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Einleitende Bemerkung
Die Pandemie wurde vor nunmehr gut zwei Jahren von der WHO als offiziell beendet erklärt. Was noch nicht beendet ist, ist die Debatte um die Frage, welche Begrifflichkeiten aus der politischen Philosophie angemessen sind, um die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und deren politische und soziale Auswirkungen theoretisch adäquat zu erfassen.
Im Folgenden teilen wir mit unseren Leser:innen die deutsche Übersetzung eines Vortrags von Jacques Rancière, den er am 4. April 2022 im Rahmen eines Seminars zum Thema „Pandémie et (in)égalité“ am CRESPPA (Centre de Recherches Sociologiques et Politiques de Paris) gehalten hat. Wir haben Rancières Vortrags ins Deutsche übersetzt, weil er ein unseres Erachtens gutes Beispiel darstellt, wie aus der Perspektive der politischen Philosophie die staatlichen Maßnahmen kritisch hinterfragt werden können, ohne dabei die Unvorhersehbarkeit und Kontingenz des pandemischen Ereignisses zu leugnen. Es sind gerade diese Unvorhersehbarkeit und Kontingenz, auf die sich Rancière bezieht, um die inflationäre Verwendung der Begriffe von „Bio-Macht“ und „Ausnahmezustand“ bei Giorgio Agamben zu kritisieren. Rancière spricht von der Verstärkung, im Lauf der Pandemie, eines „Konsens- und Sicherheitsparadigmas“, das strukturell der Logik der Ungleichheit folgt, indem es die Fähigkeit der Vielen beeinträchtigt, kollektiv zu denken und zu handeln. Anders aber als für Agamben, für den die Verstärkung des Paradigmas von Bio-Macht und Ausnahmezustand durch die Pandemie ein Zeichen der Stärke der Regierungen war, wurde für Rancière die strukturell ungleiche Logik von Konsens und Sicherheit gerade aufgrund der Schwäche der Regierungen verstärkt. Konfrontiert mit dem unvorhergesehenen und kontingenten Ereignis der Pandemie, konnten die Regierungen der Krisensituation nur mit einer Bricolage an improvisierten Maßnahmen begegnen, die die normale Ungleichheit unweigerlich verschärfen mussten.
Wir möchten uns hier beim Kollektiv „Silure – Centre de Lutte Autonomes“ aus Genf bedanken, uns die Transkription von Rancières Intervention auf Französisch zur Verfügung gestellt zu haben.
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Vortrag von Jacques Rancière vom 4. April 2022 im Rahmen eines Dialogs mit Judith Butler beim Seminar “Pandemie und (Un-)Gleichheit (Paris)”:
Ich werde über die Auswirkungen der Pandemie sprechen, d.h. auch über die Auswirkungen der staatlichen Behandlung der Pandemie auf die Frage der Ungleichheit. Ich werde also nicht so sehr über ihre Auswirkungen auf die Entwicklung von Ungleichheiten sprechen. Natürlich will ich die Bedeutung dieser Auswirkungen nicht ignorieren, die sich unbestreitbar erwiesen haben. Zahlreiche Studien haben bestätigt, dass die Pandemie und die Lockdown-Maßnahmen vor allem die Schwächsten belastet haben.
Die Bevölkerung in armen Ländern, der die Impfstoffe vorenthalten werden, die sich die reichen Länder unter den Nagel gerissen haben, die Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen, die isoliert und ohne Kontakt zu ihren Angehörigen leben müssen, die für sie eine wesentliche Stütze sind, die Pflegekräfte, die überarbeiteten Krankenhausangestellten und die prekär Beschäftigten, die arbeitslos geworden sind, Familien mit schlechten Wohnverhältnissen, die sich an die Notwendigkeit von digitaler Fernarbeit (Homeoffice) anpassen und gleichzeitig die Kinder zu Hause behalten müssen, Frauen – die ersten Opfer des Rückzugs des gesellschaftlichen Lebens auf einen häuslichen Bereich, der noch weitgehend von der männlichen Macht und der ungleichen Arbeitsteilung strukturiert wird. In all diesen Bereichen hat die pandemische Situation also eine Verstärkung der Ungleichheiten, die Teil der gegenwärtigen Weltordnung ist, sowohl ans Licht gebracht als auch verschärft.
