Foucaults Entdeckung
Von allen in den vergangenen Jahren gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen ist der Verdacht, Michel Foucault sei ein Fan des Neoliberalismus gewesen, einer der interessanteren.[1] Die Frage nach der Beziehung des französischen Philosophen zum Neoliberalismus hat insbesondere marxistische Kritiker_innen auf den Plan gerufen. Sie erkennen in Foucaults subtilem Nachdenken über die Mechanismen von Macht, Wissen und Subjektivierung eine theoretisch unbefriedigende und politisch fatale Abkehr von Kapitalismuskritik und Klassenkampf, die ihn zu einem mindestens zweifelhaften Flirt mit dem neuen Geist des Kapitalismus verführt habe. Auch wenn sich die Wucht der ideengeschichtlichen Polemik primär aus dem Bedürfnis nach einer Erklärung für die Schwäche linker Politik heute speist, ganz falsch ist der Befund nicht. Tatsächlich hatte sich Foucault in seinen Vorlesungen zur Biopolitik liberalen und neoliberalen Regierungsvorstellungen zugewandt. Und der Schwerpunkt seines Interesses lag dabei nicht mehr primär auf jenen Ausschluss- und Einschlussmechanismen, die ihn zuvor in seinen Studien zur Geschichte des Wahnsinns oder der Disziplin umgetrieben hatten. Im Gegenteil: Gerade was die liberalen Regierungspraktiken ermöglichen, wollte Foucault in seinen Vorlesungen herausarbeiten. Umso erstaunlicher ist es daher, dass im Berliner Karl Dietz Verlag – bekannt für die berühmten blauen Bände der Marx-Engels-Werke und also kaum im Verdacht stehend, dem Antimarxismus in der Philosophie Vorschub leisten zu wollen – jetzt ein französisches Buch in deutscher Übersetzung von Andreas G. Förster und Lilian Peter erschienen ist, das bereits im Titel eine Verbindung von Marx und Foucault vorschlägt. Geschrieben hat Foucault mit Marx der Philosoph Jacques Bidet (*1935), der bis zu seiner Emeritierung an der Universität Paris-Nanterre unterrichtete und 1989 mit dem 2011 verstorbenen Jacques Texier die Zeitschrift Actuel Marx gegründet hatte.
Weit davon entfernt, Foucaults theoretische Entwicklung zwischen Überwachen und Strafen (1975), das er noch vor unausgesprochenen marxistischen Hintergrundannahmen einordnet, und den Vorlesungen am College de France ab 1975 in Abrede zu stellen,[2] besteht Bidet zunächst darauf, dass Foucaults Werk der Gesellschaftskritik ein ganz eigenes Feld freigelegt habe. Gerade im Blick auf diejenigen Texte Foucaults, in denen zugleich eine Bewegung auf das Feld der Marx’schen Interessen (das Wirtschaftsleben) und eine Abkehr von Marxens kritischem Ansatz zu beobachten ist, muss sich für Bidet daher die Bedeutung der Entdeckung, die Foucault gemacht hat, erweisen. Bidet bezeichnet sie als Kontinent: Es ist die Welt der Normen und Regeln, der Diskurse, Dispositive und Regierungspraktiken – kurz die Welt der modernen Wissenschaft, der Institutionen, der Organisation. Gegenstand dieser Welt ist die „Konstituierung des Subjekts“ als eine „‚Behandlung des Menschen durch den Menschen‘“ (S. 12), sodass in der Konsequenz die Aufmerksamkeit für den Einzelnen ausschlaggebend wird.
