George Orwell in neuen Texten und Übersetzungen
Politik und Literatur – das ist ein widerstreitendes Verhältnis. Der englische Schriftsteller Ian McEwan hat es im November in der Orwell Memorial Lecture für die Orwell Foundation behandelt, eine Rede, die in der Zeitschrift «New Statesman» abgedruckt worden ist.1 George Orwell gilt ja als politischer Schriftsteller schlechthin. Er selbst hat sich häufig, und erstaunlich selbstkritisch, mit der Frage engagierter Literatur auseinandergesetzt, ausführlich im Essay «Inside the Whale» von 1940.
Darin nimmt er als Ausgangspunkt das Werk von Henry Miller. Orwell, als Schriftsteller noch wenig bekannt, hatte Miller Ende 1936 in Paris getroffen, als er auf dem Weg nach Spanien war, um sich den Internationalen Brigaden anzuschliessen, während Miller mit dem Skandalerfolg von «Wendekreis des Krebses» (1934) seine privaten Fluchten unter anderem in den Sex dokumentiert hatte. So scheint die beiden Autoren nur wenig zu verbinden. Orwell aber gebrauchte Miller in seinem Essay 1940 als Folie, um zuerst einmal mit der politisch engagierten Literatur seiner Generation – W.H. Auden, Stephen Spender, Louis MacNeice – abzurechnen. Für die hat er nichts als Hohn übrig, da sie sich und ihre Literatur im Dienste politischer Ansprüche prostituiert habe. Erst gegen Schluss des Essays taucht die titelgebende Metapher des Wals auf, in einer grotesken Beschreibung dessen, was gemeinhin mit einer anderen Metapher als Leben im Elfenbeinturm bezeichnet wird. «Der Bauch eines Wales ist eine Höhle, gross genug, um einen Erwachsenen aufzunehmen. Man ist dort in einem ausgepolsterten Raum, der genau passt, mit einer dicken Speckschicht zwischen sich und der Aussenwelt. So hat man die Möglichkeit, sich mit absoluter Gleichgültigkeit gegenüber allem, was immer draussen vorgeht, zu verhalten.»2
Orwell entwirft mit diesem Bild die Dichotomie von öffentlichem Engagement und privatem Rückzug, von Literatur, die sich auf die aktuelle politische Situation einlässt versus jene, die sich auf die subjektive Befindlichkeit konzentriert. Apodiktisch, und einigermassen verblüffend, zieht er sodann mit Bezug zu Henry Miller den Schluss: «Meiner Meinung nach haben wir es mit dem einzigen wertvollen Erzähler zu tun, der in den letzten Jahren in der englischsprechenden Welt erschienen ist.»3 Nun führt die deutsche Übersetzung, die Miller als den «einzigen wertvollen Erzähler» bezeichnet, in die Irre. Das englische Original nennt Miller «the only imaginative prose writer of the slightest value»,4 und Orwell verbindet damit explizit kein ästhetisches Urteil. Miller sei «merely symptomatic», weil er als Einziger auf die aktuelle Situation angemessen – nämlich «imaginative» – reagiere. Und diese Situation beurteilt Orwell, im Rahmen seiner damals verdüsterten Einschätzung der Weltlage, als hoffnungslos: Alle linken und liberalen Politiken und jedes politische Engagement seien gescheitert, die Welt laufe unaufhaltsam auf umfassende totalitäre Gesellschaften zu. Miller kontere diese Vergeblichkeit der Politik mit dem einzigen Mittel das übriggeblieben sei: indem er die Politik ignoriere.
Innerhalb wie ausserhalb des Wals
Ian McEwan will sich in seiner Lecture mit diesem trostlosen Verdikt nicht ganz abfinden. Er hat 2019 mit «The Cockroach» («Die Kakerlake») einen Brexit-Roman geschrieben, der nicht sehr gnädig aufgenommen worden ist. So ist sein Ringen um den politischen Aspekt der Literatur auch Selbstvergewisserung. Aber er will vor allem zeigen, dass Orwell selbst wechselnde und widersprüchliche Positionen einnahm, doch womöglich eine Lösung für das Dilemma gefunden hat.
Dazu greift McEwan vorerst auf Orwells Tagebücher zurück. Orwell hat während des Kriegs zwei Notizbücher parallel geführt. In einem notierte er alltägliche Ereignisse und Begegnungen ebenso wie poetologische Reflexionen, das andere verstand er explizit als Kriegstagebuch. Beide Tagebücher sind im Englischen vom langjährigen Orwell-Herausgeber Peter Davison schon 2009 in einer Ausgabe mustergültig ineinander verschränkt worden. McEwan zitiert daraus beispielhaft die Einträge von Anfang September. Am 3. September 1939 analysiert Orwell die Kriegserklärung Grossbritanniens an Nazi-Deutschland. Zwei Tage später listet er die Ernte in seinem Garten bezüglich Qualität wie Quantität minutiös auf und mutmasst über die Wetteraussichten. McEwan sieht darin einen Ansatz zur Auflösung oder zumindest zur Bewältigung der unausweichlichen Dichotomie: «Diese beiden Tagebucheinträge demonstrieren eine von Orwells Leistungen – sowohl innerhalb wie ausserhalb des Wals zu leben und sich zu entwickeln.»5
Ein weiteres Argument lässt sich aus Orwells literarischem Werk beziehen. Der politische Gehalt von Orwells späten und erfolgreichsten Büchern «Animal Farm» (1945) und «Nineteen Eighty-Four» (1949) ist ja augenfällig. Letzteres hat in den letzten Jahren angesichts der politischen Situation eine neue Aktualität erhalten. Nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten Ende 2016 geriet der Roman plötzlich wieder auf die Bestsellerlisten. War nicht durch eine schamlose Propaganda in Rundfunk, Fernsehen und Neuen Medien ein Paralleluniversum geschaffen worden, das jetzt als neue Realität gesetzt werden sollte? Hatte nicht die Lüge triumphiert? Im ohnmächtigen Protest wurde Trump zum Beispiel in eine Szene aus dem 1984 gedrehten Film «1984» montiert, als alles überwachender Big Brother, der verlangt, wir sollten glauben, dass zwei plus zwei fünf ergibt. Das war ein einprägsames Bild. Aber auch eine zwiespältige, womöglich hilflose Form der Kritik: Donald Trump war und ist vermutlich stolz darauf, dass er mit dem allmächtigen Big Brother gleichgesetzt wird.
