Peter Brückner, heute ziemlich in Vergessenheit geraten, war ab den späten 1960er Jahren bis zu seinem frühen Tod 1982 ein viel gelesener und wohl einer der spannendsten Analytiker der politischen und psychosozialen Situation der BRD. Vor allem aber war er ein Theoretiker der Protestbewegungen. Von der 1968er-Studierendenbewegung über den aus ihrem Zerfall hervorgegangenen bewaffneten Widerstand und die verschiedenen sogenannten «neuen sozialen Bewegungen» bis hin zur Kommunenbewegung: Mit all diesen Erscheinungen beschäftigte sich Brückner eingehend, er wollte sie aus ihrem Kontext heraus verstehen, ihr emanzipatorisches Potenzial ausloten und aus einer grundsätzlich solidarischen Haltung heraus auch kritisch beleuchten – häufig im expliziten Dialog mit den Gruppen.
Mit seinen Analysen führte der studierte Psychologe und ab den 60ern auch gelernte Psychoanalytiker die lange Tradition der psychoanalytischen Sozialpsychologie fort, die bei linken Freud-Schülern wie Erich Fromm, Wilhelm Reich oder Otto Fenichel ihren Anfang nahm und vor allem die Kritische Theorie von Adorno und Marcuse, später auch, als prominentestem Vertreter der Nachkriegsjahre, Alexander Mitscherlich geprägt hatte (vgl. zu einem Überblick über diese Tradition Brunner et al. 2012). Brückners Politische Psychologie hob sich aber von dieser Tradition gerade durch seinen Praxisimpuls auch ab: «Zur Methode ihrer Erkenntnis gehört politische und psychologische Aktivität; sie erkennt Tatbestände, indem sie versucht, die Tatbestände zu verändern» (Brückner 1968, S. 95; Hervorh. im Orig.), schrieb er. Der psychoanalytisch informierte Blick richtete sich bei ihm auf die Widerständigen, die im – wie immer auch verstümmelten – Versuch der Befreiung gesellschaftliche Herrschaft entblössten wie auch Möglichkeitsräume öffneten. Gegen Adornos Satz, es gäbe kein richtiges Leben im Falschen, warf er ein, es gäbe doch ein richtigeres, eine «minimale Differenz», die es zu verteidigen gälte (Brückner 1970, ebd., S. 60) – auch wenn er zugleich betonte: «Das Richtige ist schwer zu haben, schwer zu finden» (ebd., S. 71).
Sein Versuch einer «Psychologie im Handgemenge» ist wohl in keinem Text so schön nachzuvollziehen wie in seinem 1968 erschienenen Text «Die Transformation des demokratischen Bewusstseins» (Brückner 1968). Dies ist Brückners erste eingehende Analyse der Studierendenproteste, konkret: eine politisch-psychologische Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 2. Juni 1967 in Berlin, dem Tag, an dem bei der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Dieser Todesschuss war der Ausdruck des brodelnden bundesrepublikanischen Klimas, in dem die herrschaftsstabilisierende Funktion der Staatsmacht, die postnazistische Mentalität der BürgerInnen und die gegen beides rebellierenden Studierenden aufeinander prallten und eine explosive Dynamik auslösten, die sich in den nächsten Jahren noch radikalisieren sollte.
Brückners Text erschien zusammen mit einem Aufsatz des Politikwissenschaftlers Johannes Agnoli. Während dieser die integrative und ideologische Funktion des demokratisch-parlamentarischen Pluralismus als Instanz der sozialen Friedenssicherung beleuchtete, die systematisch die Artikulation gesellschaftlicher Widersprüche verhindert, analysierte Brückner die durch die Transformation der Verhältnisse veränderten Subjekte, beleuchtete einerseits die psychische Disposition der BürgerInnen wie auch der MachthaberInnen und andererseits die politischen und psychischen Motive für das Aufbegehren der ausserparlamentarischen Opposition.