Mit der Betonung der genuinen Entdeckung Foucaults ist zugleich Bidets Bezug auf das Werk von Marx aufgerufen: Einerseits hält er, Louis Althussers symptomaler Lektüre folgend, daran fest, dass Marx mit dem ersten Band des Kapitals der entscheidende Schritt von der Ideologie (der bürgerlichen Wissenschaften) zur Wissenschaft gelungen sei. Anderseits handle es sich bei dieser Wissenschaft aber nicht, wie Marx noch hoffte, um eine Wissenschaft von der Geschichte, und auch keine von der modernen Gesellschaft, wie Marxist_innen aller Couleur annehmen, sondern ausschließlich um eine Wissenschaft von der Struktur ihrer Produktionsweise.[3] Als kritische Gesellschaftstheorie ist der Marxismus aus dieser Perspektive – trotz vieler wichtiger Erkenntnisse auch auf anderen Gebieten – unvollständig geblieben und bedarf der Ergänzung. Die beiden „Forschungsprogramme“ (S. 57) von Marx und Foucault sind zudem das Ergebnis unterschiedlicher methodischer Zugänge, die Bidet einerseits als Strukturanalyse, andererseits als Nominalismus charakterisiert. Das macht sie aufschlussreich füreinander, verbietet aber eine schlichte Zusammenführung. Ihre „Verkupplung“ in Bindestrichform à la „Marx-Weber, Marx-Keynes, Marx-Braudel, Marx-Lacan“ laufe zudem Gefahr, nicht „über das Stadium einer eklektischen Arbeitsteilung“ hinauszukommen. Sie verfehle dadurch das Erkenntnispotenzial gerade der „extremen Spannung“ zwischen den beiden Denkern.
Eine metastrukturale Theorie der ganzen Gesellschaft
Bidet unternimmt in Foucault mit Marx stattdessen den Versuch, ihre Ansätze auf einer höheren Abstraktionsebene zu integrieren. Das Gebäude der Gesellschaftstheorie soll so auf einer „realistischeren“ und „gesicherteren Grundlage“ (S. 93) errichtet werden. Der Ausarbeitung einer solchen „Gesamttheorie der modernen Gesellschaftsform“ (S. 37) widmet sich Bidet seit den 1990er-Jahren. Zentraler Gegenstand dieser Theorie ist dabei „die Fiktion [Objekt], die diese Struktur [Subjekt] voraussetzt und setzt, die sie [= die Struktur] als reale Bedingung ihrer Existenz [= Existenz der Struktur] produziert“ (S. 14). Bidet bezeichnet diesen Ansatz als metastruktural. Die Metastruktur ist kein gegebenes Fundament, auf dem die moderne Gesellschaft ruht. Es handelt sich vielmehr um eine Fiktion, die die in ihr Handelnden voraussetzen und so erzeugen.[4] Bidet findet sowohl im Werk von Marx (in dem Vertragsfreiheit und rechtliche Gleichheit die Voraussetzung ökonomischer Ungleichheit und Ausbeutung bilden) als auch im Werk Foucaults (im immer wieder von diesem thematisierten Abstand zwischen einer sich in der Aufklärung herausbildenden rechtlich-politischen formell-egalitären Ebene und der „wirklichen“ Mikromacht der Disziplinierung, deren Verhältnis Foucault allerdings nie klärt) Ansätze zu einer solchen metastrukturalen Perspektive.
Ausgehend von Marx und Foucault identifiziert Bidet auch zwei unterschiedliche Weisen, in denen gesellschaftlichen Strukturen sich reproduzieren: Den Markt und die Organisation. Diesen entsprechen zwei Formen von Macht: Die Macht, die Eigentum verleiht (Macht-Eigentum in Bidets Diktion), und die Macht, die Wissen verleiht (Macht-Wissen). Während der erste Pol offensichtlich im Zentrum von Marx’ Analysen der auf dem Privatbesitz an Produktionsmitteln basierenden kapitalistischen Produktionsweise steht, ist der zweite Pol leicht als Gegenstand des Foucault’schen Werks und seiner Analyse des intimen Zusammenhangs von Wissen und Macht, dem pouvoir-savoir, erkennbar. Diese Pole weisen zudem unterschiedliche Träger_innengruppen auf: einerseits Kapitalist_innen, andererseits Leitungs- und Führungskräfte, die Entscheidungs-Kompetenz-Träger_innen, wie es bei Bidet etwas umständlich aber treffend heißt. Erst zusammen bilden sie die herrschende Klasse. In der Reproduktion ihrer Klassenherrschaft über die Vermittlungsinstanzen Markt (mit dem Klassenfaktor Eigentum) und Organisation (mit dem Klassenfaktor Wissen) findet schließlich das statt, was Bidet in Abwandlung des Begriffs der „instrumentellen Vernunft“ Frankfurter Provenienz als „Instrumentalisierung der Vernunft“ (S. 15) bezeichnet. Diese Instrumentalisierung der Vernunft bildet für Bidet das grundlegende Merkmal der modernen Gesellschaft. Dass die Voraussetzung der Instrumentalisierung die Setzung von Freiheit, Gleichheit und Kompetenz ist, beinhaltet für Bidet aber außerdem die Möglichkeit von Emanzipation.[5] Die Betonung der historischen Spezifik der metastrukturalen Setzung, so allgemein sie bleibt, lässt sich daher gegen einen geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben, der die Geschichte des Marxismus regelmäßig heimgesucht hat, genauso wenden wie gegen anthropologische Allgemeinplätze der Art „Macht ist immer/Widerstand auch“, die aus Foucaults Texten gerne extrapoliert werden.
