„Sei doch nicht derart hysterisch!“ Wie oft musste ich mir diesen Vorwurf inmitten einer familiären Diskussion oder kollegialen Auseinandersetzung anhören. Erst verdutzte mich dieser Vorwurf, später ärgerte ich mich über diese – durchaus politische – Strategie, mich in den Argumenten oder im Ausdruck zu bremsen. Schliesslich trieb mich die Neugier an, meinem Unbehagen nachzugehen: So stiess ich nicht nur auf eine gewöhnliche Zuschreibung gegenüber Frauen, „hysterisch“, sondern auf eine eigentliche Kulturgeschichte der Hysterie, der exemplarischen Frauenkrankheit im 19. Jahrhundert, die im 20. Jahrhundert von der Magersucht abgelöst wurde. Das Werk Nicht-Ich. Logik, Lüge, Libido (Frankfurt 1985) von Christina von Braun war für mich eine intellektuelle Entdeckung. Endlich wurden mir Worte, Einsichten, Theorien angeboten, so dass ich jene Zustände als eine immer schon beschriebene, durchaus auch markierte Frau in der Öffentlichkeit, erkennen und durchschauen konnte. Christina von Braun beschreibt eindrücklich, wie im 19. Jahrhundert in der berühmt-berüchtigten Salpêtrière die Frauen unter dem medizinisch-forschenden Blick von Jean-Martin Charcot die Symptome erst eigentlich erfanden, dass sie produzierten und inszenierten, was sie als Hysterikerinnen meinten, dem Arzt und seiner Entourage vorspielen und „zu sehen geben“ zu müssen. Christine von Braun erforscht, dass die individuellen Frauen hinter den Symptomen verschwanden, um als Patientinnen wiederum sichtbar zu werden. In diesen Momenten existierte die einzelne Frau mit eigener Biographie und Phantasien, mit eigenem Körper und eigener Sexualität nur noch im Status als Patientin mit verallgemeinerbaren Symptomen, erfassbar in einer zeitgenössischen Frauen-Krankheit, der Hysterie. So erschufen die Frauen eine Krankheit, die unter dem Blick des Forschers erst entstand und zur Frauenkrankheit stilisiert wurde. Der Blick des Mannes also lässt die individuelle Frau hinter dem Status der (namenlosen und symptomstarken) Hysterikerin verschwinden. Nun wird sie sein Material, das er benennen, ordnen, disziplinieren und einer Fachwelt präsentieren kann.
Die Hysterikerin machte es vor: Eine Frau wird nur dann sichtbar und interessant, wenn sie die männlichen Vorstellungen und Phantasien zu Frau-sein erfüllt; wenn sie verkörpert, was er phantasiert und wie er sie sehen will, nämlich als ein sprachloser, ausdrucksstarker Körper, der getrieben wird und den er disziplinieren, interpretieren und solcherart ihr enteignen und selber aneignen kann. Die Frau wird Nicht-Ich; das ist ihre vorgeschriebene, paradoxe Position in der Geschlechterhierarchie. Zugleich ist sie dort Ich, wo sie die Vorstellungen subversiv unterwandert und Frau-sein quasi kreativ überzeichnet und subjektiv erfüllt. Die Frau imitiert das Frau-Sein, und bleibt in dieser Simulation eigenständig. Auf komplexe Weise verweigert die Hysterikerin die Unterwerfung unter die männliche Definitionsmacht; gleichzeitig bleibt sie im Schwindel, in dieser körperlich materialisierten, gesellschaftlich bedingten Lüge gefangen.
Die Magersüchtige wiederholt es im 20. Jahrhundert ihrerseits, den veränderten soziokulturellen Bedingungen des Frau-Seins angepasst. Sie weigert sich, das Bild, das man von ihr als Frau öffentlich macht, zu erfüllen, indem sie sich zur Unsichtbarkeit hungert. „Denn die Symptome der Körperverweigerung“, schreibt Christina von Braun, „sind letztlich nur eine besonders intensive Form, den Körper ins Bewusstsein zu rufen – durch die Betonung seiner Abwesenheit.“ Wieder geht es um Körper und Sprache, um Bild und Wort, um Phantasien und Sexus. Die Magersüchtige demonstriert die den Frauen zugeschriebene Willenslosigkeit mit eisernem Willen, der sich gegen sie richtet, und die ihr angeheftete Irrationalität mit ungebrochener Logik. Sie wird Nicht-Ich in der Selbstdestruktion und bleibt Ich im Widerstand gegen die patriarchalen Zuschreibungen.
