Das Ende des Kalten Krieges war nicht nur für die direkt betroffenen Staaten eine historische Zäsur, sondern hatte auch dramatische Auswirkungen für diejenigen Länder, die damals zur ‹Dritten Welt› gezählt wurden. Das begann schon bei den Begriffen: Wenn die Zweite Welt verschwand, dann machte die Konzeption einer Dritten keinen Sinn mehr. Und mit der Auflösung der Blöcke wurde auch das Selbstverständnis der Blockfreien obsolet. Vor allem aber wurde deutlich, dass weder die kapitalistische Marktwirtschaft, noch das realsozialistische Gegenmodell die armen Länder und ihre Bevölkerungen aus der ‹Unterentwicklung› geführt hatten.
In dieser Phase des globalen Umbruchs veröffentlicht der deutsche Politikwissenschaftler und Entwicklungsexperte Ulrich Menzel eine Reihe von Beiträgen zum «Ende der grossen Theorie», die gesammelt 1992 erscheinen. «In selbstkritischer Absicht» wird der Stand der Disziplin präsentiert, die Ideengeschichte der Entwicklungstheorien aufgearbeitet und mit konzisen wissenschafts- und wirtschaftshistorischen Exkursen angereichert. Fazit: Sowohl die vorherrschenden Modernisierungstheorien wie auch die kritischen Ansätze der Dependencia-Theorie und der Weltsystemanalyse sind letztlich (nur) Varianten einer primär auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Vorstellung von Entwicklung. Je nach ideologischer Ausrichtung und geopolitischer Konstellation werden seit dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichen Phasen einmal eher marktliberale, dann wieder staatsinterventionistische Rezepte verkündet. Einige Staaten und ihre Bevölkerungen schafften es in den vier Entwicklungsdekaden bis zur Schwelle oder auch darüber, andere blieben arm oder verelendeten gar noch mehr.
Die Perspektiven waren Anfang der 1990er-Jahre ungewiss (und sind es weiterhin). Die aufkommende Ökologie-Debatte liess erahnen, dass Wachstum vielleicht nicht für alle in gleichem Masse erreicht werden kann. Geopolitisch war bereits der Aufbau eines Islam-Feindbildes durch die USA zu erkennen («Kreuzzugmotiv»), wohl zu spekulativ hingegen das Szenario einer «neuen Trilateralen» (USA-Japan-BRD). Unterschätzt wurde zudem der rasante Aufstieg Chinas zur ressourcenhungrigen, neokolonialen Wirtschaftsmacht. Zweifellos richtig war jedoch der Befund einer weitverbreiteten Ratlosigkeit. An diesem Punkt vollzog Menzel eine entwicklungspolitische Kehrtwende, forderte globale Sozialhilfe und Sozialpolitik statt Entwicklungshilfe. Der Vorschlag, in den Grundzügen bereits zehn Jahre früher vom schwedischen Ökonomen Gunnar Myrdal (1) lanciert , war radikal: Angesichts der unfassbar grossen Not vieler Menschen und der Erfolglosigkeit bisheriger Strategien bleibe nur die direkte Versorgung der marginalisierten Bevölkerungsgruppen, möglichst unter Umgehung der korrupten lokalen Eliten und wenn nötig in Verbindung mit militärischen Interventionen sowie internationaler Treuhandschaft über bestimmte Gebiete: «In den westlichen Industrieländern ist es offensichtlich möglich, auch auf Dauer einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, der aus diversen Gründen nur eine Existenz am Rande der Gesellschaft führt, durch sozialpolitische Massnahmen soweit zu alimentieren, dass er wenigstens ein einigermassen menschenwürdiges Leben führen kann. Dieser Ansatz muss um die internationale Dimension erweitert werden.» (Menzel 1992: 208). Der Vorschlag war ein Tabubruch und verfehlte seine Wirkung nicht. Es folgten Debatten in Zeitungen und Zeitschriften, bis hin zu einer «Neubewertung der Entwicklungstheorie» (2). Menzel selbst griff einige Kritikpunkte in einem ergänzenden Kapitel zu seiner Aufsatzsammlung auf und führte seine Position weiter aus.