Verheißungen des Neoliberalismus
Vor dem Hintergrund des metastrukturalen Ansatzes gibt Bidets Studie auch eine eigenwillige Antwort auf die Frage, warum sich Foucault im Laufe der 1970er-Jahre zunehmend dem Liberalismus zugewandt hatte: Die unterschiedlichen Ansätze von Marx und Foucault führt Bidet auf die Zweipoligkeit von Macht in der modernen Gesellschaft selbst zurück, die mit zunehmender Ausdifferenzierung auch ihre je eigenen Kritiker_innen auf den Plan rief. Ideengeschichtlich ist das Interesse Foucaults im Zusammenhang der verworrenen Situation linker Politik im Frankreich der 1970er-Jahre zu verorten. Bereits in den 1950er-Jahren bildete sich hier eine radikale Kritik am Stalinismus (nicht zuletzt am Stalinismus der Kommunistischen Partei Frankreichs) heraus, die sich angesichts der Veröffentlichungen osteuropäischer Dissident_innen um 1970 noch einmal verschärfte und nun oft antikommunistische und antimarxistische Züge annahm. Im Abflauen der Revolte von 1968 fand sie in den frühen 1970er-Jahren ihre Fortsetzung in einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Staat und Partei. Diese speiste sich aber nicht allein aus den enttäuschten Erwartungen, die sich zuvor auf die Revolution gerichtet hatten, sondern auch aus dem Blick auf den französischen Wohlfahrtsstaat selbst. Der war zwar in den trente glorieuses von 1945 bis 1975 mit ihrem rasanten Wirtschaftswachstum Garant sozialer Sicherheiten gewesen, allerdings um den Preis starker Normierungen und vielfältiger Ausschlüsse. Foucaults Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus steht damit auch im Kontext der Entstehung einer der französischen Sozialistischen Partei kritisch gegenüberstehenden sozialliberalen „Zweiten Linken“ sowie der Präsidentschaft Valéry Giscard d’Estaings (1974–1981), der zunächst als entschiedener Modernisierer jenseits der seit Jahrzehnten regierenden Gaullisten auftrat und eine Reihe von gesellschaftspolitischen Reformen initiierte, etwa die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Sie findet jedoch vor der Wahl Margaret Thatchers zur britischen Premierministerin (1979) und Ronald Reagans zum Präsidenten der Vereinigten Staaten (1981) statt. Mit den Regierungszeiten Thatchers und Reagans wird eine erste Phase der Durchsetzung des Neoliberalismus in Verbindung gebracht, die mittlerweile – darin den hellsichtigen zeitgenössischen Analysen des britischen Soziologen Stuart Hall folgend – als eine frühe Verbindung von Autoritarismus und Wirtschaftsliberalismus untersucht wird. In den frühen 1970er-Jahren bot aber eben nicht nur die Entwicklung der Sowjetunion reiches Anschauungsmaterial dafür, dass aus der Einschränkung von Marktrelationen noch lange keine Abwesenheit von Herrschaft folgt. Sie wurde eben nicht mehr von den Privatbesitzer_innen der Produktionsmittel, sondern von Verwalter_innen mit ihren ganz eigenen Interessen und Organisationsloyalitäten ausgeübt.
