Ich bin mit Jahrgang 1937 kein 68er, eher ein 56er, der seine Texte nicht mit ‹ich› beginnen dürfte. 1956 steht für eine angepasste Jugendbewegung, der die sowjetischen Panzer gegen den ungarischen Volksaufstand den Antikommunismus leicht, zu leicht machten. Suspekt waren mir freilich die damaligen Protestaktionen, Fackelzüge und Bittgottesdienste inklusive, wie ich sie als Luzerner Kantonsschüler erlebte. Ich bin, wenn überhaupt, ein emanzipierter 56er, dem die Freiheit so wichtig war, dass er deren Fehlen nicht nur im «real existierenden Sozialismus» sondern immer mehr auch im Kapitalismus sah und beklagte.
1961/62 habe ich den Schweizerischen Studentenverein, die Kaderschmiede des politischen Katholizismus, präsidiert. Der Einblick in die Innenausstattung des klerikal-parteipolitischen Komplexes endete mit dem unguten Gefühl, auf dem falschen Dampfer zu sitzen. Die negativen Erfahrungen mit einem Milieukatholizismus, der sich für rechtgläubig hielt, derweil er vor allem rechtsgläubig war, wurden mir durch linkskatholische Kritiker bestätigt. Ich denke an Heinrich Böll (Brief an einen jungen Katholiken), Karl Amery (Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute) oder Friedrich Heer (Offener Humanismus).
1961 war es auch, als ich beim liberal-konservativen Staatsrechtler Werner Kägi eine rechtsphilosophische Dissertation über die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Naturrechts, des ‹katholischen› natürlich, verfasste. Ich habe mich lange, zu lange, mit diesem Thema herumgequält, ‹Letztbegründungen› gesucht, die von den Autoren der Scholastik und Neoscholastik zwar behauptet wurden, für mich aber ohne ‹sacrificium intellectus› nicht nachvollziehbar waren, weshalb ich sie Autor um Autor ‹dekonstruierte›. Ideologiekritik war angesagt, wie sie etwa der Soziologe August M. Knoll (Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht), der Neukantianer Hans Welzel (Naturrecht und materiale Gerechtigkeit) oder der bis heute herausragende ‹Rechtspositivist› Hans Kelsen (Was ist Gerechtigkeit?) übten.
Die positivistische Identifikation von Recht und Gesetz war für mich freilich nie eine Alternative. Und der Marxismus? Mit seiner Ideologiekritik an der traditionellen, auf Privateigentum fokussierten Naturrechtslehre, aber auch am Rechtspositivismus als gegenutopischer Affirmation des Bestehenden holte er mich ab bei eigenem Erkenntnisstand und Erkenntnisinteresse. Ernst Bloch formulierte mit dem einen Satz aus «Erbschaft dieser Zeit», was für mich bis heute gilt: «Wer einmal marxistische Kritik gekostet, den ekelt auf immer […] alles ideologische Gewäsche.»
Am meisten ‹umgehauen› aber hat mich Blochs«Naturrecht und menschliche Würde». Der Sohn aus grossbürgerlicher Familie meinte auch sich selbst, als er schrieb: «Und erwiesenermassen wurde Tiberius Gracchus durch Naturrecht von seiner patrizischen Herkunft auf die plebejisch-revolutionäre Linie gebracht.» Mit vor Erregung hochrotem Kopf verschlang ich das Buch im Sommersemester 1964. Ich hatte erstmals Zugang zu einem undogmatischen, demokratisch offenen, ganz und gar nicht a-religiösen, gar anti-religiösen Marxismus. Ja, dieser Bloch plädierte dafür, dass «der Sozialismus nicht mehr zu lange wie Abspüllicht von Aufklärlicht über Religiöses zu sprechen hätte». Je mehr sich die «Erwerbssorgen», diese «schäbigsten aller Sorgen», im Sozialismus erledigten, desto stärker träten «die echten, wertvollen, uns angemessenen Sorgen vor, die Frage dessen, was wirklich im Leben nicht stimmt». Bloch benannte diese existenziellen, ja religiösen Bedürfnisse nicht nur, sondern liess sie Entfaltung finden in einem «Recht auf Gemeinde», diese verstanden als «Einrichtung, die mehr ist als Verwaltung von Sachen, die es mit der Freundlichkeit, der tiefdringenden, der Brüderlichkeit, der schwierigen, sehr ernst nimmt».
