Das zwischen Menschen entstehende Handeln im öffentlichen Raum definiert Hannah Arendt bekanntlich als Politik. Dieses Zwischen entsteht auch in anderen Zusammenhängen, wie die Abgrenzungen zwischen den Wissenschaftsdisziplinen zeigen.
Solche Zwischenräume lotet Hannah Arendt in mancherlei Hinsicht aus. In zwölf Beiträgen geht dieser Band einigen davon nach, um zu zeigen, „welche Impulse Arendts Werk heute noch gibt: jenseits der eingefahrenen Bahnen der Arendt-Rezeption und im produktiven Zwischenbereich verschiedener Disziplinen“, wie die Herausgeber das Ziel des Bandes formulieren (S. 11). Aus den lesenswerten Beiträgen soll hier nur auf drei m. E. für den deutschsprachigen Diskussionsraum besonders erhellende eingegangen werden. Die jetzt in den USA lehrende Germanistin und Philosophin Barbara Hahn widmet sich in ihrem Beitrag „Gemeinsam unterwegs zur Sprache? Hannah Arendt und Martin Heidegger über Dichten und Denken“ (S. 137–150) den Spezifika dieser Sprache und ihrem Gebrauch. Sie macht den Sprach- als Gesprächsbogen zwischen Arendt und Heidegger fest an einem gemeinsamen Winterspaziergang im Jahr 1950, als Arendt sich kurzzeitig in Deutschland aufhielt und den Kontakt zu Heidegger im Februar desselben Jahres wiederhergestellt hatte. Beide kommen in ihrem Briefwechsel immer wieder auf bestimmte Begriffe der dabei erörterten Sprache zurück, und zwar nicht nur als private Reminiszenz wie etwa, wenn Heidegger in einem Maibrief desselben Jahres formuliert: „‚Die Sprache‘ [Heideggers Arbeit ‚Unterwegs zur Sprache‘ beginnt mit dem Kapitel ‚Die Sprache‘] enthält mein Denken an die Sprache […]; wir sprachen auf einem Gang ins Waldtal von der Sprache. […] Ich denke viel darüber nach. In all diesem Denken bist Du […]. Und dann träume ich – Du möchtest doch hier wohnen, Waldwege, sich kreuzende, gehen […]“ (Briefe, 109). Vor allem Hannah Arendt, so zeigt Hahn eindrücklich, hat sich in ihren Werken bis an ihr Lebensende (141) immer wieder auf Heideggers Begrifflichkeiten bezogen. Ihre Sprachbögen resultieren aus weit gespannten Denkbewegungen der Philosophie und Dichtung von der Antike über Goethe zu Rilke und über Nietzsche zu Heidegger, wie sie u.a. anhand Heideggers „Was heisst Denken“ (Tübingen 1954) und Arendts „Vom Leben des Geistes“ aus den 1970er-Jahren (dt. 2002) untersucht (144). Hier findet Arendt Heideggers „erste Kehre“, angesiedelt zwischen den beiden Nietzschebänden, in einem bedeutsamen Zwischen(zeit)raum, denn der erste Band sei „mit Nietzsche geschrieben, der zweite in Auseinandersetzung mit ihm, in nicht nur leicht polemischem Ton.“ (144). Diese Denkbewegungen, die uns über das Wollen zum Heidegger’schen Nichtwollen führen, bringt Arendt zu Heideggers Begriff der Gelassenheit und wendet sich zum Denken zurück (146 f.). Sprache, Denken, Dichten: Arendt führt mit Heidegger ein Gespräch zu diesen Begriffen, sie interpretiert sie, überführt sie in andere Denkräume und schliesst den grossen Bogen erneut mit einer gemeinsamen Einsicht aus dem Spaziergang auf dem Waldweg im Februar 1950: „Das Denken dichtet am Rätsel des Seins.“ (150) In dieser resümierenden Erkenntnis liegt eine lange Wegstrecke an sprachlicher Gemeinsamkeit, um die sich Arendt, wie Hahn hier transparent werden lässt, immer wieder bemühte, die sie zu erweiterten, aber auch zu von Heidegger deutlich unterscheidbaren Erkenntnissen führte (150).
