Nach ihrem 2010 erschienenen Band Kreative Vernunft, der sich den Denkerinnen der Moderne widmete, legt die Philosophin und Psychoanalytikerin Maja Wicki-Vogt nun auch Essays zu den Denkern der Moderne vor. Man könnte einwenden, das sei wenig neu, wenn man Namen wie Descartes, Spinoza, Kant, Schiller oder auch, nach einem Übergang ins 20. Jahrhundert, Heine, Bergson, Freud, Kafka oder Benjamin und immer wieder Hannah Arendt oder Simone Weil in diese Gruppe eingereiht sieht. Die Autorin muss also einen spezifischen Aspekt im Auge haben, wenn sie uns diese DenkerInnen zur erneuten Diskussion vorlegt. Schon im Untertitel, und präzisiert in den einleitenden Bemerkungen, hier filmisch „Vorspann“ genannt (S. 9 ff.), benennt sie diesen Aspekt: Freiheit/Unfreiheit in Verbindung mit persönlichem Werden. Es geht um die Erbschaften, wie es im Titel heisst 615-544-3391 , das Überlieferte also, das „die geheimnisvolle Verpflichtung enthält, das erkenntniskritische Denken nicht zu scheuen, sondern es in Worte zu fassen und umzusetzen“.
Das ist soweit bekannt, aber hinzukommt der entscheidende Blickwinkel, „die emotionale und körperliche Erfahrung von Glückshunger und von Lebensfreude, von Mangel und von Leiden zu nutzen, um sich selber und anderen einen versöhnlichen, furchtloseren Blick in die Zukunft zu ermöglichen.“ (S.12 f.) Hier wird verbunden, was sonst eher getrennte Wege geht: Die auf dem Denken beruhende kritische Erkenntnis auf der einen Seite mit der körperlichen Reaktion der Gefühle, oder allgemein der Affekte, auf der anderen. Erst die Verbindung beider, erkenntnistheoretisch über die Jahrhunderte meist getrennter und, was die „Gefühle“ betrifft, häufig ignorierter Bereiche, ermöglicht deren Klärung und Akzeptanz und damit die Lebensfähigkeit zur Freiheit. Das ist der spezifische Blick der Autorin, durch den sie ihre Denker und Denkerinnen und damit uns als Lesende schickt. Der Bogen, den sie hier spannt, ist weit, der Atem entsprechend lang. Die essayistische Form enthebt sie aber der Stringenz einer formalen Konstruktion, was die Texte gut lesbar macht. Sie sind untereinander verbunden, könnten aber auch je einzeln mit Gewinn gelesen werden.
Die Autorin führt über die Gedankengebäude des in der Moderne aufkommenden Zweifels (Descartes), über den so entstehenden Kern der Freiheit, also der Gedankenfreiheit (Spinoza), zur Epoche der Aufklärung in der Person Kants und in dessen Folge zu Schiller, mithin durch den sich gedanklich über die Jahrhunderte von der beengenden Theologie befreienden Raum der menschlichen Vernunft als das dem Menschen innewohnende Mass. Sie zeigt eindringlich, wie auch schon früher Philosophen immer wieder versucht haben, die von der Theologie und Kirche so vernachlässigten, wenn nicht verteufelten Lebensaspekte des Körpers in ihr System zu integrieren. Spinoza dazu: „Die menschliche Ohnmacht, die Affekte zu meistern und zu hemmen, nenne ich Knechtschaft“. Doch spätestens bei Kant zeigt sich die Vernunft mal behindert, mal bereichert durch die Affekte, die zur Ästhetik verallgemeinert werden und bei Schiller zum Schönen reifen, das mit dem Guten und dem Wahren, dem logos, zu verbinden ist. Dabei verfolgt man als Lesende das fast labyrinthisch anmutende Gedankennetz mit zunehmender Lust an der Materie und Bewunderung der nur scheinbar abschweifenden Führung der Autorin, denn sie weist stets den Zusammenhang zum genannten Thema auf, den Erbschaften und der Freiheit im persönlichen Werden.
Während diese ersten Kapitel von einer quasi aufsteigenden Befreiung erzählen, wendet sich Wicki danach den Opfern der politischen Repression zu, ihrer politischen Unfreiheit und ihren Kämpfen dagegen: Heine, Bergson, Freud, Kafka, dann Benjamin und Arendt, Wittgenstein und schliesslich Weil. Ihnen allen sind die im Titel angesprochenen „Erbschaften“ bewusst, die sie in je unterschiedlicher Art zu erfassen und entweder sich dagegen zu stemmen suchen oder sie annehmen und vorantreiben. Hier spielt vor allem der jüdische Hintergrund eine wichtige Rolle, denn diese Erbschaft unterliegt in Europa und besonders im deutschsprachigen Europa bis zur höchsten Zuspitzung der Terrorjahre in Deutschland dem doppelten Verdikt des „Vatererbes“. Wicki verdeutlicht dieses Vatererbe als Last und Beschwernis vor allem an Freud und Kafka. Unter diesem Aspekt hat man, trotz Kafkas Brief an den Vater und Freuds Moses deren Sprach- und Denkarbeit bisher vielleicht weniger erfasst.
So unterschiedlich beide mit Sprache umgehen, so teilen sie doch die Sicherung dieses Erbes in jeweils sprachlich vorantreibender Hinsicht, der eine wissenschaftlich orientiert, der andere dichterisch; ebenso Benjamin und ebenso Arendt. Sie jedoch noch mehr vorantreibend als leidend wie etwa Kafka. Doch war es Arendt, die seine Werke in New York publizierte, ebenso die Benjamins, mit dem sie über ihren ersten Ehemann, Günther Stern, verwandt war. Sie nahm sich also auch dieses frischen Erbes an. Und nicht nur das. Arendt hielt, wie vielleicht keine zweite, Vernunft und Gefühl, das sie „Herz“ nennt, in ihrem Denken stets verknüpft.
Maja Wicki-Vogt hat sie bereits in ihrem Band Kreative Vernunft eingehend vorgestellt, deshalb hier nur das Fazit des Essays, das in Anlehnung an Aristoteles’ dianoethische Tugenden im Buch 4 der Nikomachischen Ethik ihre Perspektive nochmals verdeutlicht: „Es ist am Verstand, das Herz zu befragen, was sinnlos oder schlecht ist, damit die Vorstellungskraft, welche Hand in Hand mit dem Verstehen wirkt, den Mut erwachen lässt, Nein zu jeglichem Erstarren des Bewusstseins respektive des Gewissens zu sagen, Ja zum Widerstand gegen Unterwerfung und Destruktivität. Es geht letztlich darum, ein Recht wahrzunehmen, das jedem Menschen durch die mit der Geburt einsetzende Freiheit zusteht, sich aufzurichten und ein Stück festen Bodens zu finden, das einen Neubeginn ermöglicht, sowohl in den privaten Beziehungen wie im politischen Handeln.“ (S.226) Es ist diese Fähigkeit, die Maya Wicki-Vogt in ihrem zuvor erwähnten Band Kreative Vernunft nennt.
Maja Wicki-Vogt, Erbschaften ohne Testament. Über Freiheit und Unfreiheit im persönlichen Werden. Essays zu einer dialogischen Kultur, Zürich 2014 (edition 8), 352 S.
* Eine gekürzte Version dieses Textes erschien im P. S. vom 3. Juli 2014.