Als Sohn italienischer Emigranten bin ich 1965 in Bern geboren. Seit meinem 16. Lebensjahr bin ich aktiver Gewerkschafter, 1987 begann ich als hauptamtlicher Gerwerkschaftssekretär meine Laufbahn. Diese führte mich durch viele Betriebe, Streiks, Verhandlungen und Diskussionen. Immer wieder stehe ich vor Kolleginnen und Kollegen, die aktiv für eine gerechtere, lebenswertere Gesellschaft kämpfen. Unzählige Debatten über die Zukunft der Arbeiterbewegung prägen und prägten meinen Weg. 1990 wurde ich durch einen älteren Gewerkschafter, bei einem Gespräch über die Zukunft der Arbeiterbewegung, auf das Buch Die Herausforderung der Gewerkschaften von Kollege Oskar Negt aufmerksam gemacht.
Auch nach Jahren ist dieses Buch für mich immer aktuell geblieben. Es half mir immer wieder als Gewerkschafter und heute auch als Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz die richtigen Fragen zu stellen und nach den richtigen Antworten zu suchen. Und Antworten braucht die Linke heute mehr denn je! Einige Überlegungen dazu:
Entscheidend aus Sicht der Arbeit und damit der Gewerkschaft ist der Bruch des impliziten Sozialvertrages durch die «Arbeitgeber» seit den 90er-Jahren. Das äusserte sich zuerst in sozialer Stagnation und seit einigen Jahren nun in sozialer Regression.
Der Kapitalismus hat seine inneren Regeln verändert. Vor Jahren wurde das Wort Kapitalismus kaum benutzt. Inzwischen tun dies sogar bürgerliche Bundesräte (Minister) in der Schweiz – vernünftigerweise. Denn der Begriff beschreibt die Sache gut. In diesem Wirtschaftssystem befiehlt das Kapital. Technologie, handwerkliches Können, Rohstoffe, politischer Rahmen, Arbeiterschaft, natürliche Grenzen etc. sind im Kapitalismus nur Bedingungen. Und Wohlstand, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit sind nur mögliche – und, in der Kombination, unwahrscheinliche – Effekte. Das ist keine neue Erkenntnis. Neu ist die Zuspitzung: Es scheint so, als sei die Eigenkapitalverzinsung, der Profit des Kapitals, zum einzigen Kriterium geworden, das unser Leben und Arbeiten, die Entscheide des Managements und der Regierenden lenkt.
Ich will so neutral wie möglich fragen: Ist es wünschenswert, dass allein der Profit des Kapitals eine Gesellschaft organisiert? Denn schliesslich könnten wir uns noch ein paar andere lenkende Kriterien vorstellen. Zum Beispiel sinnvolle, erfüllende Arbeit. Gute Lebenschancen für möglichst viele. Ökologische Nachhaltigkeit. Gerechtigkeit. Soziale Sicherheit und sozialer Frieden. Gleichstellung. Mehr frei verfügbare Zeit. Gemeinsinn und gesellschaftlich reiches Leben. Die Liste könnten wir verlängern.
Wie kommt es, dass diese Kriterien heute in der Schweiz alle kaum noch eine Rolle spielen? Ich weiss, die gerade herrschende Lehre in den Wirtschaftswissenschaften sagt uns: Die Entfesselung des Kapitals ist der beste Weg, Wohlstand für alle zu schaffen. Ich nenne das Mono-Denken. Die Realität hat diesen Lehrsatz zur Makulatur gemacht. Er ist leer. Falsch. Er hat sich als ein ideologisches Konstrukt erwiesen.
Was ist real geschehen? Sie kennen den Stakeholder-Kapitalismus. Ich nenne ihn manchmal auch Couponschneider-Kapitalismus. Die Aktionäre waren am langfristigen Substanzaufbau ihrer Unternehmen interessiert. Dafür gingen sie den sozialen Kompromiss mit der Arbeit ein. Sechs Prozent Eigenkapitalrendite galten als schön.
Dann übernahm der Shareholder-Value-Kapitalismus. Seine Regel hiess: Schneller und maximaler Profit für den Aktionär. Das trieb zum Beispiel die «Deindustrialisierung» sprunghaft an. Ganze Industriesegmente, die durchaus rentabel produzierten, wurden zugemacht, abgestossen, ausgelagert (siehe etwa Eisenbahnindustrie). Denn jetzt reichten 6 Prozent Eigenkapitalrendite nicht mehr. Die Manager waren angehalten, sich beim Entscheid zwischen langfristigem Substanzaufbau und kurzfristiger Gewinnmaximierung (Vierteljahresbilanzen, frisierte Börsenkurse etc.) für schnellen Profit zu entscheiden. Alles für den Börsenkurs. Kostensenkung um jeden Preis. Der soziale Kompromiss begann zu brechen.
