Manchmal hilft ein Buch. Ich hatte mich in den 1980er Jahren etliche Jahre mit Rassismus beschäftigt. Mit der Rassenpolitik des «Dritten Reichs», ihrer pseudowissenschaftlichen Begründung, mit der Eugenik, ihrer Entstehung, mit der Geschichte der physischen Anthropologie, immer auf der Suche nach den Elementen der Xenophobie und des Rassismus. Eine Menge lässt sich auflösen («analysieren») und erklären. Es blieb da aber immer ein teuflischer Rest. Die Menschen sind schliesslich verschieden. Auch wenn viele Staaten nach einem blutigen 20. Jahrhundert gelernt haben, dass daraus keine Verschiedenheit der Rechte und Lebenschancen abgeleitet werden kann. Ist eine wissenschaftliche Begründung des Anti-Rassismus möglich? Ich glaube ja. Aber die Untersuchung der Machart und Funktionsweise des Rassismus liess mir keinen anderen Schluss – der mich sehr bestürzte –, als dass es vermutlich immer Rassismus geben wird.
Dann las ich endlich Rasse und Geschichte von Claude Lévi-Strauss. Dieser Text entstand in der Folge einer Unesco-Enquéte von 1949: The Race Question 615-544-6027 , die 1950 in Paris erschien. (1) Er beginnt: «Es mag überraschen, wenn in einer Schriftenreihe, die sich den Kampf gegen den Rassismus zum Ziel gesetzt hat, vom Beitrag der Menschenrassen zur Weltzivilisation gesprochen wird.» Statt sich auf die Diskussion über die biologische, anthropologische, psychologische Verschiedenheit oder Gleichheit der Menschen einzulassen, griff Lévi-Strauss das Problem frontal an und drehte die Fragestellung um: Ja, sie sind verschieden. Wie sehen die Menschen diese Verschiedenheiten? Worin sind sie verschieden? Was hat ihre Verschiedenheit gebracht? Er schimpfte ein wenig auf Arthur de Gobineau (und meint etwa ein Drittel der Crème de la Créme der Anthropologie, Genetik und Biologie – rund 130 Wissenschaftler rund um den Globus –, die sich mit zum Teil haarsträubenden Statements an der Diskussion der Unesco-Enquète beteiligte): «Die Erbsünde der Anthropologie besteht jedoch in der Verwendung des rein biologischen Rassebegriffs […] zur Erklärung der unterschiedlichen soziologischen und psychologischen Leistungen der einzelnen Kulturen.»
Unter der Hand (ohne sie so zu benennen) bietet Lévi-Strauss in diesem Text eine Einführung in die strukturale Methode, die er mit einer Anekdote aus der Barockzeit beginnt und deren Ausgangsproblematik er an einem Beispiel erläutert. Die Anekdote: Die spanische Krone sandte Untersuchungskommissionen in die eben entdeckten Antillen, «die erforschen sollten, ob die Eingeborenen eine Seele besässen». Diese hatten jedoch auch ein Forschungsprojekt: Sie gingen daran, «weisse Gefangene einzugraben, um durch Beobachtung zu prüfen, ob ihre Leiche der Verwesung unterliege». (Wer das gelesen hat, dem fällt auf, dass sich die Roma «Roma» nennen: Menschen. Es gibt in Nord- und Südamerika und in Afrika mehrere Völker, die sich «wahre Menschen» nennen. Die «Wahren Finnen», die es auf zwei Sitze im Europaparlament brachten, sind da bescheidener.)
Und das Beispiel für die Ausgangsproblematik: Lévi-Strauss vergleicht uns mit Menschen in einem Zug. Wenn dieser Zug einen anderen überholt, erkennen wir dort andere Menschen. Sie sitzen wie wir, sehen ähnlich aus wie wir. Aber wenn dieser Zug an einem anderen vorbeifährt, der in der entgegen gesetzten Richtung fährt, erkennen wir in diesem Zug gar nichts. Das verstehe ich so: Wenn fundamentale Parameter inkommensurabel sind, scheitert unser überkommenes Erkenntnisvermögen. Wir müssen ganz vorne anfangen. (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Das Rohe und das Gekochte …)
Ganz vorne ist das Gegenteil von ganz hinten. Zu den Antipoden von Lévi-Strauss in der Unesco-Enquète über die Rassenfrage (die noch immer einer Monographie harrt und zu der er mit seiner Schrift Stellung nahm) zählten etliche Wissenschaftler, die das Vorurteil zum Massstab ihrer Forschungen machten. Ronald Fisher – den Richard Dawkins noch 2010 «the greatest biologist since Darwin» nannte – ging von fundamentalen Unterschieden der Menschengruppen «in ihrer angeborenen Fähigkeit zur intellektuellen und emotionalen Entwicklung aus». Der Biologe Cyril D. Darlington, wie Fisher Mitglied der British Royal Society, hielt deshalb ein Verbot von Heiraten zwischen Menschen verschiedener Rassen für biologisch begründbar. Der Kieler Anthropologe Hans Weinert schrieb an die Unesco unverblümt: «Was das Verbot von Heiraten zwischen Personen verschiedener Rassen betrifft, so möchte ich fragen, welcher der Herren, die das Statement unterschrieben, seine Tochter zum Beispiel mit einem australischen Aborigine verheiraten würde.» (2)
Was hat mir geholfen? Das Problem frontal anzugehen. Die Diskussion über die biologischen Determinanten solch komplexer Dinge wie der Unterschiede menschlicher Gesellschaften ist eine intellektuelle Sackgasse. Die Verschiedenheiten selbst sind das Thema. Damit haben wir uns auseinanderzusetzen (und tun es ja inzwischen auch!). «Kultureller Relativismus» wurde dieser Text gescholten – hier reicht der Platz nicht, um zu zeigen, was das für ein unsinniger Vorwurf ist. Ein nachhaltiges Fazit noch, aus der Lektüre dieses Textes gewonnen: Etwa neunundneunzig Prozent von allem, was wir sagen und denken, können wir nur sagen und denken, weil wir keine Ahnung haben. Es hilft nichts anderes, als einmal zu versuchen, sich in einen Zug, der in entgegen gesetzter Richtung fährt, zu setzen. Es kostet nicht viel, höchstens die Scham, darin ein wenig dümmer auszusehen, als die Gewohnheit erlaubt.
1) Claude Lévi-Strauss: Rasse und Geschichte, in: ders., Strukturale Anthropologie II, Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1975, S. 363–407.
2) The Race Concept: Results of an Inquiry, Unesco, Paris 1952, S. 27-35. Übers. d. Vf. (http://unesdoc.unesco.org/images/0007/000733/073351eo.pdf).