Nun ist der Einsatz von Propaganda und Lüge historisch nichts Neues. Beim unbestechlichen Franz Kafka findet sich das epigrammatisch. In «Der Process», 1915 veröffentlicht, erklärt der Geistliche im Dom dem fragenden Bankprokuristen Josef K.: «‹man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.› ‹Trübselige Meinung›, sagte K. ‹Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.›»6 Das postfaktische Zeitalter ist da schon vorformuliert.
Dagegen wird gerade Orwell als Heilmittel empfohlen. Kurz nach dem Amtsantritt von Donald Trump erschien in England ein grafisch schön gestalteter Band mit dem ebenso einfachen wie programmatischen Titel «Orwell on Truth».7 Er versammelt Passagen aus Essays und Romanen, in denen Orwell den Kampf gegen die Verschleierung der Wahrheit propagierte. Seine Worte seien, heisst es einleitend, «eine perfekte Verteidigung gegen unsere Welt voller Fake News und Verwirrung jenseits der Wahrheit»8. Tatsächlich spiesst Orwell im publizistischen Handgemenge Humbug, Euphemismen und Ausflüchte erbarmungslos und erfolgreich auf. Grundsätzlich ist sein Wahrheitsbegriff einfach. Es gibt die Wahrheit, und durch gesunden Menschenverstand, durch Anstand und Ehrlichkeit lässt sie sich durch alle propagandistischen Verschleierungen und Lügen hindurch erkennen. Das macht Orwell anziehend, als Gestalt und als Haltung. Es reicht aber nicht immer.
Über Nationalismus (nicht nur)
Im deutschsprachigen Raum wird Orwell seit Jahrzehnten vom Diogenes-Verlag betreut. Der hat alle eigenständigen Orwell-Werke in Einzelbänden vorgelegt, ausser dem erfolgreichsten und lukrativsten Buch, «Nineteen Eighty-Four», an dem Ullstein die Übertragungsrechte besass. Innerhalb einer elfbändigen Werkausgabe hat Diogenes drei Sammelbände mit Essays und politisch-polemischen Artikeln publiziert. Dennoch gibt es weiterhin auf deutsch Unveröffentlichtes. Anfang 2020 ist bei dtv ein erstmals ins Deutsche übertragener Text von Orwell erschienen: «Über Nationalismus» («Notes on Nationalism»), ein längerer Zeitschriftentext aus dem Jahr 1945.9 Der schmale Band liegt bereits in der dritten Auflage vor. Wobei für einmal schon der englische Originaltitel in die Irre führt. Orwell handelt nicht (nur) vom Nationalismus, wie er sich seit dem 19. Jahrhundert mit dem Nationalstaat herausgebildet hat. Er versteht darunter vielmehr jedes geschlossene Gedankengebäude mit Abschliessungs- und Ausgrenzungscharakter, vom Kommunismus über den Katholizismus bis zum Konservatismus.
Im Zeichen der Totalitarismusthese untersucht er «die Geisteshaltungen, die allen Formen von Nationalismus gemeinsam sind».10 Die Terminologie mag irritieren, und sie verstellt die Analyse des historischen und akuten Nationalismus, wie Gustav Seibt in einer Besprechung in der «Süddeutschen» moniert hat.11 Zu dem, was man als Habitus, als Mentalität, als Ideologie bezeichnen könnte, liefert der Essay aber anregende Ideen. Drei Kriterien charakterisieren für Orwell diese Geisteshaltung: Obsession, Instabilität und Gleichgültigkeit gegenüber der Realität. Das ‹nationalistische Denken› beschäftige sich erstens mit kaum etwas anderem als damit, die Überlegenheit der eigenen Gruppe zu behaupten. Der Inhalt der Weltanschauung könne aber, zweitens, instabil bzw. beliebig sein, was den scheinbar bruchlosen Übergang von einer Weltanschauung zu einer anderen erkläre. Und Nationalisten seien drittens bereit, im Dienste der eigenen Sache unliebsame Tatsachen zu übersehen bzw. umzuinterpretieren, indem sie sich von anderen Teilen der Welt abschotteten. Ja, das entspricht der zeitgenössischen Terminologie von der Blase.