Das emanzipatorische Potential der studentischen Opposition sah Brückner in der praktischen Offenlegung und Veräusserlichung verinnerlichter gesellschaftlicher Konfliktlagen und der damit möglich gemachten Kritik an gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Gerade die immer wieder als Diffamierung vorgebrachte privilegierte Lage der Studierenden, die eine gewisse Distanz zu den unmittelbaren Verwertungs- und Selbstverwertungszwängen erlaube, sei die Bedingung für ihren Aufstand: Der ‹Schonraum› Universität und die darin gewonnenen sprachlichen und theoretischen Möglichkeiten der Wahrnehmung und Artikulation innerer Konflikte ermögliche es ihnen, diese als Effekt gesellschaftlicher Herrschaft zu thematisieren. Ihre Forderungen nach einem Leben jenseits von Anpassungs- und Selbstverwertungszwängen und ihr Versuch, andere Formen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens auszutesten und zu realisieren, werde aber auf der anderen Seite von der Mehrheit der BürgerInnen als Angriff wahrgenommen: Deren Formen der Anpassung und die damit einhergehende grosse Anstrengung der Selbstdisziplin werde durch die Studierenden in Frage gestellt, die Aktivierung eigener niedergehaltener Sehnsüchte nach einem nicht durch Nützlichkeitskriterien organisierten und gesellschaftlich normierten Leben müsse abgewehrt werden, löse sie doch massive innere und soziale Ängste, ja Panik, aus.
Nur durch die Projektion dieser Wünsche auf die Studierenden und ihre aggressive Verfolgung kann die erschütternde Erkenntnis der eigenen inneren Konflikte vermieden werden. In der Aggression zeige sich damit ein Neid auf diejenigen, die sich zumindest stückweise gesellschaftlichen Zwängen zu entziehen vermögen. Schutz werde in der noch stärkeren Anbindung an die gesellschaftliche Macht gesucht und die eigene Wut auf die Verhältnisse und ihre RepräsentantInnen gegen die als Ersatzobjekte fungierenden Studierenden gelenkt. Die Aufbegehrenden erleben in diesem Prozess, was denen geschieht, die sich der Anpassung entziehen: «aus der Scheinruhe des bürgerlichen Miteinanders bricht nackte Gewalt» (ebd., S. 170). Begleitet werde dieser Hass auf die Nichtangepassten von einer ständigen Produktion von Feindbildern durch die Presse und den RepräsentantInnen gesellschaftlicher Macht: Wer nicht mitmacht, wird zum Sündenbock gemacht, moralisch diffamiert, ausgegrenzt, kriminalisiert und mit einem Berührungsverbot belegt, d.h. sozial unmöglich gemacht. Damit werden nicht nur die schon bestehenden Vorurteile zementiert, sondern auch eine Realangst produziert, die auch den angepassteren BürgerInnen immer wieder klar macht, dass sie ja nicht auf die Idee kommen sollen, sich zu solidarisieren.
Keinesfalls idealisierte Brückner aber die Studierenden und ihre Bedingungen. Die Abschottung von der Produktionssphäre brachte auch einen Mangel an Realitätssinn und eine geringe Frustrationstoleranz mit sich; und auch das in den Selbstbefreiungsakten zum Vorschein Gebrachte waren keineswegs nur ‹humane› Regungen, sondern war vom vorherrschenden falschen Bewusstsein gezeichnet. In seiner subtilen Analyse der Kommunenbewegung, die er auch wegen ihrer Theorielosigkeit und letztendlichen Entpolitisierung kritisierte, aber deren anarchistischen Impuls er auch gegen die massiven Anfeindungen der Linken in Schutz nahm, zeigte er, dass sogar noch im kritischen Bewusstsein selbst ein repressiver Gehalt steckt: Die Disziplin und Anstrengung, die der Emanzipationsprozess erfordere, seien auch nur notwendig aufgrund der gesellschaftlichen Verdinglichung, gegen die die Emanzipation ankämpfe, und verlören in einer freien Gesellschaft wohl tatsächlich ihre Dringlichkeit.
