Zweifellos zählt «Der Staatsadel» nicht zu den bekanntesten Büchern Pierre Bourdieus. Die deutsche Ausgabe erschien erst 2004, ganze 15 Jahre nach dem französischen Original. Damit war eine erste Fährte für die Interpretation dieses Buchs verwischt, denn das ursprüngliche Erscheinungsjahr war von höchster symbolischer Bedeutung: Zum 200-jährigen Jubiläum der Französischen Revolution wollte Bourdieu aufzeigen, dass dieses «historische Ereignis» nichts Grundlegendes veränderte – so eine Nebenbemerkung zum «Staatsadel» in seinen Vorlesungen «Über den Staat» von 1989-1992, die kürzlich ebenfalls auf Deutsch veröffentlicht wurden (Suhrkamp, 2014).
Jedenfalls wäre es ein Fehler, Bourdieus «Staatsadel» auf eine soziologische Analyse französischer Eliteschulen zu reduzieren. Die Untersuchung der Grandes Écoles, dieser mit dem republikanischen Staat entstandenen schulischen Einrichtungen zur Produktion von Herrschenden, führt nicht nur zu einer Verschränkung von Bildungssoziologie und Soziologie der Macht, sondern zeichnet Konturen einer eigentlichen Staatssoziologie.
Die inhaltliche Struktur des Buchs gleicht russischen Puppen, die übereinander gestülpt werden: Es beginnt im Konkreten und Kleinen, doch in der Folge weitet Bourdieu den Fokus aus. Im ersten Teil («Die schulischen Formen der Klassifizierung») wird die Schule als kognitive Maschine beschrieben, die soziale in schulische Urteile verwandelt und die Reproduktion sozialer Ungleichheit nicht nur legitimiert, sondern regelrecht unsichtbar macht. Die soziologische Analyse der Preisträger des Concours Général (und der Kommentare der Jury) oder der Karteikarten eines Philosophielehrers für Vorbereitungsklassen zu einer Grande École dient dazu herauszustellen, wie die Lehrkräfte, diese «mystifizierten Mystifikateure», ohne es zu merken eine regelrechte Taxonomie sozialer Kategorien («herausragend»/«gewöhnlich», «kultiviert»/«schulmässig», «rasch»/«langsam» u. a.) anwenden. «Sie sind doch nur ein Arbeiterkind» – das wird und darf kein Lehrer sagen, um eine Arbeit zu kommentieren; doch Bemerkungen wie «korrekt, nicht mehr» oder «farbloser Stil» erinnern den Adressaten unbewusst genau daran, dass er in der Tat aus einer Arbeiterfamilie kommt (S. 58).
Im zweiten Teil («Die Ordination») beschreibt Bourdieu die Schule als religiöse Einrichtung, die hinter dem Schleier ihrer stets in den Vordergrund gestellten technischen Funktion (Bildung, Vermittlung von Wissen usw.) magische Weihehandlungen vornimmt, auf Grund derer absolute Grenzen zwischen sozialen Gruppen gezogen werden und am oberen Ende der sozialen Skala ein «Schuladel» entsteht, der glaubt, besonders intelligent zu sein. Der Bezug auf Religionssoziologie und Ethnologie ist hier ernst gemeint: Für Bourdieu hat die Schule das Erbe der Religion als die zentrale Institution der Herstellung einer die Welt verklärenden Weltanschauung angetreten. Die «Bildungsexpansion» erweist sich damit weniger als Faktor von «Demokratisierung» oder «sozialer Mobilität» denn als neue und umfassende Verzauberung der sozialen Welt, als Diffusionsprozess eines historisch neuartigen Regimes der «symbolischen Gewalt». Bourdieus Vergleich zwischen dem Unterricht in den Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles und dem Studium an den Universitäten lässt verstehen, warum dem sozial erlesensten Publikum nicht unbedingt der schulisch beste Unterricht zukommt: Das inhaltlich fragwürdige «Drillen und Pauken» dient nicht zuletzt dazu, Durchhaltewillen und Kampfgeist zu prüfen, durch eine asketisch fundierte Konversion des Selbst- und Weltbildes einen elitären «Korpsgeist» herzustellen, sowie auf Distanz zu den «Intellektuellen» zu gehen und auf diese Weise an jene Positionen heranzuführen, an denen sich politische und ökonomische Macht konzentrieren – während an den Universitäten die Studierenden mit einem intellektuell oft höher stehenden Unterricht beglückt werden, mit dem sie oft nicht viel anzufangen wissen. Am Schluss dieses Teils stellt Bourdieu heraus, wie das im Schultitel enthaltene Spannungsverhältnis zwischen sozialer Würde (Weihe) und technischer Fähigkeit (Kompetenz) das Terrain par excellence bildet, auf dem sich jene Form des Klassenkampfs abspielt, die er als «Klassifizierungskampf» bezeichnet.
Im dritten Teil («Das Feld der Grandes Écoles und seine Veränderungen») und im vierten Teil des Buchs («Das Feld der Macht und seine Veränderungen») bewegt sich Bourdieu im Register der auf Korrespondenzanalysen beruhenden Feldanalyse. Seine zentrale These ist, dass es eine Homologie (oder Strukturähnlichkeit) gibt zwischen dem Feld der Hochschuleinrichtungen auf der einen und dem Feld der Macht auf der anderen Seite, so dass bestimmten Schulen bestimmte Laufbahnen entsprechen, die typisch sind für die Reproduktionsstrategien der Angehörigen bestimmter sozialer Klassen und Klassenfraktionen.