Orwell wettert vor allem gegen die verführbare «Intelligenzia» – er hat immer ein wenig damit kokettiert, bloss ein Mann des einfachen Volkes zu sei. Der Soziologe und «Kursbuch»-Herausgeber Armin Nassehi will diese Analyse in einem Nachwort aktuell nutzbar machen, vor allem gegen rechts und – als Reverenz gegenüber dem Engländer Orwell – gegen den Brexit, aber auch gegen «militante Formen des Klimaprotests».12 Allerdings läuft Orwell selbst in eine Aporie hinein: Der Nationalist ist seines Erachtens unbelehrbar – doch den Intellektuellen, die dafür besonders anfällig seien, empfiehlt er als Abhilfe einzig, selbstkritisch die eigenen Vorurteile zu befragen.
So zeigt der Essay Orwells Stärken und Schwächen. Seine Ideologiekritik ist anschaulich, detailreich, bleibt aber phänomenologisch, argumentiert vom Resultat her und zeigt nicht, wie eine Ideologie entsteht, wie sich verschiedene Interessen, Antriebe, Motive erst zu einem handlungsanleitenden Alltagsverstand im Sinne von Antonio Gramsci verbinden.
Aus dem zerstörten Deutschland
Anfang 2021 hat der kleine Comino-Verlag eine Neuübersetzung von «Down and Out in Paris and London» vorgelegt.13 Orwells erstes, Anfang 1933 erschienenes Buch fristet im Deutschen eher ein Schattendasein. Die Textüberlieferung ist komplex. Gegenüber der eingereichten Fassung verlangte der Verleger Victor Gollancz Änderungen insbesondere von sexuell unterlegten Passagen, die seines Erachtens von der damals noch mächtigen Zensurbehörde nicht akzeptiert würden. Orwell übernahm die meisten, aber nicht alle; später schlug er aufgrund einer von ihm sehr geschätzten französischen Übersetzung des Buchs aus dem Jahr 1935 weitere Änderungen vor. Insbesondere geht es dabei um den Gebrauch französischer Wörter und des Pariser Argot. Der Übersetzer der neuen Version, Peter Hillebrand, versucht sich gegenüber der ersten deutschen Übertragung entsprechend an einer kräftigeren Sprache, die näher am Alltag bleibt, und versieht den Band zudem mit hilfreichen Erläuterungen. Ferner sind das Vorwort des rumänischen Schriftstellers Panait Istrati sowie eine kurze «Einleitung» von Orwell aus der ersten französischen Ausgabe abgedruckt.
Im Herbst 2021 hat dann Comino – und zwar auf Englisch – unter dem Titel «Ruins» Berichte vorgelegt, die Orwell als Kriegskorrespondent zwischen Februar und Juni 1945 aus Frankreich, Deutschland und Österreich geliefert hatte. 14
Dieser Band nun enthält einen Text, der selbst im Englischen nach dem Erstdruck von 1945 nie mehr nachgedruckt worden ist, nicht einmal in der zwanzigbändigen Gesamtausgabe. Entsprechend sind im Online-Magazin der Orwell Society das Verdienst und der Mut des kleinen deutschen Verlags anerkannt worden. Fast gleichzeitig hat der Verlag C.H. Beck ein Buch mit Orwell-Texten unter dem Titel «Reise durch Ruinen» publiziert.15 Offenbar sind die beiden Ausgaben unabhängig von einander entstanden. Bemerkenswerterweise haben sie praktisch das gleiche Titelbild, eine Aufnahme über das kriegszerstörte Köln aus einer vom gleichen Kamerastandpunkt aus aufgenommenen Serie, wobei C. H. Beck das Titelbild schon beinahe schönfärberisch einfärbt.
Von der Zusammenstellung her gibt es etliche Unterschiede. «Reise durch Ruinen» trägt den Untertitel «Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945», und der Band verzichtet konsequenterweise auf Orwells Berichte aus Frankreich. Das mag unter verlegerischem Aspekt Sinn ergeben, um den Band auf den deutschen Markt zu fokussieren. Aber für die Berichte Orwells aus Deutschland bleiben diejenigen aus Frankreich ein wichtiges Gegenstück, weil die Momentaufnahmen aus Paris Motive für die französischen Vorstellungen zur Nachkriegsordnung plausibler machen.
Orwell weilte als Kriegskorrespondent für den Londoner «Observer» und die «Manchester Evening News» nicht direkt an der Front, reiste aber knapp hinter den kämpfenden Truppen von Köln via Nürnberg und Stuttgart nach Wien, wo die Überreste der deutschen Armee in Norditalien eintrafen, die eben gerade kapituliert hatte. Seine Berichte sind schnörkellos, klar, beschreiben die Zerstörungen der deutschen Städte und Infrastruktur. Immer geht er auf die Menschen zu, schildert die Gemütslage alliierter Soldaten und deutscher ZivilistInnen, die katastrophale Situation befreiter russischer Kriegsgefangener. Zugleich behandelt er grundsätzliche Fragen. So belegt er, wie die meisten Deutschen das Geschehene und das Terrorregime bereits zu verdrängen beginnen; er beschreibt, wie die neuen Militärverwaltungen funktionieren, fragt nach dem Schicksal der Millionen von Flüchtlingen – ehemaligen ausländischen ZwangsarbeiterInnen ebenso wie Deutschen – und erörtert mögliche Nachkriegsordnungen. Die Comino-Ausgabe enthält zudem drei zusammenfassende Berichte für amerikanische Zeitungen und den wichtigen Aufsatz «Revenge is sour» von 1945. In ihm rät Orwell von einer Rachejustiz, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten vollzogen wurde, ab, meint zugleich am konkreten Beispiel, wie, durchaus verständliche, persönliche Rache ebenfalls keine Lösung für die erlittenen Traumata darstelle. Die deutsche Ausgabe bei C.H. Beck ihrerseits schliesst neben «Rache ist sauer» zwei frühere Rezensionen zu Hitlers «Mein Kampf» und eine Aufsatzsammlung von Thomas Mann ein sowie einen ebenfalls grundsätzlichen Artikel «Die Weltlage» von 1945. In ihm skizziert Orwell die kommende Aufteilung der Welt in Einflusszonen – das weist voraus auf «Nineteen Eighty-Four», in dem sich eine solche Aufteilung in Ozeanien mitsamt dem Landefeld 1, Eurasien und Ostasien bereits vollzogen hat.