Ebenfalls von einer Gemeinsamkeit eines Denkers mit Arendt handelt der Beitrag, den die in Belgien unterrichtende Germanistin und Direktorin des Instituts für jüdische Studien an der Universität Antwerpen, Vivian Liska, unter dem Titel „Gesetzlose Erbschaft“ (S. 183–195) vorstellt. Anders aber als Arendt in ihrer sprachlichen Gemeinsamkeit mit Heidegger handelt es sich hier aber um eine nur vermeintliche Erbschaft Arendts, derer sich der mehr oder weniger populäre Kulturphilosoph Giorgio Agamben bedient. Es ist verdienstvoll, dass und wie die Autorin argumentativ den von Agamben in Anspruch genommenen Bezug auf Arendt widerlegt, dessen Politik- und Weltverständnis sich eher aus religiös konnotierten rechtskonservativen Kreisen im Sinne etwa des Staatsrechtlers Carl Schmitt speist als aus den freiheitsbezogenen Denkbewegungen einer Hannah Arendt. Seine Berufung auf Arendt hat allenfalls einen biografischen – er hatte ihr 1970 geschrieben, sie hatte ihm in ihrer steten Diskussionsbereitschaft ihrer Themen geantwortet (183) – aber, zumindest in seiner Entwicklung, keinen inhaltlichen Bezug mehr, wie Liska an mehreren gut gewählten Beispielen plausibel darlegt (186 ff.). Während etwa Arendt in ihrem Werk „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“ in diesem Zwischen eine „Lücke in der Zeit“ (183) sieht, die sie als Unterbrechung eines linearen Ablaufs auffasst, in der das Denken (als Voraussetzung politischen Handelns verstanden) stattfinden kann und somit Freiheit impliziert, zeitigt dieser Moment bei Agamben völlig konträre Konsequenzen. Könnte man allenfalls seiner Diagnose der Durchdringung des Lebens durch Gesetze bis zur Verwischung ihrer Unterschiede noch zustimmen, so wirkt sein Lösungsvorschlag mehr als befremdlich: In absolutem Gegensatz zu Arendt konstatiert er hier keinen Moment der Freiheit, keine Lücke, die Denkfreiheit und Handeln ermöglicht, sondern setzt unter Suspendierung eigener Handlungsmöglichkeiten auf die Denkfigur nicht nur eines erlösenden Moments, sondern buchstäblich eines Erlösers, einer „messianischen Inversion“ (195) in der Figur eines Messias. Dieser Gedanke speist sich, wie Liska anmerkt, aus dem konservativreligiösen Gedankenmilieu Carl Schmitts, der bekanntlich den damaligen deutschen „Führerstaat“ staatspolitisch rechtfertigte und für den „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe“ waren, wie Liska zitiert (193 f.). Hier spielt der für Arendt wichtige Begriff der Grenzziehung hinein, was Liska an einem Beispiel ausführt: Für Arendt findet politisches Handeln in einem Raum statt, der zu seinem Schutz von Gesetzen umgrenzt ist. Genau dieser Grenzziehung aber verweigert sich Agamben – mit den entsprechenden Konsequenzen. Wer aber in seinem Denken dort angelangt ist, kann gewiss keine Arendt-Erbschaft mehr für sich in Anspruch nehmen. Liskas Fazit ist daher zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Zwar weist Agambens implizite Kritik an Umgrenzungen – ihrer unvermeidlichen Struktur von Einschluss und Exklusion und ihrer Tendenz zur Bewahrung und Beständigkeit des Status quo – auf mögliche Grenzen von Arendts Vorstellungen des politischen Raums hin. Dennoch vollzieht seine eigene Alternative eine radikale Umkehr ihrer Erbschaft: Indem er den Raum für menschliches Eingreifen und gemeinschaftliches Handeln von der Bühne der Neuanfänge entfernt, entledigt er sich eines wertvollen Aspekts von Arendts eigener Intervention in der Debatte über den Status des Gesetzes und seiner Beziehung zum Politischen in der Moderne“ (195).