Ich werde aber nicht darüber sprechen, weil der eigentliche Gegenstand meiner Arbeit nicht die Ungleichheiten, sondern die Ungleichheit und die Gleichheit als solche sind. Diese Fokussierung auf den Singular mag den guten methodologischen Grundsätzen der Sozialwissenschaften zuwiderlaufen. Diese besagen, dass man der Untersuchung von Ungleichheiten den Vorzug geben sollte, weil es sich dabei um messbare Verhältnisse handelt, die möglicherweise durch reformistische Politiken, die eben durch die Daten der Wissenschaft belehrt werden, verändert werden können. Mein Standpunkt ist tatsächlich umgekehrt: Er lautet, dass die Entwicklung von Ungleichheiten nur als Effekt eines globalen Prozesses der Produktion und Reproduktion von Ungleichheit denkbar ist. Das habe ich von Joseph Jacotots Gedanken zur intellektuellen Emanzipation gelernt. Gleichheit und Ungleichheit sind keine Maße. Sie sind keine Verhältnisse zwischen Größen, die in die eine oder andere Richtung fluktuieren. Sie sind Prozesse, und zwar antagonistische Prozesse. Konkrete Wege, die Realität einer gemeinsamen Welt zu konstruieren. Wege, die Welt zu gestalten, welche antagonistischen Prinzipien Effektivität verleihen und spezifische Leidenschaften nähren, von denen sie wiederum genährt werden.
Aus dieser Perspektive geht die Frage weit über die Tatsache hinaus, dass die Pandemie die Menschen je nach ihrem Alter, ihrer körperlichen Anfälligkeit, ihrer Position auf der sozialen Leiter oder dem Land oder Kontinent, in dem sie leben, ungleichmäßig betroffen hat. Die Frage ist, wie die Pandemie und die Maßnahmen unserer Regierungen zu ihrer Bekämpfung dazu beigetragen haben, eine Welt zu festigen, die nach der Logik der Ungleichheit gedacht und organisiert ist.
Um also diese ungleiche Logik in ihrer allgemeinsten Form zu denken, muss man auf eine scheinbar paradoxe Weise vorgehen. Man muss sich weniger mit der Ungleichheit der Auswirkungen der Pandemie als vielmehr mit ihrer Gleichheit befassen. Man sollte sich weniger dafür interessieren, was die Pandemie mit den Schwächsten macht, als vielmehr dafür, was sie mit allen gleichermaßen macht. Das bedeutet auch, weniger darauf zu achten, was die Pandemie getan hat, um unsere Schwäche, Unsicherheit und Verletzlichkeit zu erhöhen, als vielmehr darauf, was sie getan hat, um unsere Stärke zu verringern, genauer gesagt, um unsere Fähigkeit, als Gleiche zu handeln, oder unsere Kraft, eine Welt der Gleichen zu schaffen, zu verringern.
Aus dieser Sicht könnte ein schöner Ausgangspunkt für Überlegungen der von Slavoj Žižek zitierte Satz einer chinesischen Journalistin sein: „Wenn China der freien Meinungsäußerung einen Wert beimessen würde, gäbe es keine Coronavirus-Krise“. Dieser Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erscheint absurd, wenn man ihn wörtlich nimmt. Es kann kein Kausalzusammenhang zwischen der Verbreitung eines Virus und der Meinungsfreiheit konstituiert werden. Diese Beziehung gewinnt jedoch an Bedeutung, wenn man nicht über das Virus als solches, sondern über die pandemische Siutation als Regierungsobjekt spricht. Die pandemische Situation bringt ein grundlegendes antagonistisches Verhältnis zwischen zwei Logiken auf die Bühne. Die egalitäre Logik, die auf der Annahme beruht, dass gewöhnliche Menschen in der Lage sind, gemeinsam zu denken, zu diskutieren und zu handeln. Und die ungleiche Logik – die von der chinesischen Regierung radikalisiert wurde – die Logik der Unfähigkeit derselben gewöhnlichen Menschen, Situationen zu verstehen und Verhaltensweisen anzunehmen, die diesem Verständnis entsprechen. Und natürlich gibt es verschiedene Wege, diese Ungleichheitslogik umzusetzen. Unsere Regierungen haben nicht diejenigen ins Gefängnis gesteckt, die Informationen oder Warnungen über die Gesundheitssituation weitergegeben haben. Sie knebeln das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht grundsätzlich. Andererseits beruhen auch sie auf der Annahme, dass die meisten Menschen nicht in der Lage sind, mit jeder Situation umzugehen, die ein Risiko für die Allgemeinheit darstellt. Sie beanspruchen also das Monopol auf die Kompetenz, wie mit solchen Situationen umzugehen ist. Natürlich auch auf die Gefahr hin, dass sie uns mehrmals täglich im Radio sagen: „Alle zusammen gegen das Virus“.
