Die Verbindung zu Max Horkheimer verdanke ich Theodor W. Adorno, der nach einem Vortrag im Radiostudio Bern auf seinen Freund und Kollegen aufmerksam machte mit dem Hinweis, dieser lasse sich vielleicht für gelegentliche Mitarbeit am Radio gewinnen. Ich folgte der Anregung und reiste in den Jahren 1967 bis 1972 etwa zweimal jährlich für Aufnahmen nach Montagnola. Hier traf ich meistens am späten Vormittag den Herrn Professor zu einem kurzen Gedankenaustausch. Die Aufzeichnung erfolgte dann am Abend im Studio Lugano oder in seinem Haus. Horkheimer wirkte auf mich alt und gebrechlich. Er hatte immer ein prall mit Medikamenten gefülltes Köfferchen bei sich, aus dem er ab und zu eine Tablette naschte. Im Gespräch entwickelte er seine Gedanken mit grosser Konzentration, druckreif.
Mich interessierte seine Lebensgeschichte, über die damals erst wenig bekannt war; auch die Geschichte des legendären Frankfurter Instituts für Sozialforschung, dessen Direktor Horkheimer von 1930 bis 1959 war. Im Jahre 1968 wurden in zwei Bänden mit der Überschrift «Kritische Theorie» Essays aus der Zeit 1932 bis 1941 publiziert. Einige Texte waren schon vor der Veröffentlichung in Umlauf gesetzt worden. Die rebellischen Studenten an deutschen Universitäten nahmen Bezug auf diese Schriften, um ihre revolutionären Absichten theoretisch zu begründen. In einer feierlich formulierten Einleitung wurde vor einer solchen Vereinnahmung gewarnt: «[…] Unbedachte und dogmatische Anwendung Kritischer Theorie auf die Praxis in der veränderten historischen Realität vermöchte den Prozess, den sie zu denunzieren hätte, nur zu beschleunigen […].»
Die 1960er-Jahre sind in meiner Erinnerung eine Zeit des Aufbruchs und des Aufruhrs. Die Kritische Theorie, die mich geradezu elektrisierte, drang bis zu den Wurzeln des Denkens und Handelns vor. In einem unserer Gespräche gab Horkheimer in Kurzform folgende Definition: «Die traditionelle Theorie ist die sinnvolle, richtige und brauchbare Zusammenfassung der Erfahrungen, die auf einem bestimmten Gebiet gemacht worden sind, sodass sie jederzeit in vernünftiger Weise aus den obersten Begriffen deduziert werden können. Die Kritische Theorie, die zu jeder traditionellen Theorie hinzuzutreten hat, ist erstens die Besinnung auf die Gründe, warum gerade diese für ein bestimmtes Gebiet wichtigen Erfahrungen gemacht und geordnet worden sind, und zweitens die Kritik daran, dass sich die Gesellschaft auf diese Erfahrungen wesentlich beschränkt und sie fördert, anstatt eine den Bedürfnissen der Menschen besser entsprechende Weise der Erkenntnis herbeizuführen. Damit werden Wissenschaft und Gesellschaft zugleich kritisiert.»
Auch in unseren Gesprächen warnte Horkheimer eindringlich vor revolutionären Schlussfolgerungen aus der Kritischen Theorie: «Ja, die Kritische Theorie ist in ihrer krassen, gegen das herrschende System gerichteten Form während der Zeit des Nationalsozialismus entstanden. Das war eine Zeit, in der die einzige Hoffnung die Revolution war. Heute besteht die umgekehrte Gefahr, dass revolutionäre Bestrebungen in einer viel schrecklicheren Weise die Entwicklung unterbrechen, die zur verwalteten Welt hinführt. Dass diese Revolution einen neuen totalitären, terroristischen Staat beschleunigen würde, das ist meine Befürchtung.»
Unüberhörbar war in allen Äusserungen die pessimistische Grundstimmung. Unvergesslich ist für mich die folgende Passage: «Wir waren der Überzeugung, dass die eigentliche wahre Demokratie im Gange der Geschichte aufs Höchste gefährdet war, und dass Hitler, das habe ich auch später wiederholt gesagt und geschrieben, dass Hitler kein Zufall war, sondern das Symbol dessen, was einmal kommen müsste, nämlich eine völlig verwaltete, rationalisierte, von einer Stelle aus geleitete und gelenkte Gesellschaft. Denn die Demokratie war in den gegebenen Verhältnissen nicht mehr imstande, all die notwendigen raschen Entscheide zu treffen und sie auch noch so zu treffen, dass sie von den Menschen verstanden wurden. Deshalb sahen wir schon damals, dass der totalitäre Staat das konsequente Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung sei. Ich möchte sagen, das befürchte ich auch heute noch.»
Hitler als Vorläufer einer notwendigen Entwicklung, die zur verwalteten Welt führt: Drastischer lässt sich die Situation nicht beschreiben. Darin spiegelt sich die ganze Lebenserfahrung in einer aufgewühlten Zeit. 1895 geboren, hat Horkheimer alle Katastrophen des letzten Jahrhunderts aus der Nähe und bewusst erlebt: die Schrecken des Ersten Weltkriegs, die Welt-Wirtschaftskrise und Inflation, den Nationalsozialismus, die Judenverfolgung und Judenvernichtung, die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs, den Beginn des Kalten Kriegs in Amerika. Auch die späte Anerkennung, die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland erlebte – Horkheimer musste 1933 vor den Nazis fliehen, zuerst in die Schweiz, dann nach Amerika, wo er für sein Institut eine sichere Stätte an der Columbia University fand. Später zog er weiter nach Kalifornien, wo er zusammen mit Adorno das Werk «Dialektik der Aufklärung» schrieb, 1949 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er u. a. Rektor der Universität Frankfurt wurde – also auch die späte Anerkennung und der späte Ruhm konnten seine Stimmung nicht aufhellen. Der ganze Zivilisationsprozess war nach seiner Auffassung misslungen. Es gab keine Hoffnung auf Verbesserung der Verhältnisse. Die späten Porträts zeigen ein aufmerksames und tief trauriges Gesicht. In der Trauer – so sagte er bei einer Begegnung – versuche er die positiven Momente der Geschichte zu bewahren und die Sehnsucht nach dem «ganz Anderen» wach zu halten.
Horkheimer starb am 7. Juli 1973 in Nürnberg. Sein Werk ist, so weit ich sehe, in den Hintergrund, vielleicht in Vergessenheit geraten. Ich hoffe auf eine (Wieder)-Entdeckung.
Max Horkheimer: Kritische Theorie. Aufsätze, S. Fischer 1968.
Berger Sophia
Weil ich Herrn Hersche hie und da in der Stadt treffe, kommen mir alle seine informativen Artikel und Radiosendungen in den Sinn. Den obigen (zwar schon eine Weile her – aber immer noch topaktuell) über Max Horkheimer habe ich noch nicht und speichere ihn jetzt bei mir. Vielen Dank!