Eine Facette ganz anderer Art fügt die auch in der Schweiz durch ihre Professur an der Universität Zürich bekannte Germanistin Sigrid Weigel diesem Band hinzu. Unter dem Titel „Per-sonare, poetische Differenz und Selbstübersetzung. Der Sound von Hannah Arendts Denken und Schreiben“ (S. 63–90) gibt sie Hinweise zu einer noch nicht wirklich durchgearbeiteten Seite Arendt’scher Existenz: zu ihrer (erzwungenen) Zweisprachigkeit. Während diese in den Heidegger-Briefen offenbar kein Thema darstellt (wobei Arendts Briefe bis auf wenige eigene Durchschläge nicht überliefert sind), obwohl, wie oben gezeigt, die Sprache selbst ein zentrales Thema darstellte, ist es für Arendt ein existentielles Thema, auf das sie, so Weigel, in vielfacher Hinsicht reagiert; zunächst mit Selbstübersetzungen ihrer eigenen englisch geschriebenen Werke wie ihrem ersten Grosstext über Totalitarismus (1950/1955) und fortgesetzt in The Human Condition/Vita activa (1963/1965). Spätere Werke hat sie mit professionellen Übersetzerinnen wie Charlotte Beradt „über- bzw. umgearbeitet“ (85). Weigel sieht in dieser Zweisprachigkeit, die Arendt selbst in die Sphären Politik (englisch) auf der einen Seite und Philosophie und Dichtung (deutsch) auf der anderen teilt, das Durchscheinen dessen, was sich in ihrem Hinterkopf stets gleichzeitig abspielte, wie Arendt es in dem berühmten Gauss-Fernsehinterview von 1964 offenlegte. Weigel zitiert daraus die Passage: „Es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen Muttersprache und allen anderen Sprachen. […] Im Deutschen kenne ich einen ziemlich grossen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf – in the back of my mind […]“ (74 f.). Denn anders als bei einer fremden Arbeit lässt sich die bereits englisch vorhandene Version nicht einfach als ein „prä-existierendes Original“ des entstehenden deutschen Textes bezeichnen (84), sondern schreibt sich durch Über- und Umarbeiten (84) praktisch neu, ein beständiges „Rewriting“ (88). Und nicht nur das: Ihr, wie Arendt im Denktagebuch an mehreren Stellen bezeugt, steter Dialog des ‚Selbst mit dem Anderen des Selbst‘, ihr ‚Zwei-in-einem-Gespräch‘ (65), wird nochmals gedoppelt durch Zweisprachigkeit. Das hat natürlich Konsequenzen für Diskussionen bei Tagungen oder in schriftlichen Beiträgen, die sich dann je nach Sprache auch auf quasi andere Werke beziehen. Sie hielt die beiden Sprachen offenbar nicht in Äquidistanz zueinander, eher bildeten sie zwei Existenzweisen, die je nach Situation miteinander korrespondierten; auch hier lässt sich der Raum eines Dazwischen denken. Weigel nimmt Arendts Wort aus ihrer Sonnig-Preisrede im Frühjahr 1975 auf, das Lateinische Per-Sonare, ein Durch-Tönen, mit seinem Anklang an das Wort Person (66), an das also, was den Menschen ausmacht. Hier Arendts Spezifikum noch eingehender zu untersuchen, bleibt damit ein Desideratum, zu dem Weigel in früheren Veröffentlichungen bereits selbst einiges beigetragen hat, auf das aber nochmals nachdrücklich hinzuweisen, ein weiteres Verdienst ihres Beitrags in dieser insgesamt aufschlussreichen und somit empfehlenswerten Publikation ist.
Baer, Ulrich / Eshel, Amir (Hg.) Hannah Arendt zwischen den Disziplinen, Wallstein Verlag, Göttingen 2014, 272 S.