Dieses Monopol auf die Behandlung von Situationen wird durch zwei strukturierende Begriffe ausgeübt. Den der Unsicherheit und den des Konsensus. Unsicherheit ist die Kategorie, in die jede Situation fällt, die die normale Ordnung der Dinge stört. Finanzkrise, soziale Proteste, Terroranschläge, Gesundheits- oder Klimakatastrophen usw.
Es ist also ein Begriff, der all diese Phänomene ununterscheidbar macht, der die Bedrohungen, die auf der Bevölkerung lasten, und die Bedrohungen, die diese Bevölkerung auf die Staatsmacht ausübt, als gleichwertig ansieht. Er macht beide zum Gegenstand ein und derselben spezifischen Sorge, die nur von denjenigen, die die Staatsmacht ausüben, und von den Experten, deren Wissen ihre Entscheidungen leitet, in die Hand genommen werden kann. Bei dieser Entscheidungsfindung kommt der zweite strukturierende Begriff zum Tragen, der des Konsensus. Konsens bedeutet nicht die Einigung, die sich aus einer Diskussion ergibt. Er bedeutet die Zustimmung zu der Tatsache, dass es nichts zu diskutieren gibt, weil die Objektivität der Fakten nur Platz für eine einzige Analyse und eine einzige Entscheidung lässt, die einzige Entscheidung, die von der Notwendigkeit diktiert wird, wie sie von der Wissenschaft anerkannt wird.
Die durch diese beiden Begriffe – Unsicherheit und Konsens – definierte Logik ist somit in doppelter Hinsicht ungleich, in doppelter Hinsicht die Fähigkeit aller verneinend. Sie strukturiert eine Gemeinschaft, die durch das Privileg einer unendlich kleinen Minderheit definiert ist, die sich selbst als einzig denk- und handlungsfähig betrachtet, also ein Privileg über eine riesige Mehrheit, die auf den Rang einer möglicherweise bedrohlichen, aber auf jeden Fall immer bedrohten Bevölkerung reduziert ist. Und sie rechtfertigt diese Macht mit der Autorität der Wissenschaft. Nun ist die Wissenschaft in unseren Gesellschaften drei Dinge gleichzeitig, drei Dinge, die untrennbar miteinander verbunden sind.
Erstens ist es eine Sammlung von geprüftem Wissen, das sich auf bestimmte Bereiche bezieht. Zweitens ist es eine Institution, in der dieses Wissen produziert und angewendet wird. Eine Institution, die in die gesellschaftliche Hierarchie eingebunden ist und als solche Autorität ausübt, nicht nur über diese eigenen Gegenstände, sondern über das gesellschaftliche Leben im Allgemeinen und über die staatlichen Entscheidungen, die es regeln. Und drittens: Wissenschaft ist die Ideologie der Wissenschaft. Nicht die Ideologie als das Andere der Wissenschaft in der Art Althussers. Sondern die Ideologie der Wissenschaft. Die Ideologie, die ihre gesellschaftliche Autorität und die staatlichen Autoritäten legitimiert, die sich auf sie berufen. Die so verstandene Ideologie der Wissenschaft schreibt der Wissenschaft im Allgemeinen ein allgemeines Wissen zu, das über das von dieser oder jener Einzelwissenschaft produzierte Wissen hinausgeht. Dieses allgemeine Wissen ist das Wissen von der Notwendigkeit. Die Möglichkeit, das zu formulieren, was notwendig ist. Ein Wissen also, das geeignet ist, auf jede Situation angewendet zu werden und die Konsensantwort als einzig mögliche Antwort zu verordnen. Daher ist die ideologische Autorität der Wissenschaft aus dieser Perspektive grundsätzlich die Autorität der Idee der Notwendigkeit, d.h. die Autorität, die besagt, dass es keine Wahl gibt.