In diesen kulturgeschichtlich relevanten Krankheiten lässt sich der normative, gesellschaftliche Umgang mit den Geschlechterdifferenzen ebenso studieren wie die öffentlich zugeteilte Position der Frauen (und der Männer). Christina von Braun erforscht und benennt diesen die Frauen normierenden Diskurs: Es ist der drohende Ausschluss, unter dem männlichen Blick und aufgrund seiner Definitionsmacht in die Frauenkrankheit zu fallen oder gar gestossen und schliesslich weggesperrt zu werden, der die Frauen in die herrschende Gesellschaft gleichsam integriert. Der Diskurs, darauf verweist von Braun, ist jedoch nicht nur von den Herrschenden vorgezeichnet; auch die Hysterikerinnen gestalten ihn mit ihrer Körpersprache mit. Und noch etwas Drittes lässt sich in diesem Brennpunkt herauskristallisieren: nämlich das an die Geschlechterverhältnisse gebundene und aufgesplitterte Verständnis von Irrationalität und Vernunft, von der Sprache des Körpers und jener des Intellekts. Es ist der Mann, der die Frauenkrankheiten beschreibt und theoretisiert; es ist die Frau, die die männlichen Forschungserwartungen mit ihrem Körperausdruck bedient und erfüllt. Indem sie als Hysterikerin bzw. Magersüchtige die Symptome erfindet und im Körper ausdrückt, untermauert sie, dass sie Körper ist, und demonstriert zugleich ihre Autonomie, indem sie die Symptome vernünftig arrangiert.
Als Studentin der Philosophie hat mich Christina von Braun’s Interpretation des (femininen) Nicht-Ich fasziniert: Wie kann frau Subjekt werden, ohne das männlich konnotierte Konzept von Subjekt-Sein übernehmen zu müssen? Wie kann frau Freiheit und Selbstbestimmung für sich definieren, ohne sich ständig negativ von den ideengeschichtlichen Konzeptionen abgrenzen zu müssen? Wie kann ich als Frau mit einem eigenen Willen eigenwillig, mutwillig werden und es bleiben, ohne dass man mir diese Ausdrucksformen enteignet und als Interpretation einer typisch weiblichen Krankheit vorhält?
Im täglichen Arbeiten in meiner psychotherapeutischen Praxis wiederholt und aktualisiert sich individuell diese kulturelle Position des Nicht-Ich: Meine Patientinnen erzählen mir in einer Selbstverständlichkeit von Erlebnissen, impliziten Vorwürfen und expliziten Beschneidungen: Sei doch nicht derart hysterisch! Sei doch nicht so intensiv! Du bist eine Zumutung … Und ihre individuellen Versuche, aus dieser erniedrigenden Form herauszukommen – ob man nun diese Position als Opferposition, als masochistische, als weiblich-strategische Position bezeichnet – gelten wiederum als Beweis für ihre widerspenstige (oder gar krankhafte) Renitenz und ihr Unvermögen, genügend weiblich zu sein und das normierte Bild einer Frau zu erfüllen. Ist man als Frau intensiv, lebendig, aggressiv, zupackend, wortstark, ausdruckstark, klar im Wollen und Begehren, werden Frauen weiterhin mit besagten Strategien beschnitten, geformt, vernüüütiged, oder eben: ins Nicht-Ich gedrängt.
Erst in den letzten Jahren stellt sich mir die Frage, ob bzw. wie frau diese unausweichliche Position möglicherweise auch aufgeben könnte. Unsicherheit schwingt mit, ebenso die Einsicht in die Stabilität kultureller Strukturen. Könnte es sein, dass es einen Ausweg aus dem Paradox gibt? Ein Ausweg – im Wissen um die Unmöglichkeit, einen Diskurs quasi verlassen zu können? Wie kann frau sich aus den Zuschreibungen und den damit einhergehenden Entfremdungen befreien, ohne sogleich wieder in der Emanzipationslogik gefangen zu werden? Ein theoretisches Angebot fand ich bei den Differenzdenkerinnen aus Mailand. In ihrem neusten Werk Politik und Macht sind nicht dasselbe (Sulzbach/Taunus 2012) wollen sie eine Idee einführen und vermitteln: Es gelte, der Macht die Macht zu entziehen und so die Politik aus der Ohnmacht zu befreien. In der Theorie der Diotima-Philosophinnengruppe bedeutet es, von sich auszugehen, ohne sich dort finden zu lassen, wo frau erwartet wird. „Das Von-Sich-Selbst-Ausgehen ist tatsächlich ein Denken“, schreibt Luisa Muraro, „das nicht an die Logik der Identität gebunden ist und das daher dazu fähig ist, sich in der Zufälligkeit vorwärtszubewegen, zwischen dem Sein, das das ist, was es ist, und dem Sein, das niemals genau das ist, was es ist.