Ausgaben
Womit wir beim Zentralwerk von Orwell angekommen wären. Zuerst einmal bei dessen deutscher Verlagsgeschichte.
«Nineteen Eighty-Four», 1949 erschienen, wurde bereits 1950 von Kurt Wagenseil für den Diana Verlag in Zürich übersetzt.
Der Verlag verdient einen eigenen kleinen Abschnitt. 1935 gründeten Simon und Sophie Menzel in Zürich den Humanitas Verlag, in dem Autoren, die in Deutschland nicht mehr erscheinen konnten, publiziert werden sollten, unter ihnen Robert Musil, Ernst Weiss und Friedrich Torberg. Von Musil erschien zum Beispiel 1936 der «Nachlass zu Lebzeiten», seine ebenso selbstironisch wie bitter betitelte letzte eigenständige Publikation. Nachdem der Humanitas Verlag ihrer Kontrolle entglitten war, gründeten die Menzels 1947 den Diana Verlag. Er profilierte sich bald mit Übersetzungen englischsprachiger Literatur, darunter Orwells «Nineteen Eighty -Four». In einer ironischen Fussnote hat Kurt Wagenseil 1953 auch den von Orwell einst so gelobten «Wendekreis des Krebes» von Henry Miller übersetzt; ja, er wurde der Übersetzer des Gesamtwerks von Henry Miller, neben einer Unzahl anderer Titel. Der Diana Verlag existiert dem Namen nach noch heute, gehört allerdings dem internationalen Konglomerat Penguin Random House und produziert nicht sehr gehobene Unterhaltungsliteratur.
Die Ausgabe des Diana Verlags von 1950 betitelt das Werk auf dem Umschlag und dem Buchrücken als «1984», führt aber im Vorsatzblatt die korrekte Übersetzung des Originals, nämlich das ausgeschriebene «Neunzehnhundertvierundachtzig». Wagenseils Übersetzung ist durchaus solide und brauchbar. Dann, 1981, wurde das Buch vom bewährten Michael Walter für Ullstein neu übertragen und erhielt dabei den Kurztitel «1984», der sich seither im Deutschen durchgesetzt hat. Jahrzehntelang blieb diese Übersetzung massgeblich. Wagenseil hatte einen der berühmtesten Sätze der politischen Literatur noch personalisiert mit «Der Grosse Bruder sieht dich an» übersetzt, während Walter den allumfassenden Überwachungsanspruch verschärfte: «Der Grosse Bruder sieht dich». Mit der Walter-Übersetzung wurden die neuen Erziehungsmittel der Diktatur nicht mehr als «Neusprache» und «Zwiegedanken», sondern als «Neusprech» und «Doppeldenk» sprichwörtlich.
Dann, Anfang 2021, erschienen auf einen Schlag acht neue deutsche Übersetzungen von «Nineteen Eighty-Four». Ja, acht.
Das hatte ein banal kommerzielles Motiv: Das Copyright für die Werke von Orwell lief siebzig Jahre nach dessen Tod ab, also verschafften sich viele deutsche Verlage ein neues Copyright auf eine eigenständige Übersetzung.
Um die Augen kam dabei kaum jemand herum. Mindestens ein Auge blickt einen von fast allen Buchumschlägen der neuen Ausgaben an. Augen repräsentieren ja auch ein zentrales Motto des Buchs: «Big Brother is watching you». Darin steckt ein doppeltes Motiv. Erstens der Mensch, der Grosse Führer, der alle überblickt und überwacht. Zweitens das technologische Mittel, der Teleschirm, der diesen Blick erst ermöglicht.
Orwells Buch handelt von Herrschaftstechniken. Das macht es zeitlos aktuell. Von der globalen Telefonüberwachung des NSA über Gesichtserkennungssoftware in West und Ost bis zu Zwangslager für UigurInnen. Dabei gab und gibt es Wellen zusätzlicher Popularität. Während den Anfängen des Kalten Kriegs. Aufs titelgebende Jahr 1984 hin. Wenn sich eine neue Entwicklung wie die schrankenlose Überwachung durch CCTV zeigt. Oder wenn eine neue politische Figur auftaucht: Donald Trump als manipulativer und lügnerischer Big Brother.