Es ist diese Autorität, die – normalerweise kann man sagen – in der gewöhnlichen Artikulation zwischen Macht und Wissenschaft funktioniert, die normalerweise die einvernehmliche Ordnung regelt. Die Artikulation der Staatsmacht mit der Wirtschaftswissenschaft, d. h. natürlich mit einer bestimmten Wirtschaftswissenschaft, die als objektive wissenschaftliche Notwendigkeit das Gesetz eines klar definierten Wirtschaftssystems, das Gesetz des verabsolutierten und globalisierten Kapitalismus, durchsetzt.
Das Hauptziel dieses Systems, was unsere Länder betrifft, ist die Isolierung der Individuen und die Zerstörung ihrer kollektiven Fähigkeit zu handeln und eine Intelligenz zum Ausdruck zu bringen, die allen gehört. Das bedeutet die Zerstörung der großen Produktionseinheiten, die maximale Individualisierung der Arbeitsformen auf verschiedenen Wegen, die Einschränkung der Arbeitsrechte, der Formen der horizontalen sozialen Solidarität und der öffentlichen Dienstleistungen. Was die Autorität der Wissenschaft auf diese Weise nährt, ist die Ersetzung eines solidarischen sozialen Gefüges durch eine Vielzahl von Individuen, die angesichts der globalen Finanzmacht isoliert sind. Unsere Staaten tragen dazu bei, indem sie die Formen des Schutzes von Arbeitsrechten und die Systeme der sozialen Solidarität zerstören und die Freiheit, sich zu Demonstrationen zu versammeln, immer weiter einschränken. So wird die Isolation des Einzelnen gegenüber der Finanzmacht durch seine Isolation gegenüber der Staatsmacht ergänzt.
In diesem Kontext ist die Epidemie aufgetreten. Das bedeutet, dass sie nach der Logik des Sicherheits- und Konsensparadigmas behandelt wurde, d. h. durch die Leugnung jeglicher Fähigkeiten der Vielen, durch die radikale Zerstreuung der Individuen und die Konzentration jeglicher Entscheidungsgewalt über das kollektive Leben in den Händen der einzigen Staatsmacht, die sich von den Gutachten der Wissenschaft inspirieren lässt.
Auf der einen Seite ist diese Behandlung homogen mit der Funktionsweise des konsensualen Sicherheitsparadigmas, das unsere Gesellschaften regiert. Andererseits überschreitet sie eindeutig die übliche Ausübung dieses Paradigmas und steigert damit seine Macht.
Es ist dieses Verhältnis zwischen der Normalität eines Mechanismus und seiner außergewöhnlichen Radikalisierung, das es zu bedenken gilt. Und im Zentrum dieses Verhältnisses steht die Rolle, die die Autorität der Wissenschaft spielt. Das Besondere an dieser Situation ist, dass sich die Autorität der Wissenschaft hier auf die radikalste Autorität stützt, die auf das Leben der Menschen einwirkt, nämlich den Tod. Der Tod, nicht metaphorisch, sondern real. Nicht der Tod, der als wahrscheinliche Folge einer bestimmten Verkettung von Ursachen und Wirkungen angekündigt wird, sondern der Tod, der plötzlich eintritt, ohne vorhergesehen worden zu sein.
Bis dahin stützte sich die Konsenslogik hauptsächlich auf die Wirtschaftswissenschaft, die als die Wissenschaft von den materiellen Mitteln zur Sicherung des Lebens der Gesellschaften betrachtet wurde. Aber gerade diese Wissenschaft ist eindeutig eine bestimmte Wirtschaftswissenschaft, deren Gültigkeit in der Theorie umstritten war und in der Praxis angezweifelt wurde. Die Notwendigkeit einer Fabrikschließung, einer Beschneidung der Arbeitnehmerrechte, eines Abbaus von Sozialleistungen – sie konnte immer abgelehnt werden, zurückgeworfen auf ihren Status als bloße Wahlmöglichkeit im Dienste von Einzelinteressen, im Dienste der Interessen der größten Zahl. Und diese theoretische Ablehnung konnte von den betroffenen Gemeinschaften in die Tat umgesetzt werden. Damit reduzierte sich die Autorität der Wissenschaft in letzter Instanz auf die Fähigkeit der Finanz- und Staatsmächte, ihre Entscheidungen gegen diejenigen durchzusetzen, auf die sie abzielten.
