Dem Fragment «Kritik des Hegelschen Staatsrechts» von Karl Marx begegnete ich zum ersten Mal am Institut für Philosophie an der FU Berlin. Offiziell eingeschrieben war ich zwar am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität. Doch einmal die Woche fuhr ich statt mit dem Fahrrad an die Mohrenstrasse mit der S1 vom nahen Nordbahnhof für das Marx-Seminar einmal quer durch die Stadt nach Dahlem. Froh darüber, dass hier im Gegensatz zu meiner Alma mater in Bern Sprachphilosophie und analytische Philosophie nicht das Mass aller Dinge waren, freute ich mich über den wöchentlichen Ausflug an die Habelschwerdter Allee im bürgerlichen Villenvorort des ehemaligen Westberlins.
Die «Kritik des Hegelschen Staatsrechts» von 1833 ist ein Fragment gebliebener Kommentar von Karl Marx zu Georg W. F. Hegels «Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Umrisse» aus dem Jahr 1820. Auf gut hundert Seiten kommentiert und kritisiert Marx die Paragrafen 261 bis 313 von Hegels Rechtsphilosophie. Leitmotive des Texts sind die Mystifikationskritik, die Kritik an Hegels Entwicklung der Monarchie, die Bürokratiekritik und die Kritik der begriffslogischen Überformung. Zudem wirft eine längere Passage ein Licht auf Marx’ Demokratiebegriff, der einige Überraschungen bereit hält und Fragen aufwirft. Die «Kritik des Hegelschen Staatsrechts» wird oft unterschätzt, obwohl sie einen neuen und frischen Impuls zur hier wie dort oft dogmatischen und uninspirierten Marx-Lektüre leisten kann und auch Hegels Rechtsphilosophie in ein neues Licht rückt. Das Fragment ist aus drei Gründen bemerkenswert.
Erstens legt Marx in diesem frühen Text den Grundstein zu dem, was später seine Kritik der politischen Ökonomie werden soll. Wir finden hier in nuce erste Ideen, die er im «Kapital» weiter ausdifferenziert. Vieles ist dabei noch unausgegoren. Anderes wird er fallen lassen oder radikal umformulieren. So wie Marx hier den bürgerlichen Staat kritisiert durch die Kritik der Theorie dieses Staates, so kritisiert er später die kapitalistische Produktionsweise durch eine Kritik an der Theorie dieser Produktionsweise.
Zweitens erlaubt der fragmentarische Charakter des Textes und die Form des Kommentars gewissermassen dabei zu sitzen, wie Marx seine Gedanken entfaltet und sich an Hegels Rechtsphilosophie abarbeitet. Der Text setzt mit dem Kommentar zu Paragraf 261 ein, in dem Hegel das Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft diskutiert. Marx verweist ganz zu Beginn auf den vorangegangenen, weder zitierten noch kommentierten Paragrafen – und ebenso unmittelbar wie der Text beginnt, reisst er mit dem Kommentar zu Paragraf 313 ab, wo Marx bloss noch ein «O Jerum!» entfährt.
Andere Passagen des Kommentars sind weniger formal, sondern inhaltlich Fragment geblieben: Marx setzt zu einem Gedanken an, führt sie aber weder in diesem Text noch an anderer Stelle im Gesamtwerk weiter. Dazu gehören die Ausführungen, wie Hegels Idealismus in simplen Positivismus umschlägt. In dieselbe Kategorie fällt der Demokratiebegriff, den Marx hier einführt. Statt Hegels Repräsentationsprinzips innerhalb der konstitutionellen Monarchie und des basisdemokratischen Prinzips des «Alle einzeln», bringt Marx ein «die Einzelnen als Alle» ins Spiel. Dass dabei der Gegensatz zwischen Politischem und Gesellschaftlichem aufgelöst wird, ist ein reizvoller Gedanke, birgt gleichzeitig einige nicht zu unterschätzende Probleme.
Und drittens – trotz oder gerade wegen des Genres des Kommentars, das die Lektüre stellenweise anstrengend macht – blitzt immer wieder Marx’ trockener Humor auf, wie man dies von anderen seiner Werken her kennt. «Über die Hegelsche Darstellung ist zu bemerken: a.) Zu Subjekten werden gemacht: die abstrakte Wirklichkeit, die Notwendigkeit (oder der substantielle Unterschied), die Substantialität; also die abstraktlogischen Kategorien» (215), doziert Marx etwa. An anderer Stelle spottet er über den Philosophen: «Was Hegel über die ‹Regierungsgewalt› sagt, verdient nicht den Namen einer philosophischen Entwicklung. Die meisten Paragraphen könnten wortwörtlich im preussischen Landrecht stehen» (246).
Marx’ Fragment «Kritik des Hegelschen Staatsrechts» ist ein produktiver theoretischer Steinbruch: Es lassen sich entweder eine ganze Reihe von Gedanken und Konzepte in roher, unbehauener Form erkunden und Marx’ Arbeit am und mit Gedanken nachvollziehen. Oder man entscheidet, sich den einen oder anderen Steinblock anzueignen und für seine eigene Theoriearbeit weiter zu verwenden.
Prägend für meine weitere Auseinandersetzung mit Marx ist das Menschenbild, welches in diesem Text aufscheint. Dieser Aspekt wird oft unter dem «idealistischen» oder «frühen» Marx subsumiert, als unausgegoren abgetan und beiseite gelegt – etwas vorschnell, wie ich denke. Wie Marx hier den individuellen Menschen zum Massstab der Emanzipation macht, ihn aber gleichzeitig nicht auf das egoistische und vereinzelte Individuum reduziert, sondern auf den Menschen als Gattungswesen zurückführt, ist ein Gedanke mit Sprengkraft, der nichts an Aktualität eingebüsst.
Einige Jahre später lernte ich vom wunderbaren Sozialanthropologen Nicholas de Genova eine Interpretation des Arbeitsbegriffs kennen, der mich an das Seminar an der Habelschwerdter Allee erinnerte: Seine Lesart, in der Arbeit als genuin menschliche und unbändige Tätigkeit – und nicht zwingend in ihrer entfremdeten Form unter kapitalistischen Verhältnissen – ein Potential zu sehen, das Ansatzpunkt von Kritik wie Utopie sein kann, hat mich geprägt und liess mich Marx’ «Kritik des Hegelschen Staatsrechts» nochmals mit neuen Augen sehen.
Karl Marx, 1833: Die Kritik des Hegelschen Staatsrechts (MEW Band 1, S. 203-333).