Einen nachhaltigen Einfluss auf meine geistige Entwicklung hatten die Schriften des französischen Publizisten Emmanuel Mounier (1905-1950) während meines zweijährigen Philosophie- und Theologiestudiums im Seminar der befreiungstheologisch geprägten Arbeiterpriester-Bewegung Frankreichs. Mounier war Gründer und Redaktor der Zeitschrift ESPRIT («Revue d’inspiration personnaliste en lutte contre le désordre établi»), übte aus personalistischer Sicht radikale, grundsätzliche Kritik am Kapitalismus, kämpfte für einen freiheitlich-demokratischen Sozialismus und unterhielt auch Kontakte zu führenden Marxisten in Paris. In dieser Atmosphäre bin ich als Bauernsohn, einstiger Jungfreisinniger und Mitarbeiter in der Börsenabteilung einer Grossbank ein überzeugter Sozialist geworden.
Der Personalismus Mouniers stellt die menschliche Person in ihrer gemeinschaftsorientierten, individuellen und spirituellen Komponente ins Zentrum der gesellschaftspolitischen Vision. Damit setzt er sich ab vom stark individualistisch geprägten Kapitalismus und Liberalismus, aber auch von Sozialismus und Kommunismus, sofern sie der Individualität des Menschen zuwenig Rechnung tragen. Darüber hinaus ist Mounier im Gegensatz zum Atheismus offen zur Transzendenz, zur spirituellen Existenz. Die bestehende Krise, sagte Mounier, sei gleichzeitig wirtschaftlicher und spiritueller Art, eine Krise der Strukturen und eine Krise des Menschen. Beides müsse bei einer Erneuerung einbezogen sein: «La Révolution morale sera économique ou ne sera pas. La Révolution économique sera ‹morale› ou ne sera rien.» Längerfristig habe der spirituell-geistige Aspekt Vorrang, er müsse für Politik und Wirtschaft wegleitend sein. Kurz nach seinem Tod wurde die gesellschaftspolitische Bedeutung Mouniers durch einen Mit-Engagierten wie folgt gewürdigt: «L’évolution de Mounier et d’Esprit est unique dans l’histoire française contemporaine. C’est en effet le seul exemple d’une tentative révolutionnaire non stalinienne qui n’ait sombré ni dans l’anticommunisme de combat, ni dans le réformisme parlementaire ou technocratique.» Von Bedeutung auch im schweizerischen Kontext ist der kritische Standpunkt Mouniers gegenüber der weitverbreiteten Ghetto-Mentalität von Christen, also der Absonderung in sogenannt christliche Parteien und Gewerkschaften.
Zu Mouniers wichtigen Publikationen gehören:
- Révolution personnaliste et communautaire (1935)
- De la propriété capitaliste à la propriété humaine (1936)
- Manifeste au service du personnalisme (1936)
- Liberté sous conditions (1946)
- Introduction aux existentialismes (1946)
- Qu’est-ce que le personnalisme (1947)
- Feu la chrétienté (1950)
Einen guten Einblick in sein Lebenswerk samt ausführlicher Bibliographie bietet die Dissertation des Wallisers Candide Moix: «La pensée d’Emmanuel Mounier». Mouniers Schriften hatten wesentlich dazu beigetragen, dass ich mich später entschloss, von der Theologie ins Ökonomiestudium umzusteigen, um mich näher mit dem Kapitalismus auseinanderzusetzen und nach Alternativen zu suchen. Dazu gehörte auch der Marxismus. So wählte ich an der Universität Bern als Dissertation das Thema «Die Eigentumslehre bei Thomas von Aquin und Karl Marx – eine Konfrontation», veröffentlicht im Imba-Verlag/Fribourg, 1973. Fazit: Die beiden Eigentumslehren sind in der wichtigen Sozialisierungsfrage der Produktionsmittel vereinbar, wenn der historische Faktor, die ganz andere historische und wirtschaftliche Ausgangslage, berücksichtigt wird. Die Dissertation endet mit der rhetorischen Frage: «Eine gemeinwirtschaftliche Ordnung, die ein freiheitliches Für- und Miteinander aller Menschen ermöglicht, stünde sie nicht dem neutestamentlichen Geist der Bruderschaft näher als eine noch so gebändigte kapitalistische Ordnung?»
In dieselbe Richtung, aber stark aktualisiert und entsprechend ausgeweitet, geht mein neues Buch «Christentum und Sozialismus – ein gesellschaftspolitischer Brückenschlag» (Verlag BoD [Books on Demand], Norderstedt 2013, ISBN 978-3-7322-0118-1, 140 Seiten, auch im Buchhandel erhältlich). Die Publikation zeigt die Vereinbarkeit von Christentum und Sozialismus in gesellschaftspolitischer Hinsicht auf. Sie enthält auch Stellungnahmen namhafter Autoren, die sich kritisch mit dem Kapitalismus und möglichen Alternativen auseinandersetzen. Das reicht von Sozialethikern und Politikwissenschaftern bis zu Albert Einstein mit seinem Beitrag «Warum ich Sozialist bin». Die Frage «letzter Wahrheiten» – der Weltanschauung – bleibt dabei dem einzelnen Menschen überlassen. Auf dieser Grundlage können sich Christen/Christinnen und Sozialisten/Sozialistinnen mit unterschiedlicher Weltanschauung politisch die Hand reichen im gegenseitigen Respekt und im solidarischen Kampf.
Um auf Mouniers Gesellschaftsvision zurückzukommen: Diese bleibt aktuell, weil Mouniers Personalismus die Einseitigkeiten des Individualismus, des Kollektivismus und des Spiritualismus (Flucht ins Jenseitige) überwindet und in einen ganzheitlichen Humanismus, «humanisme intégral» (ein Begriff, der auch dem bedeutenden Philosophen Jacques Maritain teuer war), einmündet.
Candide Moix: La pensée d’Emmanuel Mounier, Collection «Esprit», Editions du Seuil, 1960.
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