Für die Wirkmacht und intrikaten Mechanismen derartiger Herrschaftsformen innerhalb moderner Gesellschaften, in der Familie oder in der Schule, in der Universität oder im Krankenhaus, im Büro oder aber auch in der Fabrik, sensibilisiert Foucaults Werk, was seine Attraktivität für die neuen sozialen Bewegungen erklärt und bis heute Forschungsprogramme und Aktivismus inspiriert. Das betrifft die Intellektuellenrolle und ihren Sprechort selbst, sodass wir Foucaults Auseinandersetzungen mit Wissen und Macht immer auch als Frage nach den Möglichkeiten (und Grenzen) von Kritik verstehen müssen. Einig sind sich selbst seine Kritiker_innen außerdem über den großen Dienst, den Foucault der Geschichtswissenschaft erwiesen hat, als er die neoliberalen Ökonom_innen und politischen Theoretiker_innen als Untersuchungsgegenstand ernst zu nehmen begann, noch bevor der Neoliberalismus seinen globalen Siegeszug angetreten hatte. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Neoliberalismusforschung in substanzieller Weise hieran angeschlossen.
Uneinigkeit herrscht aber weiterhin darüber, wie die ab der Mitte der 1970er-Jahre sichtbar werdende Faszination für Friedrich August von Hayek, Milton Friedman und Co. sich zu Foucaults eigenem kritischem Projekt verhält. In seinem Buch La dernière leçon de Michel Foucault von 2012 begreift Geoffroy de Lagasnerie Foucaults späte Vorlesungen als intellektuelles Experiment, um die Linke mit Mitteln des Neoliberalismus neu zu erfinden. Mitchell Dean und Daniel Zamora betonen in The Last Man Takes LSD von 2021 dagegen, dass Foucault primär von seiner Kritik an einer staatsgläubigen Linken aus zum Neoliberalismus kam.
Wie fügt sich Bidets Ansatz von 2014 hier ein? Bidet konstatiert, dass Foucault in der Orientierung einer liberalen Regierungsrationalität an der Marktrationalität, wie er sie in seinen Vorlesungen zu rekonstruieren suchte, eine Zurückdrängung der Exzesse von Organisationsherrschaft zu erkennen meinte: Diese Rationalität kalkuliert mit dem Kalkül der Subjekte als Marktteilnehmer_innen. Sie tritt, wie Foucault in den Vorlesungen schreibt, als Managerin ihrer Freiheit auf, wirkt auf die Spielregeln aber nicht auf die Spieler ein und verfährt also weithin indirekt. In Bidets Rekonstruktion war es Foucaults Hoffnung, dass gerade dies den Subjekten erlauben würde, nicht dermaßen regiert zu werden – wie es in seiner berühmtgewordenen Antwort auf die Frage „Was ist Kritik?“ von 1978 prononciert heißt.[6] Er nahm dafür nach Bidet allerdings eine Verabsolutierung des Marktgeschehens in Kauf, wenngleich Foucault genau sah, dass die Naturalisierung des Markts im klassischen Liberalismus im Neoliberalismus der Einsicht in die Notwendigkeit seiner politischen Herstellung gewichen war.[7] Im Rückblick auf ein weitgehend durchgesetztes neoliberales Programm hat Alberto Toscano den ganz eigenen Autoritarismus dieser Rationalität zuletzt so zusammengefasst: „One of the chief aims of neoliberalism (especially in its overweening obsession with the constitutionalisation of the market order) is to ‚bake in‘ its principles into these state capacities themselves, so that even a nominally socialist or social-democratic government will still be compelled to carry out neoliberal policies.“[8]Derjenigen Instrumentalisierung der Marktvernunft, die über den Klassenfaktor Besitz erfolgt, sind keine Grenzen mehr gesetzt.[9]
Spaltungen im modernen Gesellschaftskörper
Wie reagiert nun Bidets eigene Rekonstruktion auf diese Gefahr der Vereinseitigung der Kritik? Wir dürfen uns die beiden Pole von Herrschaft, die er mit Marx und Foucault herauspräpariert, weder als ausschließlich im Widerstreit befindlich noch in friedlichem Einvernehmen vorstellen. Vielmehr gilt es ihr spannungsreiches Verhältnis zu verstehen. Nach einem mehrhundertjährigen Kompromiss zwischen Besitz und Wissen, der zur Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft führte, konstatiert Bidet für die Zeit zwischen 1900 und den 1970er-Jahre vermehrt Bündnisse zwischen den Entscheidungs-Kompetenz-Träger_innen und dem, was er die Basisklasse oder auch das Volk nennt. Diese Allianz ist für Bidet der Kern des sozialistischen Projekts aus dem sich daher auch das Primat der Organisation ergibt. Das Problem besteht in solchen Phasen dann vor allem in den Machtverhältnissen innerhalb eines solchen Bündnisses.