Brückner wurde 1969 zum Professor und Leiter des psychologischen Instituts an der Universität Hannover berufen, wurde aber zwei Mal für längere Zeit vom Dienst suspendiert, erstmals nachdem ihm 1972 vorgeworfen worden war, Ulrike Meinhof bei sich übernachten gelassen zu haben, und ein weiteres Mal im Rahmen der berühmt gewordenen sogenannten «Mescalero-Affäre», als er einen beschlagnahmten Text eines Studenten der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht hatte, der – bevor er sich von der Gewalt der RAF distanzierte – schrieb, dass er auf die Ermordung von Staatsanwalt Buback durch die RAF 1977 mit «klammheimlicher Freude» reagiert hätte (vgl. Brückner 1977). Von beiden Gerichtsprozessen wurde Brückner schliesslich nach Jahren freigesprochen. 1982 starb er jung, im Alter von 60 Jahren, an einem Herzversagen.
Obwohl in Hannover die Sozialpsychologie noch bis 2009 – bevor sie gegen massive Proteste von Studierenden und Lehrenden geschlossen wurde – ein eigenständiges Fach war, in dem die psychoanalytische Sozialpsychologie einen grossen Stellenwert hatte, waren Brückners Schriften im Curriculum kaum präsent. Aber immer in Phasen von Studierendenprotesten wurde die wohl aus Angst verscharrte Leiche Brückner von den Studierenden wieder aus dem Keller geholt und seine Schriften diskutiert. Einen ungemein politisierenden Effekt hatten diese bei uns, weil in ihnen die komplexen eigenen Gefühlslagen, die universitäre Situation und die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse auf einmalige Weise zusammengedacht werden konnten.
Brückner, Peter (1968): Die Transformation des demokratischen Bewusstseins. In: J. Agnoli & Ders.: Die Transformation der Demokratie. Frankfurt a.M. (EVA), S. 89-194.
Brückner, Peter (1970): Provokation als organisierte Selbstfreigabe. In: Ders. (1983): Selbstbefreiung. Provokation und soziale Bewegung. Berlin (Wagenbach), S. 11-78.
Brückner, Peter (1977): Die Mescalero-Affäre. Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur. Hannover (Internationalismus).
Bruder-Bezzel, Almuth & Bruder, Klaus-Jürgen (1995): Peter Brückner: vorgestellt von Almuth Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder. Journal für Psychologie 3 (2), S. 54-65.
Brunner, Markus; Burgermeister, Nicole; Lohl, Jan; Schwietring, Marc & Winter, Sebastian (Hg.) (2012): Schwerpunktheft zur Geschichte der psychoanalytischen Sozialpsychologie. Freie Assoziation 1, Heft 3&4/2012. Giessen (Psychosozial).
Jünke, Christoph (2013): Peter Brückners Versuch, uns und anderen die Neue Linke zu erklären. In: K.-J. Bruder; C. Bialluch & B. Lemke (Hg.): Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute. Zur Aktualität Peter Brückners. Giessen (Psychosozial), S. 403-420.
Weber, Klaus (2004): Vorwort. In: P. Brückner: Sozialpsychologie des Kapitalismus. Giessen/Hamburg (Psychosozial/Argument), S. 5-20.
Michael Schwegler
Immer frage ich bei Autoren von Texten um Zustimmung ihrer Texte auf endederrevolutionen.de an. Ihr Text, den ich nur in einem, aber wesentlichen Punkt, kritisiere, wurde auf http://endederrevolutionen.de/docs/montesquieu.html verlinkt. Ihre Wortwahl, “nachdem ihm 1972 vorgeworfen worden war, Ulrike Meinhof bei sich übernachten gelassen zu haben” kritisiere ich. Er hat sie übernachten lassen. Peter Brückner war Mensch und fand in seinem Leben am Ende zurück: De libero arbitrio, dann starb er. Er wird mit dieser Rückkehr unvergessen bleiben.