Endlich sagte ein Marxist, «Sozialismus, gar Kommunismus sei das, was man unter dem Namen Moral so lange vergebens gesucht hat». Wenn dem aber so war, dann galt auch umgekehrt, dass «Sozialismus, gar Kommunismus» an das gebunden ist, was Menschen «unter dem Namen Moral» verbindlich verbindet. Von daher hat Bloch für die Menschlichkeit Partei ergriffen und Rosa Luxemburgs «Formel einer Wechselwirkung, die über die Zukunft entscheidet», ernstgenommen: «Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie.»
Befreiend für mich war, wie Naturrecht bei Bloch von links besetzt wurde. Es sollte nicht länger ‹essentialistisch› verdinglicht, sondern als dynamisches, in der Dialektik mit Geschichte sich entwickelndes verstanden werden. Auch die Trikolorewerte der Französischen Revolution blieben unabgegolten, sofern sie nicht historisch konkretisiert würden: «Der Freiheitskampf erzeugt Gleichheit; die Gleichheit als Ende der Ausbeutung und Abhängigkeit erhält die Freiheit, die Brüderlichkeit lohnt eine Gleichheit, worin es keiner mehr nötig hat, ja überhaupt in der Lage ist, dem anderen ein Wolf zu sein.» Dialektischer als der Vulgärmarxismus seiner Zeit hat Bloch erkannt, dass die «bürgerlichen Menschenrechte» erst im Sozialismus verwirklicht 615-544-0619 , «dass sie als unbürgerliche erst zustellbar werden».
Es ging um ein Naturrecht mit «Intention auf aufrechten Gang», um das Recht, «die Livree abzuwerfen», um Wirtschaftsdemokratie, nicht länger nur als abstrakte Forderung, denn «die Reife der Produktivkräfte selber tendiert zur genossenschaftlichen Verwaltungsform». Es ging im Sinne einer emanzipatorischen, wenngleich immer nur annäherungsweise zu verwirklichenden Rechtsidee um «die facultas agendi endlich unentfremdeter Menschen in der norma agendi einer endlich unentfremdeten Gemeinschaft» oder um die aus dem Kommunistischen Manifest zitierte «Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist».
Zu vieles, was ich auf mehreren hundert Seiten zusammengeschrieben hatte, kam mir nach dieser Lektüre nur noch wie «ideologisches Gewäsche» vor, weshalb ich das Projekt Dissertation einstweilen in der Schublade verstaute, wo es leider geblieben ist. Bloch aber wurde einer meiner Begleiter in der weiteren politischen und publizistischen Arbeit. Vor allem hoffte ich, dass sich der ‹real existierende Sozialismus› mit einem Marxismus Blochscher Prägung reformieren liesse. Doch blieb das DDR-Regime zu verstockt, um zu erkennen, was es an seinem Bloch gehabt hätte. Friedrich Heer meinte gar, eine «DDR mit Ernst Bloch als Kultusminister und seinen Schülern und Anhängern als Missionaren seines Glaubens hätten unseren Beamten des Geistes im besonderen und der Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen […] in einer Weise aufspielen können, dass diesen Menschen in Westdeutschland Hören und Sehen vergangen wäre». Gewiss nicht nur in Westdeutschland, sondern etwa auch in der ‹real existierenden Schweiz›.
Dieser Kairos wurde nicht gepackt. Bloch lesen lohnt sich heute trotzdem oder erst recht, damit die Zukunft wieder werde, was sie damals, in den 1960er Jahren, schon einmal war.
Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main, 1961.