Die vielbeschworene Theoriefeindlichkeit ist kein neues Phänomen. Sie nistete zum Beispiel hartnäckig in der 80er-Bewegung. Theorie war geradezu Verrat. Meine Generation (die Generationen jagten sich im Fünfjahrestakt) wollte sich von den 68ern durch die Spontaneität und Phantasie abgrenzen, die diesen mit ihren Politgurus und ihren Ismen abhandengekommen war. Da tauchte unerwartet dieses gut 60-seitige Büchlein auf. 1979 machte uns Harald Szeemann, mit dem wir korrespondierten, darauf aufmerksam. Es war der euphorische, selbstbewusste Ton, die antiautoritäre Haltung, die uns sofort einnahm. «Rhizom» versprach einen Ausweg aus der Sackgasse mit dem Mix aus Kaltem Krieg und geistiger Landesverteidigung und der herrschenden wirtschaftsliberalen Ideologie samt zementierten Hierarchien.
Eine undogmatische Haltung lässt keine Einschränkungen zu, so entsteht eben auch in theoriefeindlichem Umfeld Theorie. In der Folge erschienen als bewusste Missachtung der geltenden Regeln im Eigenverlag Hefte mit Titeln wie: «Das Wrack», «Theorie zu das Wrack» und «Rack». Um den Zwang zu Stringenz und Logik in den Texten an der Nase herum zu führen, gab es in «Rack» neben Pattern und Grafik jede Menge Cutups, wie sie Biron Gysin und William S. Bourroughs erfunden hatten.
Schreiben sollte man, indem man «Rhizom macht», sein Territorium durch Deterritorialisierung erweitert, in unbekannte Gebiete vorstösst. Deleuze/Guattari fanden die passenden Worte für die Stimmung der Spätsiebziger. Bei Bourroughs war es das «Navigare necesse est», das in den Köpfen der Leser nachhallte. Ich fühlte mich als Nomade, der sich zu neuen Territorien aufmachte, war das Wurzelgeflecht der Brennnessel, bewegte mich unterirdisch als Rhizomknollen der Liliengewächse vorwärts.
Es war alles drin, was ein brauchbarer Werkzeugkasten vorzuweisen hat, in diesem Büchlein. Auch eine Anleitung, wie es zu lesen ist, gab es da drin, nämlich man nehme einfach heraus, was einem passt. «Ein Buch muss mit etwas anderem Maschine machen», verlangten Deleuze/Guattari. Schon die Doppel-Autorschaft war Programm. Philosoph Gilles Deleuze (1925 – 1995) und Psychiater Felix Guattari (1930 – 1992) rissen Spartengrenzen ein. Sie texteten Schlagworte: Bildet Rhizome, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht!
Manches verstand ich auf Anhieb nicht so ganz, wie zum Beispiel dieses «stecht!». Egal, es tönte irgendwie cool verrätselt. Das lag aber, wie sich später herausstellte, an der pfuschigen Übersetzung. Das 1977 im Merve Verlag herausgegebene Bändchen war als vorveröffentlichtes Vorwort von «Mille plateaux» angekündigt. «Tausend Plateaus», ein Ziegelstein von Buch mit weissem Einband, kam erst 1992 in deutscher Übersetzung heraus, im Übrigen mit neu übersetztem Rhizom-Vorwort. Dort hiess diese Stelle dann: «Sät nichts aus, sondern nehmt Ableger!» So ergab das Sinn, das war bekannt von den Stecklingen, mit denen der gewiefte Drogenanbauer Hanfpflanzen vermehrt oder vom Erdbeerbeet im Garten draussen. Mit den Bildern aus der Pflanzenwelt war die Bedeutung des Rhizoms für mich einfach zu begreifen. Deleuze/Guattari argumentierten aber nicht ausschliesslich mit der Naturlehre. Die populäre Kunst interessierte sie ebenso: Der rosarote Panther hatte es ihnen angetan, der seine artifizielle Welt rosa übermalt und dabei unsichtbar wird.
«Rhizom» stiess in den 80er-Jahren in der alternativen Intelligenzija eine eigentliche Welle an, so dass man sich den Begriff bald kaum mehr zu gebrauchen traute. Woran damals jedoch noch niemand dachte: «Rhizom» nahm etwas Neues, Grosses – das Internet – vorweg. Das warf seine Wellen voraus und Deleuze/Guattari waren die Empfangsstation. «Rhizom» kam aus der politischen Linken, aber immer deutlicher zeigte sich, dass es sich dabei auch um eine Anleitung für das Funktionieren des Kapitalismus handelte. Es fing mit dem Autoproduzenten Chrysler in den 90er-Jahren an. Ich horchte auf, als die Manager flache Hierarchien propagierten. Sie gestalteten die Fabriken in Plattformen um. Jede dieser Plattformen sollte autonom sein; vom Projektieren eigener Modelle über die Herstellung und Vermarktung waren die Arbeiter und Angestellten für alles selber zuständig. Chrysler wurde deswegen keineswegs sozialistisch. Auch das Internet entpuppte sich statt als nichthierarchisches, unkontrollierbares Gewusel, wie wir gehofft hatten, immer mehr als Feld, auf dem sich die Geldmaschinen installierten. Hatten Deleuze/Guattari mit «Rhizom» ein Handbuch für den Kapitalismus verfasst?
Die Philosophie ist nicht dafür da, Probleme zu lösen. Sie untersucht Fragestellungen. Gilles Deleuze sprang am 4. November 1995 also doch wegen der kaputten Lunge aus dem Fenster seiner Wohnung am Boulevard Arago in Paris und nicht aus Verzweiflung über fehlgeleitete Ideen. Ich weiss noch gut, als wäre es gestern gewesen, wie Freund P. aufgeregt anrief, als er davon hörte. Das war ein schwerer Verlust.
Olaf Lingenhöle
Die Philosophie ist nicht da, um Probleme zu lösen? Ich behaupte das Gegenteil. Denn die Fragen, die zur Problemlösung notwendig sind, stellt die Philosophie: Was ist das Problem? Warum ist es ein Problem? Für wen ist es ein Problem? Wodurch wird es ein Problem? Was fehlt zur Lösung des Problems? Wer löst wie und warum das Problem oder löst es warum nicht? Warum jemand mit einer kaputten Lunge aus dem Fenster springt, ist tatsächlich eine knifflige Frage. Aber wenn die Philosophie nicht helfen kann, was dann?