Genau an diesem Punkt hakt Bidet erneut bei Foucault ein. Er fragt, warum Foucault hellsichtig innovative Regierungsstrategien in den Programmtexten des Neoliberalismus zu identifizieren vermochte, aber die Regierten kaum als in vergleichbarer Weise zu strategischem Handeln in der Lage sah – was ihn nicht zuletzt zu Fehlurteilen etwa über die historische Entstehung der Gesundheitsversorgung verleitet habe, die eben nicht allein dem Kalkül der effizienten Erzeugung und Verwaltung von Arbeitskraft durch den Liberalismus geschuldet ist, sondern Reformbewegungen und Organisationsansätzen aus der Arbeiter_innenbewegung selbst. Seine Aufmerksamkeit für die subtilen Mechanismen der Kompetenzherrschaft ließ Foucault das Neuartige der liberalen Regierungsrationalität genau erkennen, machte ihn aber zugleich blind für andere die Gesellschaft formende Kräfte. Darin wiederum begegnet Foucault laut Bidet Marxens Überdehnung der Macht der politischen Ökonomie. Gegen beide hält Bidet in einem der schönsten Sätze des Buchs fest: „[D]ie Wunder des kollektiven Lebens sind nicht dem Kapital geschuldet“ (S. 148). Aus dieser Einsicht folgt für Bidet auch die Notwendigkeit des analytischen Einbezugs der Basisklasse in die Gesellschaftstheorie. Sie unterhält selbst ganz verschiedene Beziehungen zu den beiden Vermittlungsinstanzen Markt und Organisation wie zu den Träger_innen Klassenherrschaft. Innerhalb der metastrukturellen Setzung finden alle drei gesellschaftlichen Hauptkräfte ihre Wirkmacht: „In der modernen Gesellschaft gibt es zwei Klassen, doch der Klassenkampf ist eine ménage à trois.“ (S. 179). Weil in der Moderne die Vertragsfreiheit zwischen den Einzelnen (auf dem Markt) und zwischen allen (als Gesellschaftsvertag, der erstere garantiert, aber auch einzuschränken vermag) die gesetzte Voraussetzung ist, öffnet sich zugleich das Tor zur freien Assoziation.
