Als ich Dala eröffnete, dass seine zwei Zimmernachbarn in der Dreizimmerwohnung ein Algerier und ein Türke sein werden, erschrak er und sagte unvermittelt: «Aber das geht doch nicht. Sie werden mich, den Schwarzhäutigen, nicht akzeptieren.» Diese spontane Reaktion hat mich überrascht und an Ryad Assanis Roman erinnert: «Wir können das Elend nicht besiegen. Es liegt uns im Blut, es lässt unsere Herzen schlagen. … Unsere schwarze Haut ist dieses Elend», sagt der Held des Romans.
Die Beziehung zwischen Schwarzen und Weissen ist aufgrund der kolonialen Geschichte auch heute noch eine zerstörerische, selbst wenn sie ohne Gewalt und Arglist eingegangen wird. Sie ist voller unklärbarer Missverständnisse. Diese ereignen sich meistens nicht verbal in den gegenseitigen identitätsstiftenden Spiegelungen, auch bei Weissen, die sich als nicht-rassistisch betrachten.
Weisse Überheblichkeit erfolgt nicht selten, wenn Weisse nach einer schmeichelhaften Spiegelung ihres lädierten Selbstbildes bei Schwarzen und ImmigrantInnen suchen. Unterschichts-MigrantInnen lesen in der Regel die Wünsche von den Augen ab und legen Höflichkeiten wie Balsam auf die wunden Stellen der Anerkennungsbedürftigen. Das gehört zu ihrer Überlebensstrategie. Assani hingegen hält in seinem Roman Iman den Finger auf die wunden Stellen, welche der Austausch bei Schwarzen hinterlassen kann.
In den letzten acht Jahren, während denen ich unzählige Ausschaffungshäftlinge besucht habe, stellte ich immer wieder die Frage: «Weshalb nehmt Ihr all die Erniedrigungen und Gefahren in Kauf und zieht sie einer Rückkehr in Eure Heimat vor?» Ich habe nie eine einleuchtende Erklärung erhalten. Ich habe mir dann selbst eine zurechtgelegt, nämlich eine ökonomische. Mit den unzähligen kleinen und kleinsten Remissen an die Angehörigen gelingt es den UnterschichtsmigrantInnen tatsächlich, die Armut der Hinterbliebenen zu dämpfen. Sie führen wohl unter widerlichen Bedingungen den erfolgreichsten Kampf gegen die Armut, während die Zuwanderungsländer lediglich die Armen bekämpfen. Der Roman von Ryad Assani gibt jedoch noch eine andere Antwort auf meine brennende Frage.
Das Buch enthält die Geschichte einer tiefen Freundschaft zweier Jugendlichen, erzählt aus der unterschiedlichen Optik der in diese Freundschaft involvierten Personen. Die Ich-Erzähler wechseln von Kapitel zu Kapitel, der Erzählstrang bleibt gleich, doch die Wahrnehmungen und Reflexionen variieren mit den Erzählenden. Obwohl in der ganzen Geschichte nur ein Europäer und eine Europäerin sehr schemenhaft und ausschliesslich in der Rolle von weissen Liebhabern auftreten, dreht sich die Geschichte um das Zerstörerische, das die beiden Weissen in den Beziehungen unter Schwarzen auslösen.
Der Haupterzähler überlässt seinem liebsten Freund die von ihm über alles geliebte Frau, um ihn von der Auswanderung nach Europa abzuhalten, und verzehrt sich dabei vor Eifersucht. Doch der Freund lässt sich von seinem Auswanderungsplan nicht abbringen: Er gesteht zwar ein, vor einer desillusionierenden Ankunft in Europa Angst zu haben, sagt aber: «Selbst wenn ich dort krepiere, ist mir das immer noch lieber, als weiter hier zu leben.» Der enttäuschte Freund folgert daraus: «Mir ging auf, wie viel Macht die Weissen über uns haben. … Heute wie zur Zeit der Sklaverei beruht ihre Stärke darauf, dass sie alles kaufen können. Einen Menschen beherrscht man am besten, indem man das kontrolliert, was ihn glücklich macht. Die Weissen beherrschen uns, indem sie unsere eigenen Träume verkaufen.»
Ryad Assani-Razaki: Iman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Klaus Wagenbach Verlag. Berlin 2014. 320 S.