Die äusserst bewegten 70er-Jahre neigten sich dem Ende zu und machten Platz für eine neue bewegte Zeit. Die 80er-Jahre.
Die 70er waren für mich: Weg aus dem miefigen St. Gallen. Lehre in Basel. Politik und Kultur in einer grossen Breite. Kämpferische Lehrlingsgruppe. Einstehen für die Rechte der Arbeitenden. Neue Musik, neues Theater. Gegen AKWs. Für ein selbstbestimmtes Leben. Genug von öder Parteipolitik. Neue Formen autonomer, rebellischer und kreativer Politik. Die neue Frauenbewegung. Neue Lebensformen werden radikal umgesetzt. Das Kollektiv lebt.
Im Hintergrund die sogenannte Dritte Welt. Befreiungskriege. Dekolonisation. Dadurch Auseinandersetzung mit anderen, bis jetzt uns eher fremden Kulturen.
Auch mitten in Europa militante politische Kämpfe. Baskenland. Nordirland. Lotta Continua. Bewegung 2. Juni und einiges mehr.
Politische Gefangene auch hier in Europa.
Militante Hausbesetzungen und Kampf für Freiräume. Damit verbunden Repression.
Gelesen habe ich immer viel und gerne. Politische Literatur. Europäische und amerikanische Romane und Lyrik. Und dann das: Eher durch Zufall lernte ich einen Jamaikaner kennen, welcher in der Schweiz durch Night-Clubs zog und sein Geld als DJ verdiente. Soul, Funk, R&B und ein wenig süsser Reggae.
So ging es im sehr bewegten (auch persönlich) Jahr 1980 zusammen mit guten FreundInnen für längere Zeit nach Jamaica. Eine neue Erfahrung. Nicht nur wegen der aufkommenden Reggae-Musik; der – auch politischen – Rasta-Ideologie. Sondern auch mit einem anderen, neuen Blick auf ein früher kolonisiertes Land. Dort waren wir durch unsere Bekanntschaften sofort mitten drin. In einem Dorf in der Nähe von Kingston. In einer Familie. Bei einer starken Frau, die alles zusammen hielt und deren bereits betagter Mann jahrelang in englischen Kohlebergwerken gearbeitet hatte. Tiefe jamaikanische Kultur verbunden mit Emigration und Rassismus.
Natürlich nahm ich nach Jamaica Bücher mit. Darunter die Bücher von einem Autor, der später als erster Schwarz-Afrikaner den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte. Wole Soyinka aus Nigeria, der im Juli 2014 seinen 80. Geburtstag feierte. «Zeit der Gesetzlosigkeit»; «Die Ausleger (The Interpreters)»; und «Der Mann ist tot. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis».
Die Bücher schlugen ein. Auch mit dem Hintergrund, vor dem ich sie las. Jamaica war am Rande eines Bürgerkrieges. Wahlen waren angesagt. Links oder rechts. Kuba oder USA.
Dazu Machtwechsel im Iran. Viel Bewegung auch in Europa und überall. In Jamaica eine politische Rastabewegung. Dub-PoetInnen. Die Macht der Worte.
Wole Soyinka, dieser grosse Humanist, als Angehöriger der Yoruba geboren, brachte in seinen Romanen all die Widersprüche ans Licht. Gier nach Macht und Besitz; brutale Gewalt; der Schrecken von Folter und Gefängnis; die Suche nach neuen Regierungsformen und einem Ende des Wahnsinns.
Soyinkas Romane erzählen in einer wunderbaren Sprache, mit vielen wundersamen und schönen Abschnitten, den Irrsinn im Menschen. Die Zerstörung guter Initiativen und Ideen durch Neid und Willkür. Die Verachtung und Verabscheuung menschlicher Wärme und Würde.
Wole Soyinka, übrigens auch einer der ganz grossen Theaterautoren, bringt in seinen Romanen immer seine persönlichen Erfahrungen ein. Er selber war für sein politisches Engagement mehrmals im Gefängnis und im Exil. Und er ist der Ansicht, dass die Spiritualität Afrikas toleranter sei als Christentum und Islam.
In Soyinkas Romane fliessen das Ende des Kolonialismus. Der schreckliche Biafra-Krieg. Das neue Nigeria zerrissen zwischen verschiedenen Religionen. Nebst Christentum und Islam auch uralte afrikanische Kulte. Die Kultur der Yoruba. Kapitalismus, Korruption, Erdöl, internationale Konzerne, Kalter Krieg, Apartheid in Südafrika.
In den Romanen von Wole Soyinka sah ich auch oft eigene Erfahrungen, welche ich in den 70er-Jahren machte. «Die Ausleger» beschreibt beispielsweise treffend die Sinnlosigkeit, wenn jede Gruppe und jedes Grüppchen meint, es habe die Wahrheit gefressen. Besserwisserei, Machtgier, Überheblichkeit. Von der guten Idee, der grossen Utopie rein in den Antihumanismus, das Verderben, die Niedertracht mit ihren Blutbädern.
Soyinkas Romane waren für mich ein grosser Anstoss für meine spätere Arbeit in der Anti-Apartheid-Bewegung; in der Auseinandersetzung mit der Dritten Welt, dem Kolonialismus, Rassismus und für mein Engagement für afrikanische und karibische Kultur.
Zum Schluss noch eine typische Episode: Als der damals schon wohlbekannte Soyinka den Nobelpreis für Literatur erhielt, ging ein Raunen durch das westliche, eingebildete Feuilleton. Irritiert rief ein Kulturredaktor in unserer Buchhandlung an, ob wir etwas von dem Soyinka hätten. Keine Buchhandlung hätte was. Wir aber hatten. Bis heute. Leider sind viele Titel vergriffen.
Schnöde wurde die Programmgruppe «AfriKaribik» auch beim damaligen Stadt-Theater abgewiesen, als wir ein Soyinka-Stück offerierten. Gespielt von einem bekannten Theater aus Paris. Billige, an Rassismus reichende Argumente reichten zur Ablehnung. Das war vor dem Nobelpreis. Nachher klang alles anders …
Wole Soyinka:
- Die Ausleger
- Zeit der Gesetzlosigkeit
- Der Mann ist tot. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis
- Brich auf in früher Dämmerung (Erinnerungen)