“ Nun verstehen Luisa Muraro, Chiara Zamboni, Annarosa Buttarelli und ihre Mitdenkerinnen ihren Ansatz nicht etwa tiefenpsychologisch, sondern gerade politisch! Von sich ausgehen impliziert, den eigenen Alltag wahrzunehmen, die Erfahrungen von Notwendigkeiten ebenso wie das Begehren, das über das Notwendige hinauszielt, zu gewichten, genau hinzuschauen und zu recherchieren, was sich zeigt. Ausgangspunkt ihres anderen Politikverständnisses ist die Vermittlung: Wie können Frauen untereinander vermitteln, was sie unter gutem Zusammenleben verstehen, wie sie ihren Alltag gestalten, ihre Bedürfnisse erfüllen, wie sie ihr Begehren nach einer Politik einbringen können. Denn es ist gerade nicht so, dass sich die Frauen von der Politik abwenden, im Gegenteil: Frauen haben ein starkes Verlangen nach Politik, nicht aber nach gewohnten Wiederholungen gängiger Erlebnisse mit Macht. So wollen sie, wie es Luisa Muraro formuliert, die Politik aus der Ohnmacht befreien und der Macht die Macht entziehen, so dass soziale, gesellschaftliche Räume entstehen, wo gemeinsam diskutiert und vermittelt werden kann, wie man gut zusammenleben und wie man die Welt, in der man lebt, mitgestalten will. Ihre Idee ist es, die „symbolische Unabhängigkeit von der Macht zu lehren“, so dass Frauen sich in ihrem politischen Wünschen nicht beschneiden lassen.
Was mich in meinem beruflichen und sozialen Alltag fasziniert, ist diese Vorstellung der Diotima-Frauen, dass es anmassend und realitätsfremd wäre, zu sagen: Ich verändere die Welt. Vielmehr geht es darum, zu realisieren und realitätsnahe zu erfahren: Ich kann den eignen Zugang zu meiner Welt und zu meinen Beziehungen in dieser Welt verändern; und dazu brauche ich mein Begehren (oder meine Wünsche) ebenso wie meine Neugier (und meine Aggressionen). Ich bin es, die etwas in Gang setzen und beginnen kann, indem ich von mir ausgehe. Und ich verbinde mich mit anderen Frauen (und Männern) in diesem Verlangen nach Politik. So erkenne ich mich als Frau, als Subjekt, als Citoyenne nicht in der vorgegebenen oder gar zugewiesenen Position des Subjekts Frau, sondern ich finde und erfinde mich in Beziehungen mit anderen, bereichert von meinen eignen und kollektiven Erinnerungen, belebt von Wünschen, angetrieben von Begehren. „Ich finde also Wünsche“, schreibt Muraro, „die mich in Bewegung setzen, Erinnerungen, die mich beschäftigen, andere Frauen und Männer, die zu mir sprechen oder die sogar stellvertretend für mich sprechen, vielleicht auch, um mir zu widersprechen.“ Politik versteht sich hier als Verlangen nach Vermittlung (gerade auch zwischen den Generationen) und nach Auseinandersetzung, bis man gemeinsam nicht nur eine Lösung gefunden, sondern vor allem die gemeinsame Beschreibung der Schwierigkeiten bzw. der Konflikte gefunden hat, die die Lösung später aufklären soll.
Christina von Braun hat mich mit ihrem Nicht-Ich auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Körpersprache und Sprachkörper, zwischen Begehren und Beschneidung dieses Begehrens hingewiesen. Und mich in das dialektische, dynamische Denken eingeführt, so dass ich reif und neugierig wurde auf die Psychoanalyse und Sigmund Freuds dialektisches Denken, wie er es aus den Erzählungen seiner Patientinnen und Patienten hervorgebracht hatte. Und die Diotima-Denkerinnen holen mich aus der Intimität der psychotherapeutischen Praxis immer wieder von Neuem in die Öffentlichkeit heraus und in die eigene, politische Welt hinein.
Auf keine der beiden Perspektiven und Zugänge kann und will ich mehr verzichten. Es sind in meinen Augen unabdingbare Voraussetzungen zeitgemässer Theoriebildungen.
Christina von Braun: Nicht-Ich. Logik, Lüge, Libido (Frankfurt 1985)
Diotima: Politik und Macht sind nicht dasselbe (Sulzbach/Taunus 2012)
Traude Löbert
Sehr geehrte Frau Schmuckli
Habe gestern von Andrea Günter das neue Luisa Muraro Buch auf deutsch geschenkt bekommen und gesehen, dass sie die Übersetzung ermöglicht haben. Vielen Dank dafür!
Haben Sie in Luzern ein Netzwerk zu den Italienerinnen? Ich wohne bei Basel und würde mich sehr über eine Lesegruppe oder ähnliches freuen.
Mit herzlichen Grüssen
Traude Löbert