Im Gegensatz dazu wird der Tod nicht bestritten. Und Kranke bilden keine Gemeinschaft. Was die Medizin betrifft, so wird sie in ihrer Rolle als Wissenschaft, die den menschlichen Körper vor Todesursachen schützt, nur am Rande in Frage gestellt. Die wichtigste Tatsache, die die ungleiche Logik der konsensualen Sicherheitsordnung verändert und intensiviert, ist also die Intervention im Dienste der doppelten Regierungs- und Wissenschaftsautorität des absoluten Herrschers – von dem Hegel spricht –, des einzigen Herrschers, der die absolute Autorität der Wissenschaft begründen kann, nämlich der Tod.
An diesem Punkt hat sich eine dominante Interpretation der pandemischen Ausnahme angeboten. Eine, die zwei wesentliche Begriffe ins Spiel bringt: die Interpretation der Autorität der Wissenschaft, die Biomacht, und die Interpretation ihrer Ausübungsart als Regierungsform, den Ausnahmezustand.
Eine kurze Untersuchung dieser beiden Begriffe, Biomacht und Ausnahmezustand, ist notwendig, wenn man über ihre Rolle in der Pandemiesituation nachdenkt. Diese Untersuchung muss meiner Meinung nach mit zwei Bemerkungen beginnen. Das Paar Biomacht und Ausnahmezustand folgt der gleichen Logik wie das Paar Sicherheit und Konsens. Ich meine, dass es wie dieses aus zwei Begriffen besteht, die die Besonderheit haben, dass sie völlig gleichgültig sind, völlig gleichgültig gegenüber der Einzigartigkeit der Ereignisse, auf die sie angewendet werden. In seiner heutigen allgemeinen Verwendung hat der Begriff Biomacht die Spezifik des Konzepts der Biopolitik völlig vergessen, das Michel Foucault einmal in seinem Seminar als Hypothese aufgestellt hatte. Jede Macht, die über das Leben von Menschen ausgeübt wird, kann nun als Biomacht bezeichnet werden. Und da jede Machtausübung auf die eine oder andere Weise das Leben der Menschen betrifft, werden die beiden Begriffe schließlich zu einfachen Synonymen. Und zu sagen, dass unsere Regierungen die Praktiken der Biomacht umgesetzt haben, heißt einfach, dass sie die Praktiken der Macht umgesetzt haben.
Dasselbe gilt meiner Meinung nach für den Ausnahmezustand. Diejenigen, die in dem Lockdown die Auferlegung des Ausnahmezustands sahen, hatten selbst jahrelang nicht aufgehört, uns zu erklären, dass dieser Ausnahmezustand das Wesen der modernen Macht ist und wir alle unter seinem Regime leben.
Unter diesem doppelten Aspekt ist das Pandemieereignis, das eine bestimmte Form der Macht aufzeigen soll, in Wirklichkeit ohne jede Einzigartigkeit. Aus diesem Grund konnte einer der Vertreter dieses Standpunkts, nachdem er zunächst die Realität der Pandemie verneint hatte, später erklären, dass es gleichgültig sei, ob sie real sei oder nicht, da ihr Status der eines einfachen Vorwands für die Einführung eines Ausnahmezustands sei.
Die Gleichgültigkeit gegenüber der Realität des Ereignisses bildet dann eine Einheit mit dem völligen Fehlen der Spezifität der Begriffe, die verwendet werden, um über seine Behandlung und insbesondere die Rolle der medizinischen Wissenschaft zu berichten. Es ist bekannt, dass Giorgio Agamben nicht gezögert hat, die Medizin auf eine reine „Gesundheitsreligion“ zu reduzieren. Eine „Religion der Gesundheit“, die in gewisser Weise die Religion Christi, des Erlösers, abgelöst hat.
Dennoch scheint mir, dass jedes Verständnis der pandemischen Situation und somit ihrer Ungleichheitseffekte die Berücksichtigung der Realität des Ereignisses und der Auswirkungen dieser Realität auf die Form der Ausübung der Macht der Wissenschaft selbst als Grundlage haben muss.
