Als eifrigem Spiegel-Leser war mir der öffentliche Auftritt eines bis dahin noch unbekannten marxistischen Kritikers des «real-existierenden Sozialismus» in der DDR im August 1977 selbstverständlich nicht entgangen. Gewiss, da gab es auch andere, doch dieser versprach einen anderen Ton, einen radikalen Zugriff auf das Thema: Der Philosoph Rudolf Bahro beschränkte sich nicht darauf, bestimmte «Deformationen» des Systems zu beschreiben und zu denunzieren. Er wollte die gesamte Entwicklung des Staatssozialismus in Frage stellen.
Dies interessierte mich aus politischen wie aus biografischen Gründen. Aufgewachsen in der Bundesrepublik und gross geworden mit der Achtundsechziger-Bewegung, suchte ich nach ideologischer Orientierung: Der «Sozialismus», den ich bei gelegentlichen Verwandtenbesuchen in der DDR kennenlernte, kam mir kleinbürgerlich-eng und irgendwie zurückgeblieben vor. Mit dem Einmarsch der Sowjettruppen in die Tschechoslowakei im August 1968 hatte diese «Alternative» zum Kapitalismus jegliche Anziehungskraft auf mich verloren.
Mein Blick schweifte in die Ferne. Die Kulturrevolution in China faszinierte mich, auch wenn ich wenig von den revolutionären Wirren dort verstand. Ich schloss mich während des Studiums in Tübingen «marxistisch-leninistischen» Zirkeln an, die Anfang der Siebzigerjahre massenhaft spriessten. «Dem Volke dienen» war die Parole, die mich begeisterte. Während knapp eines Jahrzehnts bewegte ich mich im Umfeld der maoistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) Michigan region phone , bis diese sich 1980 auflöste.
Doch ich greife jetzt vor. Bahros Buch Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus kam genau zum richtigen Zeitpunkt, weil es half, die Augen zu öffnen: Die «Kulturrevolution», die Bahro intendierte, musste noch radikaler, grundlegender sein, als dies in China geschehen war. Dort ging es um eine Entwicklungsdiktatur. In der bereits industrialisierten Welt war anderes angesagt: der Bruch mit einer Wirtschaftsdynamik, die das Naturgleichgewicht nachhaltig stört.
Mit Bahro weitete sich der marxistische Blick für die ökologische Frage. Das stellte ein Novum dar. Kritik an der Zerstörung der natürlichen Ressourcen im Zuge der industriellen Entwicklung war zwar bereits bei Karl Marx angeklungen, doch in der sozialistischen Bewegung fand sie kaum Widerhall. Das, was später «Industrialismus» hiess, wurde von Sozialdemokraten wie Kommunisten über lange Zeit hinweg beinahe ungebrochen als Ausdruck des Fortschritts begrüsst.
Einer der wenigen, die nicht in solchen Fortschrittsjubel einstimmen mochten, war Walter Benjamin. In seinen nachgelassenen geschichtsphilosophischen Thesen finden sich luzide Bemerkungen zu einem vulgärmaterialistischen Begriff von Naturbeherrschung, der die Rückwirkungen der Ausbeutung der Natur auf die Gesellschaft vollkommen ausblendet. Ernst Bloch bemühte sich in seinem Werk um das Verständnis eines möglichen «Subjekts der Natur» und warf im Prinzip Hoffnung die Frage nach einer «Technik ohne Vergewaltigung» auf. Der Funke zur ökologischen Bewegung, die sich in den 1960er- und 1970er-Jahren formierte, sprang allerdings nicht über.
Anders bei Bahro: Mit dem in der Alternative entwickelten theoretischen Rüstzeug versehen, konnte er nach der Übersiedelung direkt in den grünen Parteibildungsprozess eingreifen und seine Botschaft wirksam verbreiten: Rot und Grün sollten zusammengehen, denn beide verbinde die wahrgenommene Gefahr der ökologischen Krise, erklärte Bahro auf dem Karlsruher Gründungskongress der GRÜNEN im Januar 1980. Damit artikulierte er eine Meinung, die in der Aufbauphase zum Konsens der Partei werden sollte.
Die meisten ML-Zirkel lösten sich in dieser Zeit auf und zahlreiche ihrer früheren Mitglieder und SympathisantInnen gingen zu den GRÜNEN. Zu ihnen gehörte auch ich, verliess sie aber vor Bahro, der den Kampf um die Bestimmung der Partei spätestens Ende 1984 verloren hatte. Der Philosoph zog sich in ein alternatives Tagungszentrum in der Eifel zurück und führte Kurse durch, in denen es zum Beispiel darum ging, dass Gorbatschows Perestroika durch eine «Ökostroika» zu ergänzen sei. Dort lernte ich Rudolf Bahro auch näher kennen.
Nach dem Fall der Mauer ging er in den Osten zurück. Noch einmal wollte Bahro politische Führerschaft erringen, anlässlich des ausserordentlichen Parteitags der SED, die sich dann PDS nannte. Die Genossen und Genossinnen wollten jedoch nichts von einem öko-sozialen Programm für eine reformierte DDR wissen. Da zeigte die einstige Führung der Arbeiterklasse Wirklichkeitssinn: Für Bahros grüne Kommunen-Republik gab es in keinem Moment auch nur den Hauch einer Chance.
Bahro liess sich nicht verdriessen. Er kehrte an die Humboldt-Universität zu Berlin zurück, den Ort seiner philosophischen Ausbildung, und lehrte Sozialökologie – ein Fach, das es bislang kaum so gegeben hat und das auch heute bloss eine Randexistenz führt. Er unterstützte zugleich Versuche von alternativen Lebensformen in der ehemaligen DDR. Im Dezember 1997 starb Rudolf Bahro an einer Krebskrankheit.
Ist Bahros Denken heute noch von irgendeiner Bedeutung? Seit seinem Tod sind die Symptome der Systemkrise – ökonomisch, ökologisch und kulturell – sehr viel deutlicher als zuvor hervorgetreten. Es fehlt auch nicht an Protesten gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung der Lebensgrundlagen. Doch die Perspektiven dieses Kampfes bleiben undeutlich und jene Kräfte, welche die Unabänderlichkeit der Verhältnisse predigen, herrschen immer noch vor.
Bahro schärfte mit seinen Grund-Fragen «Warum zerstört der Mensch sich selbst und die Erde? Welche politische Wende ist nötig?» das Bewusstsein für die zutiefst destruktiven Kräfte, die im Industrialismus stecken. Auch wer mit Bahros Antworten nicht einverstanden ist, sollte seinen Denkansatz nicht allzu schnell verwerfen.
Rudolf Bahro: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, 1977.