«Die Don Quichotes der Reaktion haben viele unserer Luftballons aufgeschlitzt, die Rauchgase haben sich verflüchtigt, die Aerostate sind niedergegangen, und wir schweben nicht mehr wie der Geist Gottes über den Wassern, mit Hirtenflöten und prophetischem Lobgesang, sondern klammern uns an die Bäume, die Dächer und an die feuchte Mutter Erde. » (Alexander Herzen, Mein Leben)
Mitte der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts waren wir Bewegten ermüdet und enttäuscht, dass unsere Revolte, die die Schweiz durchschüttelte, durch äussere Repression und innere Kälte ihren kreativen Schwung zu verlieren begann. In dieser Zeit der Sinnkrisen fiel uns eine kleine Schrift von Alexander Herzen (1812-1870), von Hans Magnus Enzensberger bearbeitet, in die Hände, die wir uns immer wieder gegenseitig vorlasen. Über die Verfinsterung der Geschichte hiess sie und war von Enzensberger für das Jahr 1984 mit folgender Begründung eingerichtet worden: «Jede Generation glaubt an die Einzigartigkeit ihrer Sinnkrisen. Herzens Dialog zerstört diese Einbildung, […] macht ihn zum Nothelfer von höchster Aktualität: mit rücksichtsloser Analyse und mit offensiver Phantasie.»
Das Interesse am russisch-schweizerischen Autoren Herzen, auf dessen Text Vom anderen Ufer die Schrift beruhte, war von nun an bei mir geweckt. Nach der Lektüre verschiedenster seiner Bücher, gelang es mir endlich nach längerer Suche, die 1962 im DDR Aufbau Verlag erschienenen drei Bände der deutschen Ausgabe von Herzens Memoiren zu ergattern. Obwohl einiges nicht mehr zeitgemäss und kritisierbar ist, sind die Memoiren für mich ein wichtiges Werk geblieben, aus dem ich immer wieder schöpfe. Es gibt für mich nur wenige vergleichbare literarische, philosophische, geschichtliche und zugleich politische Werke, die sich wie Herzens Memoiren der Verteidigung der individuellen Freiheit verschrieben haben, ohne gleichzeitig das gesellschaftliche Ganze aus den Augen zu verlieren. Für Herzen ist eine gerechte und herrschaftsfreie Welt kein zukünftiges Heilsversprechen, sie ist für ihn die individuelle Möglichkeit, im Hier und Jetzt durch Verweigerung und Widerstand sich zusammen mit anderen zu befreien, zusammen den Versuch der Freiheit und Gerechtigkeit zu wagen, um damit ein Stück selbstbestimmtes Leben zu finden. Haben wir doch ausser diesem einen Leben kein anderes, wie Herzen meint. Herzen beschreibt in seinen Memoiren ein Gespräch mit Louis Blanc, einem der Väter des französischen Sozialismus. Auf die Aussage Blancs, dass das Leben des Menschen eine erhabene soziale Pflicht sich für die Gesellschaft zu opfern und das ganze Ziel, die Bestimmung einer Person, der Wohlstand der Gesellschaft sei, entgegnet ihm Herzen: «Der wird nie erreicht werden, wenn alle nur opfern und niemand geniessen wird.» Herzen übersieht dabei die menschlichen Schwächen und Widersprüche nicht, weil er mit seiner Kritik alle Ideale, alle Dogmen – und seien es seine ureigensten Glaubenssätze – immer wieder in Frage stellt. Er bedauert denn auch, dass nur wenige ihren uneingeschränkte[n] Glaube[n] an den Erfolg, zugunsten einer selbstkritischen Lageanalyse und Zielsetzung, aufgeben würden: «Statt dessen begnügte man sich mit einer Fahne, einem Briefkopf, einem Gemeinplatz… Recht auf Arbeit… Aufhebung des Proletariats… Republik und Ordnung… Brüderlichkeit und Solidarität aller Völker… Und wie soll man das alles organisieren, verwirklichen? Das – kommt alles später. Wenn man erst einmal an der Macht ist, wird das übrige durch Dekrete, durch Plebiszite erledigt. Und wird der Gehorsam verweigert – «Grenadiers, en avant, aux armes! Pas de charge… baïonnettes!»
Dass ein solches Buch in einer Diktatur und nach den Arbeiteraufständen von 1953 in der DDR erscheinen konnte, war nur möglich, weil Lenin – ein begeisterter Leser Herzens – einst Herzen für die Bolschewiki kanonisierte: «Indem das Proletariat Herzen feiert, lernt es an seinem Beispiel die gewaltige Bedeutung der revolutionären Theorie verstehen […].» Diese Paradoxie, dass die Schriften Herzens selbst unter Stalin publiziert werden konnten, betont denn auch Isaiah Berlin, einer der einflussreichsten Philosophen des Liberalismus des letzten Jahrhunderts. Berlin, dessen Werk ohne die Memoiren Herzens, wie er meint, nicht zu dem geworden wäre, was es wurde, äussert sich über sie: «Seine Autobiografie ist vielleicht das Beste, was ich je gelesen habe […]. Herzen hat mich wirklich auf den Geschmack an der Geschichte sozialer und politischer Ideen gebracht. Eigentlich hat mit ihm alles angefangen.»
Ein Werk, das solch unterschiedliche Personen wie Lenin und Berlin beeinflusste und selbst Franz Kafka tagelanges Leseglück brachte und ihn zwang, sich «irgendwie von ihm weiterführen zu lassen.», ein solches Buch bleibt auch für mich eine zeitlose Quelle für ein undogmatisches, freies Denken für eine bessere Welt.
Alexander Herzen: Mein Leben. Memoiren und Reflexionen. Berlin 1962.