Von der Realität des Ereignisses auszugehen, bedeutet, von seiner Kontingenz auszugehen, es bedeutet, von seinem unvorhergesehenen Charakter auszugehen. Damit die Behandlung der pandemischen Situation eine Anwendung des Paradigmas der Biomacht hätte sein können, hätte sie die Folge einer lange geplanten Machtstrategie sein müssen, von Formen der spezifischen Aufmerksamkeit für die Gesundheit der Körper und für die Faktoren, die sie bedrohen. Die Bedingungen, unter denen die medizinische Autorität in der Pandemiekonjunktur ausgeübt wurde, waren jedoch genau das Gegenteil. Diese Vermutung traf nicht nur die Regierungen unvorbereitet, die in keiner Weise damit gerechnet hatten, sondern fand auch in einem Kontext statt, in dem das Gesundheitsmanagement unserer Regierungen weniger von den Daten der medizinischen Wissenschaft als vielmehr von denen der offiziellen Wirtschaftswissenschaft geleitet wurde. Die Wirtschaftswissenschaft hatte natürlich geplant, die Mittel für das Gesundheitswesen und damit die Kapazität der Krankenhäuser zu beschränken.
Kurz gesagt kann man sagen, dass die Autorität der Wirtschaftswissenschaft die Unfähigkeit der medizinischen Wissenschaft programmiert hatte, auf weitreichende Bedrohungen für die Gesundheit des Einzelnen zu reagieren. In diesem Rahmen wurde die Autorität der medizinischen Wissenschaft ausgeübt, insbesondere in unserem Land und in vielen europäischen Ländern. Sie wurde auf ein nicht vorhergesehenes Phänomen und unter Bedingungen der Unvorbereitetheit der Regierung ausgeübt. Daher beruhte die Machtausübung der Wissenschaft weniger auf der Anwendung ihrer Erkenntnisse als vielmehr auf der administrativen Autorität der Medizin und der ideologischen Autorität der Wissenschaft.
Die wichtigste Maßnahme, die von der von der Regierung ernannten wissenschaftlichen Behörde vorgeschlagen wurde – der Lockdown – wurde im Wesentlichen nicht durch die Macht der Medizin motiviert, sondern, man könnte sagen, durch ihre Ohn-Macht, die teils aus den Versäumnissen der Macht und teils aus ihren bewussten Entscheidungen resultierte. Die Zahlen, auf die sich die Experten bei ihrer Forderung nach Einschluss stützten, waren schlicht und einfach die Zahlen der Aufnahmekapazität der Krankenhäuser, die gerade durch die Haushaltsentscheidungen der Machthaber reduziert worden war. Der Lockdown, die große Maßnahme zur Bewältigung der Pandemie, wurde nicht als Umsetzung eines Willens zur Einsperrung durchgesetzt, sondern aufgrund des Mangels an anderen Formen der Prävention, weil es keine Masken, Tests oder Impfstoffe gab.
Es bleibt festzuhalten, dass diese Maßnahme [der Lockdown] tatsächlich angewendet wurde und dass sie tatsächlich zwei massive Folgen hatte. Die erste ist die faktische Isolation der Menschen. Die Menschen waren nicht nur nicht mehr in der Lage, ihren normalen sozialen Aktivitäten nachzugehen, sondern auch nicht mehr in der Lage, sich zu versammeln und gemeinsam zu handeln. Es ist also eine erhöhte Abhängigkeit von den beiden Mächten, die sich heute durch die Trennung der Individuen und die Privatisierung der sozialen Beziehungen auswirken, nämlich der Finanzmacht und der Staatsmacht. Die pandemische Situation zwang nicht nur den Einzelnen, zu Hause zu bleiben, sondern war auch – das ist die zweite massive Folge – eine Gelegenheit, Formen der Abhängigkeit zu verstärken, die über die Distanz und durch die Distanz ausgeübt werden. Es ist bekannt, dass die digitale Fernarbeit eine neue Gelegenheit gefunden hat, ihre doppelte Macht zu vergrößern. Erstens, die Unterwerfung des Einzelnen unter eine entfernte Autorität, ohne die Möglichkeit, eine Gemeinschaft zu bilden. Zweitens, die Verwischung der Grenzen der Arbeitszeit selbst. Es ist bekannt, dass der digitale Fernunterricht sich auch als eine Art Zukunftsmodell des Unterrichts etabliert hat, bei dem Wissensinhalte, die von Kommissionen oder Ad-hoc-Agenturen erarbeitet wurden, mithilfe von Computern vermittelt werden.
