Was tut die Kunst?

Wir sagen: Kunst ist eine Tätigkeit. Frage: Was für eine? Antwort: Es gibt drei Arten von Tätigkeiten: Die Arbeit, das Herstellen, das Handeln. Die Kunst hat sich in allen breit gemacht und ist vielleicht doch nur in allen auch noch immer diese eine, uralte, schreckliche Tätigkeit, aus der sie entstanden ist.

Wir fragen also erstens: Ist Kunst eine Arbeit? Dann wäre sie notwendig zur Erhaltung des natürlichen Lebens. Kunst, die sich als Arbeit versteht, muss beweisen, dass sie einen direkten Nutzen hat für das Überleben. Sie nähert sich der Natur an, sie will nahe sein bei den arbeitenden Menschen, sie imitiert Arbeit, sie imitiert Natur.

Sie sagt: auch die Natur ist eine Künstlerin, jeder Arbeiter ist Künstler. Aber Kunst ist künstlich und entsteht nur aus dem Mehrwert, den andere erarbeiten und nicht selber verbrauchen. Sie kann nur sein, weil andere ihre Zeit, ihre Kraft für sie opfern. Um dies zu vertuschen, glaubt die Kunst, die sich als Arbeit versteht, dass sie sich selber für die Kunst opfert. Die Heiligkeit, die die Liebhaberinnen der Kunst in den Museen zu erleben glauben, ist umso aufregender, je mehr Opfer man in den Werken erkennen kann.

(Das schlechte Gewissen der Künstler wegen ihrer freien Arbeit gegenüber der unfreien des Arbeiters ist vielleicht auch ein Grund, weshalb moderne Kunst oft nichts Hergestelltes mehr sein will, sondern nur etwas Hingestelltes. Aber auch das von anderen Hergestellte, nun als Kunst Hingestellte entkommt der Aneignung fremder Arbeit nicht.)

 

Deshalb fragen wir zweitens: Stellt Kunst etwas her?

Tischler stellen Tische her, Künstlerinnen Kunstwerke. Tische, die künstlerisch überzeugen, heissen Kunsthandwerk. Der Unterschied zwischen Kunsthandwerk und Kunstwerk ist der, dass Kunsthandwerk Gebrauchswert hat und ein Kunstwerk Sinn macht oder nach Sinn befragt werden kann oder Sinn verweigert usw. Das Kunstwerk hat also nichts, aber es macht etwas. Dieses etwas machen heisst auf Italienisch operare, ein Werk heisst Opera, von dort wiederum stammt das Wort Oper, das künstlich gemachte, das künstlich aufzuführende schlechthin: In der klassischen Oper stirbt meistens jemand den Opfertod. Die klassische Performance, also die moderne Form in der das Werden des Kunstwerks oder anders gesagt das Werden als Kunstwerk, hier und jetzt, als einmaliger, unumkehrbarer Akt der Herstellung gezeigt wird, kommt selten ohne Schmerzen, ohne Blut, ohne Selbstverletzung, zumindest ohne Selbstgefährdung aus.

Im alten Griechenland soll einst der Diktator Phalaris den Künstler x dazu beauftragt haben, ihm ein neues Opfergerät zu gestalten. Dieser goss kunstvoll einen eisernen Stier, der innen hohl war und an dessen nach innen durchlässigen Nüstern Flöten befestigt waren. Wenn man nun das für die Götter ausgewählte Menschenopfer in den Stierbauch sperrte und unten ein Feuer anzündete, so verbrannte der Mensch langsam und qualvoll, die Schmerzensschreie aber, die er ausstiess, verwandelten sich zusammen mit der heissen, entweichenden Luft durch die Flöten zu lieblicher Musik. Der Diktator, ganz entzückt und erschrocken über diese zugleich höchste Grausamkeit und Kunstfertigkeit, befahl dem Künstler, ihm die Funktionsweise der Opfermaschine zu demonstrieren, hiess ihn in den Stierbauch steigen und zündete das Feuer an. Wie nicht anders zu erwarten, waren die Hilferufe des Opfers nur als Musik zu hören, denen Phalaris entzückt lauschte, jedoch – als die Musik leiser wurde und die Töne abgehackter – befahl der Herrscher, bevor sie ganz erstarben, schnell den Stierbauch zu öffnen und den halbtoten Künstler die Klippen hinunterzuwerfen. Denn er wollte den Stier als Weihegeschenk zu seinem Ruhm nach Delphi bringen lassen, wozu dieser besser nicht durch den Tod eines Künstlers verunreinigt wurde, was den Wert der Leihgabe empfindlich geschmälert hätte. Denn sie waren heikel in Delphi und nahmen nur Geschenke von sauberer Herkunft.

So ist in der Geschichte des Stiers von Phalaris der Künstler sowohl Hersteller des Opfergeräts, Veredler und Vertuscher des Leidens des Opfers als auch erstes Opfer seiner eigenen Kunst, die doch wiederum nie seine eigene war. Und es stellt sich die Frage, konnte er nicht anders handeln? Und wenn ja, was wäre denn eine künstlerische Handlung gewesen?

So fragen wir also nach der Betrachtung der ersten beiden Arten von Tätigkeiten in Bezug auf die Kunst – der Arbeit und dem Herstellen – nach der dritten: dem Handeln. Drittens fragen wir, ob die Kunst handelt? Und wir sagen ja, die Kunst handelt.