Das Schlimmste
Diese flottierende Bedeutung hängt auch damit zusammen, dass Orwell in seiner fiktiven Diktatur verschiedene Herrschaftstechniken am Werk zeigt. Zuerst und am spektakulärsten die technologische: Das Fernsehen war noch kaum erfunden, als der Roman schon eine Kamera in alle Wohnzimmer installierte, die jede Bewegung und jeden Ton aufzeichnete – oder fast jede, denn in toten Winkeln und im durch Musik übertönten Flüstern konnte sich vorerst noch Widerstand entwickeln. Aber Technologien sind selbst in Science-Fiction-Romanen auf die Dauer langweilig. Im Übrigen garantieren Orwells Teleschirme bloss den ersten Schritt: die Überwachung. Der zweite, wichtigere Schritt ist dann die Umerziehung. Dazu muss die bisherige Realitätsauffassung, ja, das Wahrheitsverständnis zerstört werden. Der Parteifunktionär O´Brien, der den zweifelnden, ja abtrünnig gewordenen Winston Smith zum wahren Glauben zurückführen soll, veranschaulicht das am handfesten Beispiel. Wie viele Finger, fragt er, siehst du, wenn ich zwei hochrecke und dann nochmals zwei: Nein, nicht vier, sondern fünf. Zwei plus zwei ist fünf, ist das Mantra derjenigen, die ihre eigene Realität als die wahre durchsetzen wollen.
Solche Umerziehung soll durch Repression und zugleich durch ideologische Bearbeitung erreicht werden. Den historischen Hintergrund dafür lieferten Faschismus und Stalinismus.
Ja, es kommen Stiefel vor, mit denen Abweichlern das Gesicht zertreten wird, und Rizinusöl, das nicht nur den Magen, sondern auch die Selbstachtung zerstört. Ja, es wird mit Elektroschocks gefoltert. Wenn das nicht reicht, weiss der Grosse Bruder um das Schlimmste, das jeder einzelne Mensch fürchtet. Bei Winston Smith sind es Ratten, die ihm drohen, das Gesicht zu zerfressen. Das hatte einen lebensgeschichtlichen Hintergrund, Orwell lernte Ratten im Schützengraben im Spanischen Bürgerkrieg hassen. Die Drohung mit dem Schlimmsten führt zum Verrat an dem, was einem als Teuerstes gilt, bei Smith der Geliebten.
Mindestens so wichtig wie diese gewalttätigen Mittel sind freilich die ideologischen Mechanismen, der Kampf um die Köpfe. Fürs ganze Volk dient dazu die Ablenkung auf Feinde, sei es durch einen immerwährenden Krieg gegen aussen, sei es durch den Krieg gegen die Feinde im Innern: Beides wird in kollektiven Hass-Orgien gebündelt. Am Einzelnen, an Winston Smith wird mit langen Gesprächen gearbeitet, die ihn dialektisch oder sophistisch davon überzeugen sollen, dass die Partei immer recht hat.
Gewalttätige Repression. Technologische Überwachung. Ideologische Unterwerfung. Diesen drei Herrschaftstechniken entsprachen wiederum Phasen der Rezeption von «1984». Zuerst die einseitige Instrumentalisierung im Zeichen des Antikommunismus. Dann die Technikkritik anlässlich von Volkszählung und neuen Medien. Schliesslich die Ideologiekritik, die sich auch an so etwas wie am «Konsumterror» abarbeitete.
Selbstunterwerfung
Doch die Umerziehung reicht dem Regime nicht: Es geht ihm um Selbstunterwerfung des Einzelnen. «Wenn du dich uns schliesslich fügst, muss es aus freiem Willen geschehen», erklärt der Folterer. «Wir bekehren ihn [den Häretiker], wir ergründen sein Innerstes, wir formen ihn um. Wir brennen ihm alles Böse und jede Illusionen aus; wir bringen ihn auf unsere Seite, nicht dem Anschein nach, sondern aufrichtig, mit Herz und Seele. Wir machen ihn zu einem von uns, bevor wir ihn töten.»16
Wie sieht es heute mit Herz und Seele aus? Bereits 1999 wurde im holländischen Fernsehen erstmals die Sendung «Big Brother» ausgestrahlt, die sich in Name und Prinzip explizit, wenn auch angeblich ironisch, auf Orwell berief. Sie hat in den vergangenen zwanzig Jahren Ableger in knapp siebzig Ländern gefunden. Das Format zeigt zwar Ermüdungserscheinungen
, doch immer wieder spriessen neue Soziotope, in denen Menschen sich einem allgegenwärtigen öffentlichen Blick unterwerfen.
Dieser millionenfache fremde Blick wird nicht mehr als Überwachung empfunden, sondern die Selbstentblössung ist zum lockenden Ziel geworden. Selfies und Facebook inszenieren den freiwilligen Narzissmus als vermeintliche Selbstbestimmung. Die gerät allerdings ihrerseits in eine Dialektik der Herrschaft, da sie weiterhin von Algorithmen, überforderten KontrolleurInnen und der Unzuständigkeitserklärung von Mark Zuckerberg gesteuert wird.
Dagegen wird zuweilen ein wenig nostalgisch das Gegenbild beschworen. In dem kürzlich erschienenen Band «Orwell on Truth» wird ja der Heilige George als aufrechter, ehrlicher – auch spezifisch englischer – Denker präsentiert, der alle Phrasen und Lügen mit dem Schwert der Wahrheit durchhaut.
Gute Absichten
Aber reichen die gute Absicht und die reine Sprache gegen Fake News? Orwell ist da zuweilen schlauer als seine VerehrerInnen. Zuerst einmal geht es um die Analyse von Herrschaft und Lüge, bevor man sie treuherzig bekämpfen kann. Das Regime in «1984» ist ein vielfach gegliedertes, komplex austariertes Ganzes.