Diese Ausnahmesituation war also ein improvisiertes Labor für die Ausübung einer Art verstärkter Macht der dreifachen Autorität von Wirtschaft, Staat und Wissenschaft über die Individuen. Es bleibt festzuhalten, dass diese Ausnahmesituation in gewissem Sinne das Ergebnis einer Bricolage ist, die sich selbst nach der normalen Logik des Sicherheits- und Konsensparadigmas entwickelt hat, ohne von der Umsetzung eines Paradigmas der biopolitischen Ausnahme zu zeugen. Die Menschen aufzufordern, in ihren Häusern zu bleiben, ist nicht der beste Weg, sie einer Ausnahmemacht zu unterwerfen. Normalerweise wird die Sonderbefugnis in umgekehrter Form ausgeübt, d.h. wenn die Staatspolizei sich selbst in die Häuser der Menschen einlädt.
Um also die Verstärkung der gewöhnlichen Ungleichheitslogik als Eindringen eines neuen biopolitischen Paradigmas bezeichnen zu können, musste man sich weniger auf die Beschreibung der eingesetzten Machtmechanismen als auf die Behauptungen über ihre Auswirkungen auf die Individuen stützen. Damit die Biomacht bezeugt werden konnte, musste gezeigt werden, dass sie aktiv ist, nicht nur in den Entscheidungen der Macht, sondern in den Köpfen aller. Bekanntlich war genau dies der spezifische Gegenstand der Demonstration, die Giorgio Agamben in den verschiedenen Artikeln, die er der Pandemie gewidmet hat, durchgeführt hat. Die Biomacht, so Agamben, habe sich durchgesetzt, indem sie in den Menschen panischen Schrecken erzeugte und sie dazu brachte, alle ihre sozialen Beziehungen aufzugeben und sich freiwillig einer „Gesundheitsreligion“ zu unterwerfen. Ich zitiere zwei kurze Passagen aus einem seiner in einem Sammelband zusammengefassten Artikel:
Wir können ein Regierungsdispositiv, das sich aus der Verbindung der neuen Gesundheitsreligion mit der Staatsmacht und ihrem Ausnahmezustand ergibt, als Biosicherheit bezeichnen. Unsere Gesellschaft glaubt an nichts anderes mehr als an das nackte Leben. Es ist offensichtlich, dass die Italiener bereit sind, praktisch alles zu opfern, die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen, die Arbeit, die Freundschaften selbst usw., um eine Krankheit zu vermeiden, die zumindest im Moment statistisch nicht so schlimm ist.
Ich bin nicht gut darin, auf Italiener zu antworten, die von ihren Landsleuten auf die Schippe genommen werden. Dennoch scheint mir, dass diese Beschreibung ziemlich weit von der Realität entfernt ist, die wir in unseren Ländern erlebt haben. Wir haben dort kaum panikartige Verhaltensweisen erlebt. Statt einer bewussten Abkehr von sozialen Beziehungen sahen wir eher das Bemühen, diese aufrechtzuerhalten, soweit es die Situation zuließ.
Die Einhaltung der restriktiven Bedingungen – die sehr weit gefasst und allgemein waren –, die von der Regierung auferlegt wurden, wurde ebenso sehr von der Angst geleitet, die Gesundheit anderer zu gefährden, wie von der persönlichen Sorge um die Erhaltung der Gesundheit. Und die sogenannte „Gesundheitsreligion“ war vielmehr das Bewusstsein für die kritische Situation der Krankenhäuser und die Arbeit der Pflegekräfte. Mit anderen Worten: Die Art und Weise, wie die pandemische Situation unsere Gehirne ergriffen und unsere Unterwerfung unter die staatliche und medizinische Autorität befohlen hat – was tatsächlich reale Unterwerfungen sind –, die Art und Weise, wie das geschah, ist sowohl einfacher als auch subtiler, als es die Theoretiker der Biomacht wollen. Es ist eine Art des Gehorsams, die nicht auf Glauben, sondern auf Misstrauen beruht.
Ich meine, dass der Gehorsam die Form einer distanzierten Kooperation annahm, die nicht durch die Stärke eines Ausnahmezustands und einer salutistischen Ideologie hervorgerufen wurde, sondern vielmehr durch das Gefühl, dass unsere Regierungen versagten und die medizinische Institution nur begrenzt in der Lage war, die Situation zu bewältigen. Wir haben unseren Regierungen nicht aufgrund ihrer Stärke, sondern aufgrund ihrer Schwäche gehorcht. Wir taten dies in dem Bestreben, die Gefahr, die durch diese Schwäche für alle geschaffen wurde, nicht zu vergrößern. Mit anderen Worten – und hier schließe ich mich vielleicht Judith Butler an – wir taten dies aus dem Gefühl heraus, einer Gemeinschaft anzugehören, die größer und tiefer ist als die, die von unseren Regierungen verwaltet wird. Wir taten dies auch, weil wir das Gefühl hatten, dass wir nichts als alternative Maßnahme vorzuschlagen hatten, kein festes Wissen, um eine praktische Opposition gegen die staatlichen Maßnahmen zur Behandlung der Pandemie zu begründen.