Das Feld der Macht sieht Bourdieu homolog gegliedert durch die Gegenüberstellungen (im Kreuz) zwischen weltlichem und intellektuellem Pol sowie technokratischem und technischem Pol (also zum Beispiel: Unternehmer vs. Professoren und Künstler; hohe Staatsbeamte vs. Ingenieure, Ärzte und Anwälte). Bei der Unternehmerschaft differenziert er nach der relativen Nähe zum Staat und der Affinität zur öffentlichen Schule (Staatsunternehmer vs. Familien- bzw. Privatunternehmer) sowie nach der «Anciennität» im Geschäftsleben, die als zentrales Adelsmerkmal der Grossbourgeoisie beschrieben wird. Hier werden die Konturen einer umfassenden Soziologie der herrschenden Klasse Frankreichs greifbar, deren Konstruktionsprinzipien sich natürlich auch auf andere Länder anwenden lassen. Bourdieu hebt hervor, dass im Laufe der Zeit die «schulische Komponente» in den Reproduktionsstrategien der Herrschenden an Bedeutung gewonnen hat: Macht lässt sich heute in der Regel nicht mehr legitim ohne den Erwerb eines Schultitels von Rang von einer Generation auf die folgende übertragen. Doch der Schultitel allein reicht nie, um in Machtpositionen zu gelangen, und die Entstehung einer Reihe von «Zufluchtsschulen» erlauben es schulisch nicht allzu brillanten Abkömmlingen aus bestem Hause, mit relativ geringem Aufwand und Risiko an Titel mit einem gewissen Wert zu gelangen. Für Bourdieu haben diese Veränderungen denn auch nichts mit einer «Demokratisierung der Macht» oder mit einem Wechsel von der Herrschaft der Eigentümer zur Herrschaft der Manager zu tun – zumal viele einflussreiche Manager der grossen Wirtschaftsbourgeoisie entstammen.
Der fünfte und letzte Teil («Die Staatsmacht und die Macht über den Staat») erfüllt meines Erachtens eine ähnliche Funktion wie das Kapitel über die «ursprüngliche Akkumulation» im ersten Band des Kapitals von Marx. In groben Zügen skizziert Bourdieu hier die historische Entstehung des Staatsadels als «Korps, das sich geschaffen hat, indem es den Staat geschaffen hat» (S. 463). In Konkurrenz zum Schwertadel wie zum Klerus kämpften Parlamentarier und andere «Diener des Allgemeinwohls» für die zunehmende Autonomie eines «bürokratischen Felds», auf dem staatliche Macht als solche akkumuliert werden kann. Die Philosophie des öffentlichen Dienstes und der kompetenten, weil gebildeten Macht sieht Bourdieu als zentrale Bestandteile jener «Soziodizee», mit der die hohen Staatsbeamten ihre Machtpositionen rechtfertigen. Die zunehmende Herausbildung einzelner Felder im Feld der Macht (Kunst, Universität, Staatsverwaltung, Politik, Massenmedien etc.) führt in seinen Augen zu einer «organischen Solidarität» (im Sinne Durkheims) unter den Herrschenden, die nicht mehr auf Beziehungen zwischen Personen und Institutionen beruht, sondern auf Beziehungen zwischen Feldern. Die «Ökonomie der Legitimationsarbeit», die diesem Geflecht zu Grunde liegt, produziert einen historisch neuartigen Grad der Verschleierung von Macht. Zugleich birgt die relative Autonomie der Felder immer auch die Möglichkeit subversiver Bündnisse (insbesondere zwischen den Beherrschten unter den Herrschenden und anderen sozialen Gruppen) und/oder die Chance, einen Gewinn aus den Kämpfen unter den Herrschenden zu ziehen.
Die französische Revolution steht für Bourdieu nun als Triumph des neues Reproduktionsmodus mit schulischer Komponente über die alte dynastische Vererbung politischer Macht da: Deshalb musste der Kopf des Königs abgeschlagen werden. In diesem Sinne ist sie eher das Ende eines Prozesses als der Anfang von etwas Neuem. Damals wie heute ist die «neue, aufgeklärte und moderne Elite» aus den besten Familien der alten Elite entstanden, und die Funktionsweise des Staates lässt sich nicht verstehen, ohne den Staatsadel als solchen zu analysieren. Bourdieus Studie stellt damit im Kern eine Absage an den gemeinsamen «funktionalistischen» Nenner liberaler wie marxistischer Staatstheorien dar: Der Staat steht weder im Dienst des Allgemeinwohls noch im Dienst der Bourgeoisie oder des Kapitalismus. Er lässt sich als relativ autonomes Feld im Feld der Macht verstehen, in dem der Staatsadel herrscht, dieses mit dem republikanischen Staat entstandene Korps, dessen Angehörige «gezwungen [sind], sich aufs Allgemeine zu berufen, um ihre Herrschaft auszuüben», und von einer Politik träumen, «die das Volk ohne dessen Zutun glücklich zu machen vermag» (S. 467).
Pierre Bourdieu: Der Staatsadel. UVK 2004 (frz. Original: Éditions de Minuit, 1989).