Wie wird das nun in den neuen Übersetzungen umgesetzt? Orwells Sprache ist nicht eben avantgardistisch oder avanciert, sondern zumeist Gebrauchsprosa, was sich durchaus funktional aus dem Gestus des ganzen Buchs begründen lässt. Da können sich die verschiedenen deutschen Versionen nicht stark unterscheiden, obwohl, oder weil, sich auch renommierte Leute dahinter gemacht haben: Gisbert Haefs (Manesse), Eike Schönfeld (Insel), Frank Heibert (Fischer), Lutz.W. Wolff (dtv), Jan Strümpel (Anaconda), Karsten Singelmann (rowohlt), Simone Fischer (Nikol), Holger Hanowell (Reclam).17
Eine einlässliche, detaillierte Studie zu den acht neuen Übersetzungen hat Julia Rosche vorgelegt.18 Nach differenzierten Vergleichungen schliesst sie: «Tatsächlich lesen sich diese Übersetzungen über weite Teile hinweg wie gut gekochter Einheitsbrei.»
Das stimmt als Gesamturteil. Dennoch lassen sich anhand zweier zentraler Felder doch unterschiedliche Geschmacksnuancen erkennen. Erstens bei den klassischen Slogans. Zweitens beim Konzept von «Neusprech».
Wie man die übergreifende Sentenz «Big Brother is watching you» übersetzt, zeigt ein jeweils unterschiedliches Verhältnis von Subjekt/Objekt, von Herr/Knecht, von Kontrolle/Fürsorge an. Wie man die Erörterungen zu «Neusprech» übersetzt, zeigt, wie Wirkungsmechanismen von Sprache und Ideologie eingeschätzt werden.
«Big Brother is watching you»: Das Schlagwort wird in fünf verschiedenen Versionen übersetzt, alles in Grossbuchstaben geschrieben. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH. (Michael Walter, Holger Hanowell, Simone Fischer) DER GROSSE BRUDER WACHT ÜBER DICH. (Jan Strümpel) DER GROSSE BRUDER HAT DICH IM BLICK. (Eike Schönfeld) BIG BROTHER IS WATCHING YOU. (Karsten Singelmann, Lutz-W. Wolff ) DER GROSSE BRUDER BEOBACHTET DICH. (Gisbert Haefs) Die englische Version zu belassen ist eine Verlegenheit, die sich als Besonderheit tarnt. «im Blick haben» tönt abschwächend bürokratisch; «sehen» ist sachlich nüchtern. «beobachten» enthält schon ein Gran der Bedrohung in sich. «Der Grosse Bruder wacht über dich» – das spielt mit der Doppeldeutigkeit und trifft die als Fürsorge getarnte Drohung wohl am besten. Julia Rosche allerdings findet diese Version «zu nett». Aber das ist gerade einer der Effekte, die Orwell darstellen will. Der grosse Bruder ist nicht nur Furcht einflössend, sondern auch Schutz gebend. Er ist der Seelsorger, der über einen wacht und zugleich bewacht.
Des Grossen Bruders zentrale Mittel in «1984», das bisherige Wahrheitsverständnis zu zerstören, sind Neusprech und Doppeldenk. Durch Doppeldenk sollen alle Worte das Gegenteil ausdrücken von dem, was sie bisher bedeuteten. Wenn also das Land Ozeanien, in dem der Grosse Bruder herrscht, Krieg führt, so bedeutet dies, dass er in Wahrheit für den Frieden arbeitet. Die drei Slogans der Partei heissen: «Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke». Da werden nicht ganz unübliche Euphemismen ins kräftige Paradox zugespitzt. So weit, so eingängig.
Mit Neusprech geht es dem Regime allerdings darum, «alle anderen Denkweisen unmöglich zu machen»19. Orwell hat etliche Mühe darauf verwendet, eine vereinfachte, zugleich die Realität verformende Sprache auf eine linguistisch überzeugende Weise zu entwerfen; tatsächlich liebäugelte er eine Zeitlang ernsthaft mit Esperanto. Neben Euphemismen treten als grundlegende Techniken Zusammenziehung, Abkürzungen, Zusammensetzungen.
Dahinter steht das Verhältnis von Denken und Sprache. Das Wort «frei» konnte, heisst es, nicht mehr im alten politischen Sinn gebraucht werden, da es politische und geistige Freiheit ja nicht mehr gab. Eike Schönfeld macht daraus: da die Freiheiten «nicht einmal mehr als Konzept existierten und daher zwangsläufig namenlos waren.» Andernorts wird aus dem «Konzept» der Freiheit eine «Idee», was nicht unrichtig, aber doch etwas luftiger ist. Wenn aber Gisbert Haefs und Lutz-W. Wolff übersetzen, «Begriffe» wie politische Freiheit müssten namenlos bleiben, dann sind der «Begriff» wie der «Name» der Sache auf der gleichen Ebene angesiedelt und wird die Aussage tendenziell tautologisch. Und wenn es bei Jan Strümpel heisst, es habe die politische Freiheit als Idee nicht mehr gegeben, und daher sei sie «zwangsläufig unbekannt» gewesen, dann geht durch das «zwangsläufig», nun wirklich tautologisch, die ganze realitätsbildende Funktion der Sprache verloren.
Das Ende
Zum Schluss des Romans scheint die einverständige Unterwerfung auch bei Winston Smith erreicht. Die Unterwerfungsszene beginnt damit, dass Winston Smith im Café, in dem er sich durch Schachspielen und Gin betäubt, die von der Partei geforderte Formel in den Staub auf der Tischplatte schreibt: «2 + 2 = 5».
