Antonio Gramsci hinterliess bei seinem Tod 1937 an die dreissig Schulhefte mit Notizen, Reflexionen und Entwürfen aus dem Gefängnis. Von 1991 bis 2002 wurden sie übersetzt und liegen seit 2012 auch in einer Taschenbuchausgabe vor. Die Lektüre ist eine spannende Herausforderung – man kann dem sardischen Revolutionär und Philosophen beim imaginären Dialog mit Dante, Marx oder Machiavelli ebenso zuhören wie bei der kritischen Auseinandersetzung mit einer Vielzahl heute zumeist vergessener Zeitgenossen. Aber lohnt sich der Aufwand? Sind diese Gefängnishefte heute noch aktuell?
Die Frage ist irreführend, weil Gramscis Bedeutung für die Gegenwart gerade darin liegt, dass er nicht ‹aktuell› ist, sondern einer vom neoliberalen Kapitalismus geprägten Welt distanziert gegenübersteht – in dieser Distanz der Gefängnishefte, kombiniert mit ihrer lebendigen und nah am Material sich bewegenden Begriffsarbeit, sehe ich einen ihrer grössten Vorzüge. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Gramsci zwar mit Michel Foucault zu den originellsten Analytikern der Macht gehört, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Aber während Foucault eher dazu tendiert, Intellektuelle als hyperkritische, sensible Einzelkämpfer zu positionieren, die die Produktivität der Macht bis in die Kapillaren des Subjekts hinein verfolgen, richtet der um einige Jahrzehnte ältere Gramsci seine Begriffe gezielt so aus, dass eine bisher nur zerstreut vorhandene Gestaltungsmacht von unten ins Bild rückt – und damit der für Befreiungsbewegungen grundlegende Unterschied zu Herrschaft. Gramsci zielt darauf ab «Eliten von Intellektuellen eines neuen Typs hervorzurufen, die direkt aus der Masse hervorgehen und gleichwohl mit ihr in Kontakt bleiben, um zu ‹Korsettstangen› derselben zu werden.» (6/1390)
Das Thema eines Ausgangs aus der «Subalternität», wie Gramsci den durch Passivität und Gleichgültigkeit von den Subjekten selbst noch zementierten Zustand gesellschaftlicher Unterordnung nennt, ist eines der wiederkehrenden Motive seiner Biografie wie seiner begrifflichen Arbeit. Aus dem mausarmen Sardinien stammend, konnte er mit einem Stipendium in der italienischen Industriemetropole Turin studieren. Musste er sich dabei als «dreifachen oder vierfachen Provinzler» erkennen (7/1736), so prägte die Erfahrung des Überwindens von bornierten oder beschränkten Haltungen bald auch sein zunehmendes Engagement für die Arbeiterbewegung. Er sah es als eine der «drängendsten Notwendigkeiten der italienischen Kultur …, sich auch in den fortgeschrittensten und modernsten städtischen Zentren zu entprovinzialisieren» (ebd.). Als Komintern-Vertreter der Kommunistischen Partei Italiens, deren Mitbegründer er war, erfuhr er die Unterstützung des von ihm bewunderten Lenin und lernte in einem Sanatorium unweit von Moskau seine Frau Giulia Schucht kennen. Von Mussolinis Faschisten gehasst und verurteilt, durch den Stalinismus in den eigenen Reihen isoliert, verbrachte er die letzten zehn Jahre seines Lebens in faschistischer Haft, wo ihn die Reflexion über die Gründe des Scheiterns der Revolution im Westen zu einem neuen Denken des Politischen führte.
