Am 8. Oktober 2023 ist Pierre Franzen im Alter von 77 Jahren gestorben. Pierre hat neben seiner langjährigen Tätigkeit als Mitgründer und Redaktor beim Widerspruch auch die Website theoriekritik mit angeregt. Frieder Otto Wolf, der ihn fünfzig Jahre lang in verschiedenen Arbeitszusammenhängen gekannt hat, würdigt im folgenden Text Pierres politische Leistung.
Von Frieder Otto Wolf
Dies ist kein bloßes Eingedenken. Meine Erinnerungen sind altersgemäß verblasst. Vielmehr ist es ein Versuch, zu aktualisieren und damit für die Zukunft wirksam zu machen, was Pierre Franzen wohl mit mir verbunden hat und ich jedenfalls mit ihm verbunden habe. Es war ein durchaus auf den ersten Blick paradoxales Projekt – nämlich eine Althusser-Lektüre außerhalb der Traditionslinien des Partei-Kommunismus (auch ihrer dissidenten, etwa trotzkistischen oder maoistischen Linien), die sich aber dennoch nicht in einer praktisch folgenlosen Intellektualität verlor. Sondern die das Projekt verfolgte, auch theoretisch wieder eine radikale Politik möglich zu machen, in welcher der revolutionäre Impuls der Marxschen Politik neu belebt werden konnte. Oder – in anderen Worten – ein Neu-Denken einer Politik der Befreiung, das in der Pluralität der Kämpfe gegen die modernen Herrschaftsstrukturen den wichtigen Beitrag der Marxschen Durchbrüche zu einer wirklichen Wissenschaft zur Geltung bringen konnte.
Dabei ging es uns – ich denke, ich habe das Recht dazu, hier eine erste Person im Plural zu verwenden, die allerdings damals weit über Pierre und mich hinausgereicht hat – nicht einfach darum, gescheiterte Projekte einer undogmatischen, aber doch radikalen Erneuerung der organisierten politischen Praxis, wie die POCH1, jetzt gleichsam transponiert im Medium linker Theoriedebatten fortzusetzen. Es ging vielmehr darum, für die realen gesellschaftlichen Kämpfe, in dem Ringen um ihre theoretische Selbstverständigung, wieder tragfähige Grundlagen zu finden – und zwar sowohl in einer Perspektive der wirklichen Klassenkämpfe als auch in einer authentischen Aufnahme der Radikalität der Kämpfe der sogenannten neuen sozialen Bewegungen2.
Was Pierre und mich in diesem Zusammenhang besonders verbunden hat, war die Arbeit daran, die philosophischen Interventionen Louis Althussers für die Neugewinnung einer solchen Perspektive radikaler Politik im Kontext alternativer Tendenzen und Ansätze aufzugreifen und produktiv zu machen. Das war eine Arbeit ‚gegen den Strom‘ der internationalen Althusser-Rezeption, in der sich rasch verselbständigt hatte, was Althusser selber später als ‚Theoretizismus‘ kritisieren sollte.
Ich denke, diese Arbeit lässt sich im Rückblick auf drei Hauptaufgaben fokussieren:
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Die Überwindung des praktisch sterilen Theoretizismus, im Sinne einer falschen Verselbständigung der theoretischen Arbeit, in der nicht nur ihre relative Autonomie gegenüber den in praktischen Kämpfen gegen moderne Herrschaftsverhältnisse zu gewinnenden Einsichten, sondern eine vollständige Loslösung der theoretischen Untersuchungen von diesen praktischen Kämpfen zu praktizieren versucht wird,
zugleich aber auch
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die Überwindung eines kurzschlüssigen ‚Praktizismus‘, der die faktisch bestehenden Grenzen der politischen Praxis, wie sie Althusser mit dem Konzept der ‚ideologischen Staatsapparate‘ zu erfassen unternommen hatte, kampflos als unüberwindliche Grenzen des Politischen hinzunehmen bereit war,
sowie schließlich
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die gezielte Suche nach einer neuen Praxis radikaler Politik, die angesichts der historischen Tatsache der Durchsetzung und Etablierung politischer Parteien als zentraler Gestalten der institutionalisierten Politik (also eben als ‚ideologischer Staatsapparate‘) tatsächlich und wirksam eine Perspektive der revolutionären Überwindung der sich in ihrem beständigen Wandel immer wieder reproduzierenden Formen moderner Herrschaftsverhältnisse und ihrer staatlichen Absicherung eröffnet.
Das alles jetzt näher auszuführen, würde sicherlich den Rahmen dieser Gedenkveranstaltung für Pierre Franzen sprengen.
Ich denke aber, eine nähere Ausführung des zentralen Gedankens ist in diesem Rahmen möglich und würde zu einem vorwärtsgewandten, produktiven Gedenken beitragen: Die modernen Herrschaftsverhältnisse und der sie von Anfang an begleitende Widerstand lassen sich weder auf die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in den modernen Gesellschaften reduzieren lassen und die sich dagegen reproduzierenden Klassenkämpfe reduzieren, noch sind sie ohne diese Dimension der Klassenkämpfe begreifbar. Und der gesamte Reproduktionsprozess dieser ‚primären‘ Herrschaftsverhältnisse lässt sich ohne eine theoretische Durchdringung der ‚sekundären‘, aber immer wieder praktisch entscheidenden (repressiven und ideologischen) Staatsapparate weder theoretisch begreifen, noch ist er so in der Praxis politisch zu überwinden. Die darin liegende strategische Herausforderung wird leider in der linken Debatte immer noch vernachlässigt.