Es gibt dazu eine kuriose textkritische Fussnote.20 Nachdem in der ursprünglichen Version diese Formel immer vorhanden war, tauchte in einer neuen offiziellen englischen Ausgabe von 1957 plötzlich folgende Zeile auf: «2 + 2 = ». Sie wurde noch bis mindestens 1987 nachgedruckt. Auch Michael Walter vermeldete 1984 in der deutschen Ausgabe: «2 + 2 = », was in der Taschenbuchausgabe des Ullstein-Verlags mindestens bis 1994 bestehen blieb. Sollte mit der Leerstelle beim Rechnungsresultat insgeheim eine weiter bestehende Oppositionshaltung oder zumeist ein Zweifel von Winston ausgedrückt werden? Nun, mittlerweile steht unzweifelhaft fest, dass es sich um einen Setzfehler handelte, und alle Versionen haben ihn seither korrigiert: «2 + 2 = 5». Als weltweit einziger Übersetzer hatte übrigens Karl Wagenseil 1950 eine eigenständige Variante gefunden, die vielleicht ebenfalls eine subversive Botschaft transportieren sollte: «2 x 2 = 5».
Leider ist es nichts mit dem subversiven Widerstand, weder durch eine Leerstelle noch durch ein Multiplikationszeichen. Zweifellos ist die Unterwerfung von Winston Smith am Ende komplett: «Zwei gingeschwängerte Tränen rollten ihm über die Nasenflügel. Aber jetzt war alles gut, es war alles in Ordnung, der Kampf war zu Ende. Er hatte sich selbst überwunden. Er liebte den Grossen Bruder.»21
Das ist ein starkes, sinnfälliges Bild, aber es wird nicht ganz konsequent erreicht. Der letzte Anstoss zu dieser unterwürfigen Liebe ist nämlich die im Teleschirm verkündete Meldung, die Heere des Grossen Bruders hätten einen gloriosen Sieg errungen. Diese Bezugnahme auf die rituell verkündeten Siegesmeldungen wirkt wie aufgeklebt, reduziert die vielfältigen Unterwerfungstechniken des ganzen Romans unnötig auf eine.
Natürlich Fake News
Für die von Orwell beschriebenen Mechanismen von Neusprech und Neudenk lassen sich zahlreiche aktuelle Beispiele finden. Im England von Boris Johnson wollte die Regierung das Wort «Brexit» aus dem Wortschatz streichen, weil der Brexit angeblich geschafft, erledigt war, und als mit einem neuen Vorschlag internationales Recht gebrochen werden sollte, so diente er angeblich nur dazu, dieses internationale Recht souverän zu festigen.
Und dann haben wir natürlich die Fake News. Donald Trump hat behauptet, er habe den Begriff, wie so vieles in der Welt, geschaffen. Zweifellos hat er ihn enorm popularisiert und zwar als politischen Kampfbegriff von rechts. So erhob er den Vorwurf gegenüber seinen Gegnern in jedem zweiten seiner zahllosen Tweets. Eine Trump-Sprecherin setzte sogar den genuin Orwellschen Begriff «alternativer Fakten» in die Welt. In Deutschland spricht etwa die Alternative für Deutschland weiterhin davon, die Lügenpresse produziere nur Fake News. Auch unter den gegenwärtigen Corona-Skeptikerinnen und Impfgegnern wird den Medien, Politikerinnen und Wissenschaftlern öfters vorgeworfen, sie verbreiteten nur Fake News.
Auf der anderen Seite wissen wir, dass mittlerweile tatsächlich viele falsche Fakten gezielt produziert werden, Fake News im Wortsinn, sei es durch russische Websites oder US-amerikanische algorithmisierte bots, Computerprogramme, die eigenständig ihnen einmal gesetzte Aufgaben abarbeiten.
Mit dem Begriff werden also zwei sehr verschiedene Sachverhalte bezeichnet: Einerseits ist es die Produktion neuer fragwürdiger Informationen/Fakten, andererseits ein polemischer Vorwurf gegen vorhandene Informationen.
Allerdings kümmern sich Trump oder radikale AfD-Anhängerinnen oder Impfverächter kaum darum, ob sie selbst wahrheitsgetreue Fakten verbreiten oder ob sie lügen. Ihr Vorwurf der Fake News verwirrt ins Spiegelkabinett, und die Verschwörungstheorien drehen sich im Kreis der sich selbst bestätigenden, weil bislang angeblich «verleugneten» oder «alternativen» Fakten. Kritik prallt daran ab.
Dennoch: Wenn man das akzeptieren würde, müsste man mit Kafka seufzen: «Trübselige Meinung. Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.» Dagegen muss und kann die Lüge weiterhin bekämpft werden. Auch mit Orwell und «Nineteen Eighty-Four».
So können Lügen durch Übersteigerung der Lächerlichkeit preisgegeben werden, wie es vor allem von Satirikerinnen und Satirikern im Fernsehen und auf den Social Media versucht wird.
Leider reicht auch die Satire nicht immer. Die Aufgabe bleibt, zu zeigen, wie das Lügen funktioniert, welche Mittel verwendet werden, wie damit welche Menschen überzeugt werden können und welche Konsequenzen daraus entstehen. Man muss also nicht die Lüge, aber das Lügen als Technik ernst nehmen, um dagegen angehen zu können.