Echt jetzt? Ja echt. Das zumindest glauben viele. Sie versteht Kunst als Handlung, oder als eine Intervention, wie es in der Kurator:innensprache heisst, oder als Anstoss oder als Aufruf zum Handeln. Warum aber dann Kunst, wenn Handeln das Ziel ist.

Der Wunsch zu handeln, verrät Ohnmacht, denn wer Macht hat, kann handeln. Und umgekehrt: wer handelt bekommt Macht. Der Wunsch nach Handlung oder der Aufruf ist also der Wunsch nach Macht oder wie es in der politischen Sprache heisst, der Wunsch nach Ermächtigung. Handlungsfähig zu werden, heisst, die Ohnmacht zu überwinden. Am Anfang der Kulturgeschichte steht die Ohnmacht gegenüber den unbekannten, unkontrollierbaren, als göttlich erfahrenen Naturgewalten. Und die erste Handlung zur Überwindung dieser Ohnmacht war das Opfer. Opfern hiess handlungsfähig werden, was wiederum bedeutete, dass Handeln Opfer hervorbrachte. Opfern und Handeln haben denselben Wortstamm. In der Ohnmacht liegt etwas Zerstörerisches, in der Überwindung der Ohnmacht durch Handlungen ebenso.

Soll die Kunst darum also nicht handeln? Antwort: Zumindest nicht echt, Kunst handelt symbolisch. Was bedeutet es zu sagen, Kunst handelt symbolisch?

Die Kunst ist Ausdrucksform der Ohnmacht und zugleich Ausgangsversuch aus der Ohnmacht. Sie ist daher ursprünglich und wesentlich mit dem Opfer verbunden. Sie begleitet das Opfer und versucht seine traumatischen Folgen zu mildern. Mit der Zeit löst sie sich vom Opfergeschehen und wird später zur Ersatzhandlung, zur symbolischen Handlung, die gerade deshalb Kunst ist, weil sie nur etwas zeigt, nur auf etwas hinweist und nichts tut, weil sie vor allem es nicht mehr tut, das Opfer. Doch wo sie wie in der Geschichte mit dem Stier direkte Handlung sein will, das aber heisst, wo sie nützlich sein will, für welche Zwecke auch immer, läuft sie Gefahr Opfer zu produzieren oder selber Opfer zu werden. Doch wir sagen auch, gute politische Kunst ist die Kunst der Ohnmächtigen. Doch sie ist es nur, solange die Ohnmächtigen ohnmächtig sind, um gute Kunst zu bleiben müsste sie also wollen, dass die Ohnmächtigen ohnmächtig bleiben.

Kunst als symbolische Handlung hat mehrere Aspekte. Sie kann erstens eine wirkliche, also eine wirksame, also eine an ihren Resultaten messbare Handlung repräsentieren. Sie kann zweitens auf eine zukünftige, wirkliche Handlung hinweisen bzw. dazu auffordern und sie kann drittens anstelle einer wirklichen Handlung stehen bzw. diese unnötig oder unmöglich machen.

Für alle drei Arten gibt es zweifellos grossartige Beispiele, die aber ebenso zweifellos zweideutig sind. Für die Betrachtungsweise der dritten Art, dass also Kunst als symbolische Handlung wirkliches Handeln verhindert, spricht erstens, dass gute Kunst vor allem dann entsteht, wo zwar Handeln nötig, aber gutes und richtiges Handeln unmöglich ist oder zweitens dort, wo wie im Krieg oder im Fortschrittswahn zu viel gehandelt wird und die Kunst den Schrecken des Handelns zeigt oder die Schönheit des Nicht-mehr-Handelns.

Die Kunst des Handelns wird in einem solchen Verständnis von Kunst zur Kunst des Nicht Handelns

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, des nicht mehr Handelns. Sie leistet somit Widerstand gegen alle, deren Slogan lautet: «Wir werden alles tun, damit…» Alles tun heisst seit den alten Opferriten und seit der versuchten industriellen Vernichtung der Juden durch die Nazis, bis zum Äussersten, bis zum Grausamsten zu gehen. Kein Zweck und sei es die Rettung der Welt rechtfertigt dieses «alles tun», dieses «whatever it takes». Das symbolische Handeln der Kunst als Handlungsverhinderung, bzw. als Handlungsaufschub und sei es nur für die Dauer ihrer Betrachtung, bringt dies zu Bewusstsein.

Kunst können sich nur die leisten, die nicht arbeiten müssen, nichts Herstellen müssen oder nicht einmal mehr handeln müssen, weil sie nicht nur das Arbeiten und Herstellen, sondern auch Handeln zu ihren Gunsten automatisiert haben. Das ist die kapitalistische, ausbeuterische Seite der Kunst, die andere Seite weist darauf hin, dass wo Kunst ist, für einen Moment die zerstörerische Seite des Handelns überwunden ist, dass nur noch gezeigt und nachgedacht werden muss, dass Ermächtigung auch durch Kontemplation und nicht nur durch Aktion zu haben ist.


Rolf Bossart, geb. 1970, Dr. theol., ist Publizist, Lehrer für Religionswissenschaft, Psychologie und Pädagogik. Er ist Mitarbeiter beim International Institute of Political Murder und Redaktor bei theoriekritik.ch.




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