Ich habe die Analysen und Thesen von Ulrich Menzel in einer Phase der beruflichen Weichenstellungen gelesen, stand zwischen Studienabschluss, ersten Praxiserfahrungen in Entwicklungsorganisationen und der Arbeit an meiner Dissertation zur internationalen Menschenrechtsbewegung. Bis dahin hatte ich mich in den von ihm nachgezeichneten Paradigmen einigermassen klar verorten können, neigte der dependenztheoretischen Weltsystemtheorie zu, wenn auch mit Zweifeln über deren praktischen Nutzen und wenig Glauben an die Weltrevolution. Die Texte haben mich in einem positiven Sinne verunsichert und sie tun es auch heute noch. Einerseits wirken sie paternalistisch und resigniert, andererseits wird konsequent weltgesellschaftliche Verantwortung eingefordert. Die «Provokation», wie der Autor seine Vorschläge selbst nennt, zwingt zu einem grundsätzlichen Nachdenken über internationale Hilfe.
Kritik ist in den letzten 20 Jahren vor allem an der staatlichen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit häufig geäussert worden: Von rechts kommt der Vorwurf der Ineffizienz eines vor allem sich selbst alimentierenden bürokratischen Apparates, von links werden die Programme als knauserig und systemerhaltend denunziert. Die eine Seite fordert Reduktion oder gar Streichung der Hilfsgelder, die andere deren massive Aufstockung. Periodisch bündeln die privaten Hilfswerke ihre Stimmen, verfassen Analysen und empfehlen konkrete Verbesserungen. (3) Und wenn die Zeit reif ist, haben neue Vorschläge vielleicht tatsächliche eine Chance. (4) Wenn sich Ansätze zu einer globalen Sozialpolitik ausmachen lassen, so scheint dies jedenfalls eng mit der Erstarkung einer internationalen Zivilgesellschaft verknüpft zu sein. (5)
Wo stehen wir heute? Gemessen an den Millennium Development Goals (MDG) wurden in den letzten Jahren Fortschritte erzielt: Die Säuglingssterblichkeit ist zurückgegangen, die Einschulungsraten sind angestiegen, die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen hat sich reduziert. Die Statistiken der UNO und ihrer Unterorganisationen liefern jedoch weiterhin schockierende Zahlen: 2014 hungern 842 Millionen Menschen, über 50 Millionen sind auf der Flucht. Ob ein System globaler Sozialhilfe diese Not lindern könnte, bleibt dahingestellt. Die multilateralen Agenturen sind schwach, ihre Hilfsprogramme zugunsten der leidenden Bevölkerungen wichtig aber chronisch unterfinanziert. Die Arbeit von privaten Hilfswerken macht Mut, ist jedoch oft nicht mehr als einen Tropfen auf den heissen Stein. Die Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft gegenüber den Kriegen und Konflikte in Syrien und in Gaza, in der Ostukraine, im Südsudan, in Nordnigeria und anderswo ist bedrückend. Von einer solidarischen Weltgesellschaft sind wir auch im Zeitalter der weltumspannenden Information weit entfernt. Globales Twittern ersetzt nicht die kritische Debatte darüber, was wir mit ‹Entwicklung› oder ‹internationaler Zusammenarbeit› überhaupt meinen. Vor allem aber – und darauf zielt in meinem Verständnis die Kritik von Menzel auch heute noch ab – müssen wir uns daran messen lassen, wie gut wir die schwächsten Mitglieder unserer Gemeinschaft schützen. Weiterhin sterben jeden Tag 18’000 Kinder, fast die Hälfte davon an Unterernährung. Hier zeigt sich das Scheitern nicht nur in der grossen Theorie, sondern vor allem in der alltäglichen Praxis.
1) Gunnar Myrdal: Relief instead of development aid. In: Intereconomics. 16 (2), 1981, 86-89.
2) Vgl. den Beitrag von Reinhold Thiel in dem von ihm herausgegebenen Band Neue Ansätze zur Entwicklungstheorie. Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung DSE, Bonn 1999.
3) So beispielsweise: Peter Niggli: Der Streit um die Entwicklungshilfe. Mehr tun – aber das Richtige! Zürich: Rotpunktverlag 2008.
4) Aktuell: rechteohnegrenzen.ch
5) Walter Hein: «Globale Sozialpolitik statt Entwicklungshilfe» – Menschenrechte, globale Zivilgesellschaft und die Kontrolle von «Risiken aus dem Süden», In: Hummel, H. & Loges, B. (Hrsg.): Gestaltungen der Globalisierung. Festschrift für Ulrich Menzel. Opladen: Budrich UniPress 2009.
Ulrich Menzel: Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der grossen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (edition suhrkamp 1718, Neue Folge Band 718).