhood and the Commons (2014) kennt, kann alles überspringen bis zu den Regeln.
160’000 Nachbarschaften[6]
Mit den heutigen Einzelhaushalten ist eine 1000 Watt-Gesellschaft kaum auf vergnügliche Art zu erreichen. Wenn die Konsumgesellschaft zu Ende geht, müssen wir uns anders organisieren. Darum brauchen wir neue Haushalte für je 500 Lakimi, urbane Lebenserhaltungseinheiten, möglichst kompakt gebaut, mit 4-Stern Komfort. Alle 160’000 Lakima-Nachbarschaften sind mit je um die 80 ha Land in der Region (siehe unten) verbunden, das sie direkt ernährt. Austausch innerhalb von Lakima ist natürlich erlaubt. Intern wird eine komfortable Infrastruktur geteilt. Nachbarschaften sind demokratisch strukturiert, wie Genossenschaften. Lakima fördert den Aufbau dieser Nachbarschaften mit einem Programm von 8 Billionen Dollar (bzw. Lakas, die neue Währung), also 5 Millionen pro Nachbarschaft. Das ist der erste Commons-Kreis.
40’000 Quartiere
Je 20’000 Menschen (10’000 bis 40’000), bzw. 40 Nachbarschaften bilden eine Basisgemeinde, die für öffentliche Dienstleistungen zuständig ist: Schulen, Energie, Wasser, Strassen, Verkehrsmittel, Spitäler, Kultur, zusätzliche Lebensmittel (Fair Trade). Diese Quartiere oder kleinen Landstädte sind wiederum demokratisch organisiert und verwalten ihre gemeinsamen Ressourcen als einen Commons. Zum Aufbau dieser Quartierzentren gibt es wieder ein Programm: 20 Millionen für jedes, macht 800 Milliarden Lakas (La).
400 Regionen
Je zwei Millionen Menschen bilden eine Region, mit einer grossen Stadt als Zentrum (Berlin, Birmingham, Donezk, Lyon, Zürich), die, als Ergänzung zu Nachbarschaften und Quartieren, weitere öffentliche Dienstleistungen organisiert: Hochschulen, Konservatorien, Spitzenspitäler, Opern, öffentliche Verkehrsmittel, Thermen, Gerichte, Banken, Spitzenrestaurants, Hafenkräne. Innerhalb der Regionen werden die meisten landwirtschaftlichen Betriebe der Nachbarschaften Platz finden. Die Regionen kümmern sich um Commons wie: Seen, Flüsse, Meeresküsten, Wälder, Steppen.
80 Territorien[7]
Je um die 10 Millionen Lakimi auf um die 50’000 km2 Land bilden ein Territorium. Davon gibt es circa 80, von der Grösse des heutigen Dänemark, Belgiens, Estlands, der Provence. Diese Territorien sind nicht ethnisch bestimmt, sondern eher pragmatisch durch die verkehrsmässige Erschliessung. Die alten Namen können natürlich weiter verwendet werden, aber offiziell gelten nur noch Nummern: Island ist Lakima 1, Kamtschatka Lakima 79. Die Territorien bilden ökologische und ökonomische Einheiten, die 90 Prozent des Lebensnotwendigen in möglichst geschlossenen Kreisen produzieren. In allen Territorien (wie auch in Regionen und Quartieren) gibt es direkte Demokratie, dazu Parlamente und eine ordentliche Verwaltung.
Lakima
80 Territorien bilden einen kooperativen Verband für verschiedene grössere Commons in den Bereichen Rohstoffe, Energie, Industrien, Eisenbahnen, Forschung, Kanäle usw. Jedes Territorium entsendet 2 VertreterInnen in das Lakima-Parlament. Sie werden durch ein Lossystem bestimmt. «Schau, Lina, Du bist Abgeordnete!» ruft Karol aus, als er in der Post den blau/goldenen Brief der Lakima-Wahlkommission entdeckt. «Zum Glück ist es nur für drei Jahre», seufzt sie. Lakima organisiert natürlich auch alle Institutionen, die für die Rechtssicherheit und den öffentlichen Frieden nötig sind.