In den Gefängnisheften bricht Gramsci mit jedem vereinfachenden Klassendenken, das von einer bestimmten Klassenlage auch schon ein bestimmtes (je nach Sichtweise richtiges oder falsches) Bewusstsein ableitet. Dadurch, dass jemand Arbeiter, Bäuerin oder Manager ist, ist noch keineswegs entschieden, wie er sich engagiert, ob sie rechts oder links wählt, ob er für rassistische Argumentationen empfänglich ist – denn wie und was jemand (nicht) denkt, (nicht) tut oder (nicht) fühlt, dafür fallen wichtige Vorentscheidungen im ‹ideologischen Panorama› einer Epoche. Es kommt also darauf an, welche Ideen und Begriffe, Konzepte und Politiken in einer gegebenen Zeit überhaupt zur Verfügung stehen und kohärent entwickelt worden sind, und wie diese Ideen und Konzepte mit den Wünschen, Nöten und Bedürfnissen der Vielen verknüpft werden. Nach solchen Verknüpfungen fragt Gramsci mit dem Begriff der «Hegemonie».
Wenn in den USA in den 1920er-Jahren in den Fabriken des Automobilherstellers Henry Ford eine neue Produktionsweise mit dem Fliessband Gestalt annimmt, so ist zunächst noch keineswegs klar, ob sich dieses Arbeitsregime als Teil eines neuen American Way of Life verallgemeinern lässt. Gramsci zeigt, wie der Kampf darum mit Moralisierungskampagnen und dem landesweiten Alkoholverbot (der Prohibition) geführt wird; er findet Spuren auf dem Feld der Sexualität, wo die Psychoanalyse eine Lockerung der Tabus verspricht, und in der Literatur, die satirisch auf den Kleinbürger einwirkt – seine fast beiläufig gemachte Bemerkung, dass der amerikanische Spiesser jener Jahre durch Kritik verändert wird, während die Eliten den europäischen Kleinbürger in seiner bornierten, rückwärtsgewandten Haltung bestärken, hat mir die Idee geliefert zu einer Studie über die Positionierung des Spiessers im 20. Jahrhundert (Konformität und bizarres Bewusstsein, 2002) – viele seiner unscheinbaren Bemerkungen sind von dieser ungeheuer anregenden Originalität. Die Studien zur fordistischen Produktionsweise machen deutlich, dass sich die Hegemoniefrage ohne Politik und Kultur nicht beantworten lässt, weil «die neuen Arbeitsmethoden untrennbar mit einer bestimmten Weise zusammenhängen, zu leben, zu denken und das Leben zu empfinden» (9/2086).
Hegemonie ist ein schillernder Begriff – ich finde ihn unersetzlich, weil er zusammen mit dem kritischen Blick auf die Unterordnung auch die Perspektive der Befreiung ins Bild bringt. Er kann die Bedeutung annehmen von Massen, die gegen ihre eigenen Interessen handeln, wenn sie in den kritiklos übernommenen Ideen und Begriffen denken, die ihnen die Verhältnisse aufdrängen; und doch ist er nicht deckungsgleich mit ‹Ideologie›. Der Hegemoniebegriff wägt immer ab zwischen Konsens und Zwang, wie sie durch eine bestimmte Form der Regierung ausgeübt werden. Werden die Vielen dabei z. B. kommerziellen Interessen untergeordnet, systematisch entmündigt oder mit Druckmitteln zum Schweigen gebracht, überwiegt das Element Zwang. Hegemonie orientiert also auf eine Regierungsform per Konsens. Ja, mehr noch: Der Hegemoniebegriff ist so angelegt, dass es in seinem Rahmen vorstellbar wird, dass sich die Balance stärker zugunsten von Konsens verschieben kann, dass also nicht mehr eine Elite über die Vielen regiert, sondern alle tendenziell ins Regieren eingebunden sind und die alte Entgegensetzung von Regierenden und Regierten überflüssig wird. Eine solche gelingende Hegemonie verspricht nicht eine Welt ohne Auseinandersetzungen oder Probleme, und schon gar nicht ohne die Anstrengung des Sich-Herausarbeitens aus Subalternität. Aber sie orientiert auf ein Zusammenleben jenseits der riesigen Konfliktpotenziale, die sich heute in der neoliberalen Gesellschaft und Globalisierung zwischen den Gewinnern und Verlieren auftürmen und die Welt an eine katastrophale Dynamik auszuliefern drohen.