Tatsächlich ist in Foucault mit Marx nicht immer klar, wo genau die Linie zwischen dem Entscheidungs-Kompetenz-Träger_innen-Pol zuneigenden Basisklassenangehörigen – etwa Angestellten in der öffentlichen Verwaltung – und den Entscheidungs-Kompetenz-Träger_innen selbst zu ziehen wäre. Bidets anregende Erneuerung der Klassenanalyse zielt aber auch nicht auf die Identifikation von Personen oder Gruppen, sondern auf „die Identifikation gesellschaftlicher Prozesse“ (79): „Das Klassenverhältnis ist primär als Spaltung im modernen Gesellschaftskörper zu verstehen, die soziale Gruppen hervorbringt; diese Gruppen versammeln singuläre Personen in unterschiedlichem Umfang“ (S. 100). Daraus folgt, dass es keinen unüberbrückbaren Graben zwischen den zwei Klassen gibt, genauso wenig wie zwischen den Polen innerhalb der jeweiligen Klasse.[10]
Weltsystem auf den letzten Seiten
Die von Bidet vorgeschlagenen Systematisierungen und seine eigenwillige, oft technische Terminologie (wiederholt unterstreicht er, dass es sich bei den von ihm verwendeten Begrifflichkeiten gerade nicht um die von Foucault und Marx handele) sind nicht immer elegant, aber gerade deshalb ungemein suggestiv. Die Leser_in hört sich auf einmal wie Bidet sprechen – und musste nun eine Rückübersetzung in Angriff nehmen. Nicht nur hieran erkennt man die Schule Althussers. Vor- und Rückverweise, beständige Vorankündigungen und Aufschübe, sich wiederholende Formulierungen lassen aber auch auf die Schwierigkeiten des Vorhabens schließen. Seine vergleichsweise schmale Studie zum Verhältnis von Foucault und Marx begreift Bidet selbst dann auch lediglich als Element einer umfassenden Ausarbeitung einer metastrukturalen Theorie der modernen Gesellschaft. Die Fußnoten sind gespickt mit Verweisen auf sein eigenes ausgreifendes Werk.
Bei Foucault mit Marx handelt es sich um die erste Bidet-Übersetzung in Buchlänge. Der metastrukturalen, auf den einzelnen Nationalstaat bezogenen Analyse stellt Bidet ganz zum Schluss noch die Analyse des Zusammenhangs, in dem die Nationalstaaten stehen, zur Seite. Diesen Zusammenhang hatte Immanuel Wallersteins Weltsystemanalyse theoretisch zu durchdringen versucht und so Imperialismus und Kolonialismus ins Zentrum der Gesellschaftstheorie gerückt. Klassenstruktur und Weltsystem bilden für Bidet dann auch die beiden „Dimensionen“ der modernen Gesellschaftsform.[11] Hier wird ein letzter Dreh von Bidets Foucault-Interpretation deutlich: Denn der Neoliberalismus, in dem Foucault zumindest zeitweise eine immerhin theoretisch beachtenswerte Zurückdrängung der Organisationsherrschaft zu sehen vermochte, kann für Bidet auch deshalb hegemonial werden, weil er den nationalstaatlichen Rahmen, also den Ort der metastrukturalen Setzung, aushebelt. Damit ist aber nicht nur das mögliche Bündnis zwischen Volk und Wissen seiner Voraussetzungen beraubt, sondern auch die in der Setzung der Fiktion aufgehobene Emanzipationsmöglichkeit der Vernunft. Beim Weltsystem handelt es sich laut Bidet dezidiert nicht um eine Instrumentalisierung der Vernunft. Erst die Integration von Klassenstruktur und Weltsystem, eine Gedankenbewegung, die Foucault nach Bidet nicht vollzogen habe, erlaube es daher heute, erneut eine umfassende Emanzipation ins Auge zu fassen – „was hier nur am Rande erwähnt werden kann“, wie es nonchalantauf den letzten Seiten heißt. Sie würde – über Bidet hinausgehend, aber durchaus mit Foucault und Marx – die derart umfassend verstandene Gesellschaftstheorie auch auf das Planetarische, mithin die Problematik der Klimakrise hin öffnen.
Bidet legt mit Foucault mit Marx einen Ansatz vor, der die Frage „Wie hielt es Foucault mit dem Neoliberalismus?“ produktiv macht. Statt Foucault einer intellektuellen Sünde zu überführen, versucht er ausgehend von der Antwort die Spezifik seines Denkens zu begreifen und als Beitrag zum Verständnis moderner Herrschaft zu würdigen. Insofern Bidets Verbindung von Foucault und Marx auf seine Bemühungen um eine umfassende Gesellschaftstheorie zielen, darf man auf weitere Übersetzungen Bidets ins Deutsche gespannt sein. Aber auch sonst ist zu hoffen, dass Bidets Buch Bewegung in eine Debattenlage bringt, die Denker_innen Lagern zuschlägt (und sie damit für erledigt hält), anstatt die Möglichkeiten zu betonen, die sich in der Auseinandersetzung mit den Kontinenten Marx und Foucault für die Kritik auftun. Angesichts der jüngsten autoritären Permutationen des Neoliberalismus einerseits und Anzeichen einer Rückkehr eines „starken Staates“ andererseits, von der man nicht immer ganz sicher weiß, ob man sie nur begrüßen oder auch fürchten soll, hat diese Aufgabe nichts an Dringlichkeit verloren.