Regeln
Das zur Strukturierung. Daneben verlangt die Schweiz noch ein paar Regeln:
- alle Lakimi haben gleiche Rechte
- alle wichtigen Produktionsmittel werden von den passenden Commons-Institutionen zum allgemeinen Nutzen verwaltet (das Commons-Prinzip)
- alle Lakimi haben ein Anrecht auf eine Berufsausbildung inkl. gymnasiale Allgemeinbildung (da lernen sie dann die 10 Lakimi-Sätze)
- es herrscht die 20-Stundenwoche für bezahlte, professionelle Arbeit
- weitere 20 Stunden werden unbezahlt für Haus-, Land- und Sozialarbeit geleistet
- Lebensunterhalt und medizinische Versorgung werden abgestuft von Nachbarschaften bis zu Territorien für alle garantiert
Das wären in groben Zügen die Beitrittsbedingungen der Schweiz. Sie sind logisch und notwendig zugleich. Niemand kann etwas dagegen haben. Alle haben darauf gewartet, dass wir damit kommen.
Aber was, wenn sie nicht erfüllt werden? Dann treten wir erst recht bei. Es würde nämlich einigen gerade so passen, dass wir draussen bleiben. Vor allem die Deutschen wollen uns wahrscheinlich nicht mehr, wenn sie unsere Bedingungen lesen (S’Blechle! S’Häusle! Adee!). Die Franzosen suchen konsterniert nach Spuren ihrer Grande Nation. Nur Putin kann zufrieden sein: Er bekommt endlich jene Regionalisierung, die er momentan andern empfiehlt: L 64 bis L 80. Ideal wäre es natürlich, wenn Russland und die Schweiz Lakima am gleichen Tag – dem 8.6.2015 – beitreten würden. Dann feiern wir 200 Jahre bewilligte Schweiz.[8]
Traurig ist allerdings, dass die Schweiz selbst diese Beitrittsregeln in ihrem eigenen Land noch nicht einhält. Da muss man sich natürlich überlegen, ob man da austreten und Lakima direkt einzeln beitreten will.
Für Details:
Hans E. Widmer: The Power of Neighborhood and the Commons. Zürich 2014.
Neustart Schweiz: Nachbarschaften entwickeln!. Zürich 2013.
[1] 20 Billionen Dollar Bruttosozialprodukt geteilt durch 800 Millionen Menschen, also 25’000 Dollar, was ziemlich genau das BSP von Griechenland ist.
[2] Putin hat der EU übrigens einmal ein solches Europa vorgeschlagen, blitzte aber ab. Könnte ja sein, dass Russland und die Schweiz eines Tages gemeinsam ein Beitrittsgesuch stellen.
[3] Das meinen auch Philip Löpfe/Werner Vontobel, Wirtschaft boomt, Gesellschaft kaputt. Zürich 2014.
[4] Die rot-grüne Lakima-Flagge trägt das goldene Commons-Band, das uns alle verbindet.
[5] Damit sich die Lakimi besser verstehen, verlangt die Schweiz (neu: Lakima 45), dass eine künstliche Lakima-Sprache, eben Lakimi, entwickelt wird. Sie soll aus nicht mehr als 10 Sätzen, sowie Ja und Nein, bestehen.
[6] Ich nehme hier die Zahlen für das ganze Lakima, für die EU allein muss man es halbieren.
[7] Gewisse Leute nennen das Regionen und richten damit ein heilloses Durcheinander an.
[8] Nach dem Wiener Kongress von 1815. Russland gehörte zu den Grossmächten, die die Schweiz bewilligt haben, unter der Bedingung, dass sie neutral bleibt. Für die Schweiz setzten sich insbesondere der Brite Stratford Canning und Ioannes Antonios Kapodistrias als Vertreter des Zaren ein. Die beiden Letzteren hatten schon 1813-14 als Gesandte in der Schweiz mit diplomat. Druck für das Zustandekommen des Bundesvertrags gesorgt (d.h. man musste uns zwingen uns darauf zu einigen). Am 8.6.1815 fand die Neuformatierung der Schweiz als Art. 74-85 und 91-92 in die Wiener Kongressakte Eingang. Neutralität ist nach dem Beitritt zu Lakima nicht mehr nötig, weil sozusagen alle Territorien sich selbst und der Schweiz beitreten und daher hyperneutral werden. Nächstes Jahr gibt es landesweite Feiern, bei denen Art. 74-85 und 91-92 auf allen Plätzen verlesen werden. Lang leben Canning und Kapodistrias!
* Dieser Text erschien erstmals am 8.9.2014 auf neustartschweiz.ch.