Die politische Aufgabe, die sich daraus ergibt, ist selber immer wieder doppelt bestimmt – und hat immer wieder auch zu einer doppelten Problemverfehlung geführt.
Dieses, bis heute ungelöste Problem der Strategiefindung3 lässt sich exemplarisch anhand einer gravierenden, zu einem wirklichen Bruch führenden Auseinandersetzung zwischen Louis Althusser und Étienne Balibar in Bari 1979 verdeutlichen. Und ich fürchte, mehr als eine solche Verdeutlichung des Problems können wir bis heute nicht leisten. Louis Althusser hatte dort – im Anschluss an seine eigene Analyse der modernen Staatsapparate, wie sie den modernen Herrschaftsverhältnissen mittels Gewalt und Ideologie eine stabile Reproduktion ermöglichen – eine revolutionäre Politik außerhalb des Staates postuliert. Étienne Balibar hatte dagegen eingewandt, dass die modernen Staatsapparate die Politik der Reproduktion aller gesellschaftlichen Verhältnisse für sich erfolgreich monopolisiert haben und also eine Politik außerhalb des Staates jedenfalls keine Politik sein könne.
Das Problem liegt hier darin, dass beide ganz offensichtlich Recht haben: Außerhalb der Reichweite der modernen Staatsapparate gibt es keine Politik und innerhalb des Funktionierens dieser modernen Staatsapparate ist keine revolutionäre Politik möglich.
Ich denke allerdings, dass es möglich ist, hier auf eine produktive Weise darauf zu bestehen, dass es eine dritte Möglichkeit gibt – nämlich eine durchaus reale Politik (welche allerdings keine ‚Realpolitik‘ im Sinne der jüngeren grünen Grundlagendebatte sein kann), die immer wieder daran arbeitet, Perspektiven zu gewinnen und Kräfte zu aktivieren, die über die bestehenden Herrschaftsverhältnisse in deren krisenhaften Reproduktionsprozessen hinausgehen.
Eine derartige, tatsächlich radikale Politik kann zum einen immer wieder an historische Situationen des Aufbruchs anknüpfen, in denen ein Widerstand, der auf Befreiung von Herrschaft zielt, plötzlich in die Schaffung neuer Verhältnisse umschlägt, die sich jedenfalls nicht von vorneherein wiederum als Herrschaftsverhältnisse reproduzieren. Ich denke hier exemplarisch vor allem an meine Erfahrungen mit den Anfängen der ‚Alternativbewegung‘ im deutschsprachigen Raum, sowie mit der portugiesischen Revolution. Aber auch meine Teilnahme an den Anfängen des Zürcher ‚Widerspruch‘ gehört für mich in einen derartigen Zusammenhang. Zum anderen kann sie sich einen substanziellen historischen Gedächtnisbestand, bewusste eigene Traditionslinien und eine lebendige Debattenkultur schaffen, die es ihr dann zumindest auf der Ebene des Denkens möglich macht, die Perspektive einer wirklich radikalen Politik lebendig werden zu lassen und lebendig zu erhalten. Genau daran hat Pierre Franzen im Rahmen seiner Zeitschrift aktiv und immer wieder auch erfolgreich gearbeitet.
Auf Sicht ist das, wie ich sofort zuzugeben bereit bin, eine mühsame und wenig Erfolgserlebnisse anbietende Arbeit. Sie ist aber doch dringend nötig – sowohl in den finstern Zeiten der Gegenwart wenigstens das Nötige herauszufinden und es auch tun zu können, als auch um doch immer wieder reale Möglichkeiten einer künftigen Befreiung zu finden und auszubauen. Ich denke, genau damit setzen wir Pierre Franzens Arbeit fort.
Anmerkungen
1 Oder auch den Trägerverein der ‚Modernen Zeiten‘, der mit Trampert und Ebermann vorübergehend die deutschen Grünen ‚hegemonisieren‘ konnte (vgl. deren von mir redigierte Programmschrift „Die Zukunft der Grünen“, 1984)
2 Konkreter gefasst, die Kämpfe gegen die sich modernisierende patriarchalische Herrschaft, gegen die durchaus herrschaftlich strukturierte ‚Dependenz‘, sowie die moderne ökologische ‚Überausbeutung‘, wie sie doch in der historischen Wirklichkeit die Klassenkämpfe der sich organisierenden und politische Handlungsfähigkeit aufbauenden ‚Arbeiterbewegung‘ von Anfang an begleitet hatten (und etwa in der von Marx führend begleiteten ersten ‚Arbeiter-Internationale‘ noch eine durchaus eigenständige Rolle gespielt hatten).
3 Der Gedanke, eine realitätstüchtige Strategie einfach so ‚bilden‘ zu können, ist in einer materialistischen Perspektive einfach unhaltbar.