In «1984» finden sich einige Mittel dazu. Die grösste Lücke des Romans besteht allerdings, krude gesagt, darin, dass er sich nur um den Mittelstand kümmert. Winston Smith arbeitet ja, wie seine wenigen Bekannten, im Ministerium für Wahrheit, dem Minitrue, ist also im ideologischen Kampf beschäftigt. Die Proles hingegen, «neunzig Prozent der Bevölkerung», kommen nur als dumpfe Masse vor, zu einem bestimmten Zeitpunkt für den Intellektuellen Smith eine naive Hoffnung, dann wieder blosse Staffage. Das ist in der Fiktion gerechtfertigt. Aber es lässt die soziale Verankerung der Handlung in der Schwebe. Dass sich IdeologInnen auf, sagen wir, Trump oder auf Christoph Blocher eingelassen haben, liegt angeblich in der Luftigkeit ihrer Ansichten begründet, wie sie unter dem Stichwort des «Verrats der Intellektuellen» immer wieder beklagt worden ist.
Doch dieser Klage drohen zwei Gefahren. Die erste ist ein Anti-Intellektualismus, wenn komplexes Denken abgewertet oder ihm generell Käuflichkeit unterschoben wird. Dem erlag Orwell gelegentlich, da er sich rühmte, das einfache Volk zu vertreten. Die zweite Gefahr besteht umgekehrt darin, die Situation der Intellektuellen zu verallgemeinern. In der Gesellschaft von «1984» wird die Sicherstellung der ökonomischen Basis für Winston beiläufig geregelt oder an die Proles abgeschoben. Gleiches geschieht in aktuellen populärkulturellen Dystopien wie «Hunger Games» (2012-2015) oder «Snowpiercer» (2013); in letzterem Film, der zuweilen als scharfe antikapitalistische Kritik gefeiert worden ist, wird das eindrückliche, aber unterkomplexe Bild verwendet, dass die hinten im Zug schuftenden Menschen als Nahrungsmittel ihren eigenen Scheissdreck vorgesetzt bekommen.
In der Konsequenz werden dadurch politische Auseinandersetzungen auf den Kampf der Werte reduziert – für oder gegen bestimmte Anschauungen. Wie es gegenwärtig am Erfolg populistischer Bewegungen diskutiert wird: Geht es vorrangig um (kulturelle) Werte oder um (ökonomische) Interessen? Bedient der neue Populismus nur noch kulturell-moralische Vorstellungen, oder gibt es weiterhin eine «politische Ökonomie des Populismus»22?
Orwell verbleibt in seinem Roman im Rahmen der politischen Instrumentalisierung von Werten. Zu deren Analyse liefert er freilich eine Fülle von Bildern und Anregungen.
1 Ian McEwan: Outside the Whale. George Orwell, politics and the role of the imagination in a time of crisis. In: New Statesman, 10 December 2021, S. 36-42.
2 George Orwell: Im Innern des Wals. In: Im Innern des Wals. Erzählungen und Essays. Aus dem Englischen von Felix Gasbarra, Zürich 1975, s. 87-137, hier: S. 128.
3 Ebenda, S. 136.
4 George Orwell: Inside the Whale. In: The Collected Essays, Journalism and Letters, Volume 1. Penguin Books, London 1970, S. 540-578, hier: S. 578.
5 McEwan 2021, S. 39.
6 Frank Kafka: Der Prozess. Fischer Taschenbuch 676, Frankfurt 1979, S. 188.
7 George Orwell: Orwell on Truth. Harvill Secker, London 2017.
8 Ebenda, Innenseite.
9 George Orwell: Über Nationalismus. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Mit einem Nachwort von Armin Nassehi. dtv, München 2020.
10 Ebenda, S. 25.
11 Gustav Seibt: Zorn und Zeit. Süddeutsche Zeitung, 21.1.2020.
12 Orwell: Über Nationalismus, S. 54.
13 George Orwell: Ganz unten in Paris und London. Neu übersetzt, mit Erläuterungen versehen und herausgegeben von Peter Hillebrand. Comino Verlag, Berlin 2021.
14 George Orwell: Ruins. Orwell´s Reports as War Correspondent in France, Germany and Austria from February until June 1945. Introduction by Stephen Kearne. Comino Verlag, Berlin 2021.
15 George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Mit einem Nachwort von Volker Ulrich. C.H. Beck, München 2021.
16 Nach der Übersetzung von Walter 1981, S. 258.
17 George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Insel Verlag, Berlin 2021 / Aus dem Englischen übersetzt von Gisbert Haefs. Nachwort von Mikro Bonné. Manesse Verlag, München 2021 / Aus dem Englischen neu übersetzt, mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel von Lutz-W. Wolff. Mit einem Vorwort von Robert Habeck. dtv, München 2021. / Aus dem Englischen neu übersetzt von Jan Strümpel. Anaconda Verlag, München 2021 / Neu übersetzt und mit einem Nachwort von Frank Heibert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021 / Aus dem Englischen von Karsten Siegelmann. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2021 / Übersetzung und Nachwort von Holger Hanowell. Reclam, Ditzingen 2021 / Neu übersetzt von Simone Fischer. Nikol-Verlag, Hamburg 2021.
18 https://www.tralalit.de/2021/02/11/welche-uebersetzung-soll-ich-lesen/
19 Nach der Übersetzung von Walter 1981, S. 302.
20 Siehe Darcy Moore, https://www.darcymoore.net/2020/03/07/22/
21 Nach der Übersetzung von Walter 1981, S. 298.
22 Philipp Manow: Die politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.