[1] Einen älteren, deutschsprachigen Überblick über die Debatte, in dem Bidets Buch, das im Original 2014 erschienen ist, noch nicht vorkommt, liefert Georg Simmerl, „Foucault, ein Neoliberaler?!“, in: Theorieblog.de 16.3.2016. Simmerl betont die Ambivalenz von Foucaults Positionen zum Neoliberalismus zwischen theoretischer Analyse, Faszination und politischen Implikationen und wirft den Kritiker_innen eine Verkennung des textuellen Status von Foucaults Ausführungen vor.
[2] Insbesondere geht Bidet ein auf: Il faut défendre la société (1975–1976), Sécurité, territoire, population (1977–1978), Naissance de la biopolitique (1978–1979) – in deutscher Übersetzung erschienen im Suhrkamp Verlag.
[3] Diesen Anschluss an Althussers Projekt betont auch der Berliner Philosoph Frieder Otto Wolf im Nachwort zur deutschen Übersetzung von Foucault mit Marx.
[4] Für einen knappen systematischen Überblick siehe: Bidet, Jacques (1991): „Für eine metastrukturale Theorie der Moderne“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39/12 (1991), S. 1332–1340.
[5] Hierfür integriert er Aspekte der Sprechakttheorie J. L. Austins und der Universalpragmatik von Jürgen Habermas in sein Projekt, begreift dessen Theorie kommunikativen Handelns selbst als radikal historisch. Mit ihr lässt sich das Wesen des Anspruchs der metastrukturalen Setzung innerhalb der Klassengesellschaft bestimmen.
[6] Michel Foucault, Was ist Kritik? Berlin: Merve, 1992, S. 12.
[7] Dass die politische Realität des neoliberalen Programms mit dem von ihren Ideolog_innen propagierten Abbau von Staat, Organisation und Bürokratie zudem kaum etwas gemein hat, hat die wirtschaftshistorische Forschung der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll herausgearbeitet.
[8] Man muss dabei nur an den Verfassungsrang der Schuldenbremse denken; Alberto Toscano, Late Fascism. Race, Capitalism and the Politics of Crisis, London 2023, S. 66.
[9] Bidet unterstreicht allerdings auch, dass die theoretische Anziehungskraft der neoliberalen Denker_innen Foucault nicht daran hinderte, sich wiederholt gegen bestimmte Angriffe auf den Sozialstaat zu positionieren.
[10] Zur Erklärung der erstaunlichen Hartnäckigkeit der Klassenzugehörigkeit stellt Bidet Foucaults Analyse des Macht-Wissens nicht nur die Strukturanalyse der Klassengesellschaft durch Marx, sondern immer wieder auch Pierre Bourdieus soziologische Arbeiten zur Seite. Bourdieu attestiert Bidet nämlich einen ähnlich ausgeprägten Sinn für die Bedeutung von Organisation, von Wissenschaft, Management und Entscheidungsstrukturen wie Foucault. Im Gegensatz zu Foucault stellt Bourdieu dabei die Mechanismen der Reproduktion von Eliten wie die dazugehörigen Ausschlussmechanismen aus ihnen in Rechnung – exemplarisch etwa im berühmt-berüchtigten französischen Grandes-Écoles-System mit seinen notorisch schwierigen Auswahlverfahren, das unter der Herrschaft Napoleons entstand, um Staatsbeamte auszubilden.
[11] Ihr Zusammenspiel bringt für diesen theoretischen Rahmen auch den Rassismus hervor, der zusammen mit der patriarchalen Vergeschlechtlichung hinein in die Konstitution der Einzelnen, also wiederum Foucaults ganz eigene area of expertise, wirkt.