1. Solidarität ist ein Akt der symbolsichen Selbstgabe. Sie ist daher zugleich weniger und mehr als Hilfe. Ihre Grundlage ist nicht Empathie, sondern Erkenntnis; Erkenntnis des Fehlens eines ausgleichenden Akts für eine fundamentale Mangellage von Menschen. Sie ist eine spontane Regung der Notwendigkeit, weder emotional noch rational. Sie zeigt sich als plötzliche Verpflichtung, die Sache der Anderen als meine Sache anzuerkennen. Die Gründe dafür können sehr unterschiedlich sein, haben aber immer einen universellen Kern. Solidarität ist so betrachtet ein individueller, spontaner, freier Akt auf der Basis eines universellen Urteils.
2. Solidarität unterscheidet sich von familiären Verpflichtungen oder Gemeinschafts- oder Peer-Erwartungen. Sie entsteht nur innerhalb einer Idee oder Vorstellung von einer immer erst noch herzustellenden Einheit von Menschen: als Mitglieder einer idellen Gesellschaft, als Geschöpfe Gottes, als Proletarier:innen, als Leidende Existenz usw.
3. Solidarität ist kein Automatismus. Sie muss aktiv vorgestellt oder getan werden. Sie basiert auf der freien Entscheidung, im anderen Menschen – gerade in dem, der mir scheinbar nicht der Nächste ist – meinen Nächsten zu sehen. Sie beruht daher auch auf der Vorstellung von Reziprozität: Die anderen würden es genauso machen können. Das bedeutet: Die Möglichkeit von Solidarität – als Akt und als Vorstellung – ist ein wichtiges Extra, das eine Gesellschaft formt und zusammenhält.
4. Die solidarische Position wehrt sich gegen gesellschaftliche Spaltung, aber sie setzt nicht auf Verschmelzung. Sie ist verpflichtender und wirksamer, wo immer man auf der Seite der Stärke und der Macht steht. Solidarisch sein kann je nach Situation heissen: Da zusein, wo Dasein weder erwartet, noch erwünscht ist, verhandeln, wo verhandeln nicht erwartet wird, aber auch auf Schwäche nicht mit Stärke zu reagieren, Rechte nicht um jeden Preis anzustreben und durchzusetzen, auf Ansprüche zu verzichten usw.
5. Das Opfer als Opfer kann nicht solidarisch sein. Die «Kraft der Schwachen», wie die Solidarität auch genannt wird, setzt eine Verwandlung in Stärke bzw. eine Überwindung der Schwäche voraus. Die wichtigste Bedingung dafür ist die Selbstachtung, die wiederum durch Akte der Solidarität gestärkt wird. Das heisst, individuelle Freiheit durch Stärke ist genauso Bedingung wie Wirkung der Solidarität.
6. Je stärker eine Gesellschaft auf dem Leistungsprinzip aufbaut, desto schwieriger ist Solidarität mit Armen, Benachteiligten, Verlierer:innen. In einer konkurrenzgetriebenen Gesellschaft dominieren daher Spenden und Almosen.
7. Der Akt der Solidarität im Kampf für die Rechte der Ausgebeuteten wie auch im Kampf gegen Spaltung durch Angst ist nur jenen möglich, die in einer bestimmten Situation, und sei es nur für einen kurzen Moment, für sich selber nichts fürchten und daher die Furcht vor dem Anderen ganz in die Sorge für den anderen verwandeln können. Aus der Position der Schwäche tendiert Solidarität zur Selbstopferung, aus der Position der Stärke ist sie nur eines: Nicht zu tun, was man tun könnte, situative Aufhebung der Konkurrenz und also Verschonung im Moment. Solidarität ist daher keine Technik und kein Prinzip. Ihr prekärer Charakter verhindert keine Ängste, aber sie ist die Hoffnung auf einen Akt der Verschonung, der ein Aufatmen ermöglicht. Solidarität gegen Konkurrenzangst hat ein Urbild in den Eltern, die, ohne die moralische Forderung aufzugeben, den Provokationen des wütenden Kindes mit Nachsicht begegnen und ihren gesellschaftlichen Höhepunkt in der schiessbereiten Armee, die sich von den streikenden Arbeiter:innen Blumen in die Gewehre stecken lässt.
8. Solidarische Akte werden begünstigt durch das tatsächliche oder wenigstens mögliche Herauslösen der Einzelnen aus schicksalsgebundener Zugehörigkeit wie Familie oder Volksgemeinschaft und die Förderung von Verbundenheit oder Mitgliedschaft in selbstgewählten und interessenbezogenen Gruppen. Zugespitzt: Die Alternative zu einer Gesellschaft mit vielfältigen Mitgliedschaften und freien Assoziationen sind intransparente Gemeinschaftsstrukturen wie Seilschaften, Sippschaften, Clans.
9. Erwartete, erzwungene oder erpresste Solidarität in nicht selbstgewählten Gruppen wie Familien, Schulklassen oder Betrieben, kann es für Einzelne nicht geben. Sie führt entweder zu Reaktanz oder Heuchelei.
10. Da Solidarität als spontaner Akt der Einzelnen nicht verstetigt werden kann, muss eine demokratische Gesellschaft Formen der dauerhaften Solidarisierung in der Bevölkerung auf Vertrags- und Gesetzesbasis finden. Aber weil Solidarität nur als freier Akt funktioniert, braucht jede gesetzliche Solidarität eine ständig neu zu bestätigende hohe Legitimität und Akzeptanz der Einzelnen. Und sie bleibt es im Kern nur solange, wie sie jederzeit in einer Abstimmung eine Mehrheit finden würde. Dieser Umstand spricht für die direkte Demokratie. Ihre komplizierten Verfahren und Umwege mit stetigem Einbezug der Bevölkerung schaffen gute Voraussetzungen für diese Akzeptanz. Um in einer grossen, pluralistischen Gesellschaft, Solidarität auf Gesetzes- und Vertragsbasis auf Dauer zu sichern, braucht es zudem allgemein akzeptierte Symbolisierungen und Geschichten von Solidarisierungsakten.
11. Selbstgerechtigkeit ist die stärkste Solidaritätsverhinderung. Nur das Bewusstsein, dass man das, was man hat, keinesfalls alles selber erarbeitet hat, sondern, dass es einem auch zum Teil zugefallen ist, geschenkt wurde und man es auch nicht immer wirklich verdient, ist die Basis einer Idee von Gerechtigkeit, die Solidarität ermöglicht.
12. Angst, Leid und Krankheit sind Grunderfahrungen von allen Menschen, die weder durch Technik noch Politik vollständig gelöst werden können, weil sie konstitutiv zur menschlichen Existenz gehören. Alle solidarischen Akte haben ihre Ursache letztlich in dieser universellen Grundkonstitution der Menschen. Die aktuelle gesellschaftliche Tendenz, Angst, Leid und Krankheit den Individuen als selbstverschuldete Zustände anzulasten, schwächt die Möglichkeiten von Solidarität.