So wurde ziemlich viel Kapital frei. Die «Finanziarisierung» wurde zur dominanten Form. Sie bezeichnet die Entfesselung der Finanzmärkte. Zwei Zahlen machen die Folgen kenntlich: 2007 stellte die Welt für rund 52’000 Milliarden Güter und Dienstleistungen her (Welt-BIP). Das geschätzte Volumen der Finanzmärkte betrug im selben Jahr aber absurde 3’400’000 Milliarden Franken. In diesem Finanzkapitalismus wurden nun Renditen von 20 oder 25 Prozent versprochen. Die sind mit nachhaltiger substantieller Produktion nicht zu schaffen. Hohe Renditen bekommt man nur durch die «Versilberung» der wirtschaftlichen Substanz, die von Generationen geschaffen wurde. Der Finanzkapitalismus ist Plünderungskapitalismus.
Es ist einzusehen, warum die Gewerkschaften ihr politisches Mandat erweitern müssen. Denn die finanzkapitalistischen Regeln sind längst zur Leitschnur unternehmerischen Handelns geworden.
Im Alltag, im Betrieb und in den Verhandlungen mit den Wirtschaftsverbänden, sind wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter also mit verschiedenen Wirklichkeiten konfrontiert. Wir begegnen Unternehmen, die etwas unternehmen und darum zu echter Sozialpartnerschaft bereit sind. Mit ihnen können wir Fortschritte für die Arbeitenden aushandeln.
Dann haben wir es mit Unternehmen zu tun, die Löhne und soziale Errungenschaften in Frage stellen. Dort sind unsere Beziehungen konfliktueller, bis hin zum Streik. Aber der Streik dient nicht zur Zerstörung des Unternehmens. Er soll die Manager an den Verhandlungstisch zwingen.
In den letzten Jahren aber begegnen wir immer häufiger Situationen wie dieser: Ein Unternehmen im Jura wurde von der Belegschaft bestreikt. Doch erstaunlicherweise stieg der Börsenkurs steil an. Grund: Ein Hedgefonds kaperte das Unternehmen. Er versilberte die Stillen Reserven und Liegenschaften, warf Hunderte von Arbeitenden raus und liess die fertigen Produkte wieder einschmelzen, weil die Rohstoffpreise explodiert waren.
Der Spielraum gewerkschaftlichen Handelns ist in diesen Situationen sehr gering. Da brauchen wir über sozialen Frieden oder Sozialpartnerschaft kein Wort mehr zu verlieren. Der CEO dieser Firma, die ich da als Beispiel gewählt habe, klagte die Gewerkschaft später ein, mit der Begründung, wir hätten nicht genug getan, um die Arbeitenden, denen man ihr Werkzeug zerstörte, am Streik zu hindern.
Es scheint so, als habe der Staat seine regulierende Kraft in weiten Teilen eingebüsst. Die meisten Parteien reden Banken und Konzernen nach dem Mund. Wir könnten ohne viel Risiko von gekaufter Politik sprechen. Was ist da ökonomisch und gesellschaftlich sinnvoller als die Stärkung der organisierten Gegenmacht der Arbeitenden? Was spricht gegen die Stärkung der gewerkschaftlichen Rechte und der Demokratie in der Wirtschaft?
Meine Erfahrung in Dutzenden von Firmen jedenfalls ist eindeutig: Belegschaften wissen meist besser als herbei- und vorbeieilende Manager, was dem Unternehmen dient. Vielleicht nicht der kurzfristigen Entwicklung des Börsenkurses. Aber gewiss der nachhaltigen Substanz. Aber dies wäre ein eigenes Thema.
Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter denken, dass es der Schweiz besser ginge, wenn wir noch stärker würden. Denn wir sind ja längst die wichtigste organisierte soziale Kraft des Landes. Und eine Kraft, die nicht nur die Verteidigung alter Errungenschaften im Kopf hat. Sondern eine Vorschlagskraft und Vorschlagsmacht entwickelt. Oskar Negt versucht mit seinem Plädoyer für die Erweiterung des politischen Mandates, den Weg für die Gewerkschaftsbewegung aufzuzeigen, damit wir den Anschluss an die Zukunft nicht verlieren. Dafür bin ich ihm dankbar.
Oskar Negt: Die Herausforderung der Gewerkschaften. Plädoyers für die Erweiterung ihres politischen und kulturellen Mandats. Frankfurt a. M.: Campus, 1989.