Gramscis Hegemonietheorie ist komplex, weil sie Felder zusammenbringt, die in der traditionellen Wissenschaft meist getrennt betrachtet werden – aber sie ist zugleich stärker in der Praxis verortet als herkömmliche Theorie. In den Gefängnisheften kann man lernen, was es heisst, sich im vorhandenen Material experimentell und kritisch-emanzipatorisch zu bewegen. Gramsci adaptiert dafür den Ausdruck Philosophie der Praxis. Ihr «Ausgangspunkt [muss] immer der Alltagsverstand sein, der spontan die Philosophie der Volksmengen ist» (6/1395). Dieser Alltagverstand «ist eine chaotische Ansammlung disparater Auffassungen, und in ihm lässt sich alles finden, was man will» (1396) – man wird dieser Überlieferung also mit Vorbehalt begegnen. Aber an dieser Stelle zeigt sich Gramsci als Dialektiker: Wenn sich alles im Alltagsverstand finden lässt, so auch immer wieder Splitter einer kritischen Reflexion. Gramsci spürt sie auf und bezeichnet sie als «den gesunden Kern des Alltagsverstands, das, was eben gesunder Menschenverstand genannt werden könnte und das es verdient, entwickelt und einheitlich und kohärent gemacht zu werden.» (1379) Philosophie der Praxis ist also die erneuernde Kritik des Alltagsverstands.
Was wir als parlamentarische Politik sehen, ist nur die Spitze des Eisberges. Hegemonie lässt sich eben gerade nicht durch kurzfristige Initiativen erlangen und schon gar nicht auf geschicktes oder schlaues ‹Kommunizieren› und ‹Manövireren› reduzieren. Denn Hegemonie bezeichnet bei Gramsci den ganzen ‹Eisberg›, also auch den weitaus grösseren Teil einer Politik des Kulturellen, der nicht oder kaum im Fokus der Medien und der institutionalisierten Politik liegt. In den Kampf um Hegemonie eintreten heisst, die eigene und die gesellschaftliche Situation so zu denken, dass neue Fäden widerständigen Denkens und Handelns angeknüpft und entwickelt werden können. Das ist schon schwer genug in einer Zeit, die dauernd neue Aktualitäten auf die ‹Benutzeroberfläche› setzt; richtig anspruchsvoll wird es durch die Tatsache, dass es einfacher ist, Menschen mit alten Rezepten zu beruhigen (oder in Krisenzeiten: zu radikalisieren), als die Keime zu neuen und solidarischen Lösungsansätzen zu entwickeln. Gramsci täuschte sich nicht darüber hinweg, dass «der Alltagsverstand auf bornierte Weise neuerungsfeindlich und konservativ ist» (1397). Anstatt daran zu verzweifeln, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Keime des gesunden Menschenverstands zu stärken, sie zu verknüpfen und mit der Kohärenz philosophischer Reflexion zu versehen – nichts anderes meint sein Konzept der ‹organischen Intellektuellen›: «Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern.» (9/2232)
Gramsci, Antonio, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug u. Peter Jehle, 10 Bde., Hamburg (Argument) 1991-2002 – seit 2012 auch als Taschenbuch-Ausgabe erhältlich.
Der neue Einführungsband von Thomas Barfuss u. Peter Jehle beleuchtet auch die Schnittstellen zu neueren Wissenschaftsprojekten wie Cultural Studies, Subaltern Studies oder Internationale Politische Ökonomie: Antonio Gramsci zur Einführung, Hamburg 2014.
Barfuss Thomas: Konformität und bizarres Bewusstsein. Zur Verallgemeinerung und Veraltung von Lebensweisen in der Kultur des 20. Jahrhunderts, Hamburg (Argument) 2002.
Ausschnitte aus den Gefängnisheften in einem Band, zusammengestellt z. B. für Lesegruppen, finden sich in: Gramsci lesen. Einstiege in die Gefängnishefte, hrsg. v. Florian Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann u. Anne Steckner.