Aus diesem Grund wurde die allgemeine Opposition gegen diese Maßnahme darauf reduziert, nicht mit alternativen Maßnahmen zu argumentieren, die zur Bekämpfung der Pandemie hätten ergriffen werden können, sondern mit ihrer schlichten und einfachen Realität. Wenn man der staatlichen Behandlung einer Situation nichts entgegenzusetzen hat, bleiben einem zwei Möglichkeiten. Die erste ist, diese Situation schlicht und einfach zu leugnen. Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich auf ein einfacheres Terrain zu begeben, nämlich die Analyse der Ursachen der Situation und ihrer Auswirkungen. Und tatsächlich nahm die Protestliteratur, die den Lockdown begleitete, zwei wesentliche Charaktere an. Erstens die Suche nach den strukturellen Ursachen der pandemischen Situation, d.h. nach den Verfehlungen des Anthropozäns und des Kapitalozäns. Zweitens die Entwicklung von Vorschlägen für die Welt danach, die nach dem Ende des Lockdowns entstehen sollte.
Was also während des Lockdowns blühte – in einer Form, die natürlich durch die Tatsache intensiviert wurde, dass jeder freie Zeit zum Reden und Schreiben hatte – waren die beiden klassischen Arten von Protestdiskursen, und zwar in gewohnter Weise in dem, was man für die Unfähigkeit hält, den sicherheitspolitischen Konsenskreislauf zu durchbrechen. Erstens, die Anprangerung der weit entfernten Ursachen der erlittenen Situation. Zweitens die Aussage, wie die Welt sein sollte, sobald sie nicht mehr das ist, was sie ist. Auf der einen Seite wird die Kette der Ursachen zurückverfolgt, um den Verantwortlichen für alles Übel zu benennen. Auf der anderen Seite leitet man aus dieser Demonstration der Ursachen des Übels die Selbstverständlichkeit ab, dass es so nicht weitergehen kann und dass es sich ändern wird, da es sich ändern muss. Kurz gesagt, man setzt der Regierung, die uns dem Gesetz der Notwendigkeit unterwirft, den Glauben an eine Kausalkette entgegen, die eine notwendigere Notwendigkeit mit sich bringt. Es war wieder dieser Rückgriff, der die Ohnmacht begleitete, andere Arten der Reaktion auf die pandemische Situation umzusetzen oder gar zu entwerfen.
Was einer Macht entgegengesetzt wurde, die sich auf die doppelte institutionelle und ideologische Autorität der Wissenschaft stützte, war – man könnte sagen – die nackte Ideologie der Wissenschaft, der wache fortschrittliche Glaube, dass sich die Welt ändern wird, wenn die Wissenschaft bewiesen hat, dass sie schlecht ist. Ein Glaube, der, wie ich glaube, nicht nur eine Antwort auf das Gefühl der Ohnmacht ist, sondern diese Ohnmacht selbst aufrechterhält.
Ich schließe ab. Die Realität der Pandemiesituation und die konkreten Arten, wie wir uns an sie angepasst haben, widerlegen – wie ich glaube – die großen Erklärungsmodelle, die für jede Situation geeignet sind, also auch für keine bestimmte. Wir wurden nicht von der Macht des Ausnahmezustands überwältigt, sondern von unserer Ohnmacht, uns andere Mittel als die unserer Regierungen vorzustellen, um auf eine Ausnahmesituation zu reagieren. Und das ist in gewisser Weise das besorgniserregendste Problem, nämlich dass die Realität der pandemischen Situation weit von den großen Modellen der Ausnahmemacht entfernt ist. Aber gleichzeitig macht sie die zunehmende Ohnmacht, eine Welt der Gleichen zu denken und aufzubauen, die es mit den Mächten, die die Welt regieren, aufnehmen kann, nur noch spürbarer.