Cengiz Aktar: Die Türkische Malaise. Ein Kritischer Essay

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Cengiz Aktar, ein türkischer Politikwissenschaftler, Journalist, Schriftsteller und öffentlicher Intellektueller, hat neulich das Buch „Die Türkische Malaise. Ein Kritischer Essay“ beim Kolchis Verlag veröffentlicht (125 Seiten).

Cengiz Aktar setzt sich seit Jahrzenten mit dem Thema des Verhältnisses zwischen der Türkei und Europa auseinander und hat sich stets für die Anerkennung des armenischen Genozids in der Türkei bemüht, der als ein besonders heikles Thema betrachtet wird, da die öffentliche Anerkennung des Genozids gemäß Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs als „Beleidigung des Türkentums“ gilt und somit verfolgbar ist. Zudem ist Aktar ein renommierter Liberaler, der sich für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union engagiert.

Das Buch besteht aus einem langen Text von ungefähr 96 Seiten, in dem Aktar seine Ideen darstellt, und zwei Gesprächen mit zwei bekannten Akademiker/innen, die ihre wissenschaftliche Forschungsarbeit den Entwicklungen in der Türkei gewidmet haben. Ein Gespräch fand mit Etienne Copeaux – Historiker und Türkei-Spezialist, der hauptsächlich über den Nationalismus in der Türkei geforscht hat – statt, während das andere mit Nilüfer Göle stattfand – Soziologin und Studiendirektorin an der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris, die viel über Islam, Gender und Säkularismus geschrieben hat.

Der Essay besteht aus sechs Unterkapiteln. Im ersten Kapitel konstruiert Aktar eine geschichtliche Dichotomie zwischen Europa einerseit und dem Osmanischen Reich und der Türkei andererseits, die Mitte des 15. Jahrhunderts, mit der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen, beginnen würde. Obwohl die beiden Seiten enge Beziehungen zueinander pflegten, waren diese Beziehungen laut Aktar vor allem von einer Art kämpferischer Rivalität geprägt. Die beiden Seiten beeinflussten sich gegenseitig, betrachteten sich aber zugleich jeweils als das „Andere“. Für Europa sollten das Osmanische Reich und die Türkei nie ein Teil von Europa werden. Mit den Worten von Aktar: „Das Osmanische Reich wurde nun von Europa als Fremdkörper betrachtet und politisch-militärisch wie geistig bekämpft.“ (S. 29)

Im zweiten Kapitel rekonstruiert Aktar den Prozess der Verwestlichung des Osmanischen Reiches und die Gründung der Türkei in den letzten zweihundert Jahren. Hier betont er, dass die Führungselite durch Anwendung von Methoden des Social-Engineering eine autoritäre und nationalistische Art von Modernisierung durchführte, die die Entstehung eines undemokratischen, national-chauvinistischen politischen Klimas förderte.

Im Ausgang von diesen im zweiten Kapitel entwickelten Argumenten geht das dritte Kapitel auf den armenischen Genozid ein. Dessen traumatische Folgen haben den türkischen Staat und die türkische Gesellschaft bis in die heutigen Tage stark beeinflusst, so dass er die„Mutter aller Tabus“ geworden ist. Aktar schreibt: „Sein Fluch wird uns so lange verfolgen, wie wir uns weigern, über ihn zu sprechen, ihn zu entziffern, uns ihm zu stellen.“ (S. 46)

Das vierte Kapitel stellt den Prozess der Kandidatur zum EU-Beitritt seitens der Türkei dar, insbesondere seit 1999. Der Autor bezieht sich auf die Reformen, die die Türkei durchgeführt hat, um der EU beizutreten. Jedoch hat die EU Skepsis gegenüber den Reformen gemeldet, insbesondere mit Sarkozys Amtsantritt als Staatspräsident in Frankreich im Jahr 2007 und mit Deutschlands ablehnender Haltung seit Mitte der 2000er Jahre. Aktar wertet diese Skepsis als einen grossen Fehler seitens der EU, da diese die Chancen, sich global zu behaupten und kulturell zu öffnen, verpasst hat. In diesem Zusammenhang kritisiert Aktar harsch die Unterzeichnung des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei im März 2016.

Im fünften und sechsten Kapitel beschreibt Aktar die politischen Entwicklungen, wie das politische Regime in der Türkei unter Erdogan in den Totalitarismus geraten ist, sehr präzise. Laut ihm ist die Türkei zu einem Willkürstaat geworden, in dem die Grundfreiheiten und die Rechtsstaatlichkeit einfach verschwunden sind. Er behauptet

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, dass sämtliche politische, bürokratische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Errungenschaften der letzten zwei Jahrhunderte in der Türkei ab 2010 sehr schnell rückgängig gemacht wurden. Er begründet seine Argumente durch konkrete Fakten: Zum Beispiel gibt es heute circa 300.000 politische Gefangene in den Gefängnissen und diese Zahl bedeutet, dass die Türkei im europäischen Vergleich knapp hinter Russland rangiert. Zudem behauptet Aktar, dass die grosse wirtschaftliche Krise in der Türkei auf die Vetternwirtschaft der regierenden AKP zurückzuführen ist und dass die Aussenpolitik der Türkei von den Bestrebungen geprägt ist, durch ihre militärischen Einmischungen in den Kriegsgebieten des Nahen Ostens eine regionale Führungsmacht zu werden. Zudem beurteilt Aktar scharf die Besänftigungspolitik von Europa gegenüber der Türkei. Der Autor betont, dass das Flüchtlingsabkommen, das im 2016 zwischen der EU und der Türkei abgeschlossen wurde, die Ursache für das Schweigen von Europa in Sachen Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte ist.

Im Epilog behauptet Aktar, dass das Ende des heutigen Regimes durch eine demokratische Wahl immer unwahrscheinlicher geworden ist und dass das Schicksal des starken Mannes Erdogan ungewiss ist. Aktar schreibt, dass Europa in Bezug auf ihre Politik gegenüber der Türkei sich in einer Patt-Situation befindet, weil sie, in den Worten von Aktar, „zwischen Beschwichtigung und Einflussnahme, zwischen blinder Distanz und der Befürchtung, dieses große Land am äußersten Rand Europas zerfallen zu sehen“ hin- und herpendelt (S. 84).

Das erste Gespräch mit Etienne Copeaux ist sehr interessant im Sinne der Erläuterung der ideologischen Eigenschaften des Regimes: Eine türkisch-islamische Synthese, die das Türkentum und den Islam als überlegend gegenüber Europa und den nicht-muslimischen und nicht-türkischen Völkern der Türkei betrachtet. Copeaux behauptet, dass seit der Gründung des modernen türkischen Staats diese Weltanschauung der Überlegenheit immer eine ideologische Stütze des Regimes war. Der Schwerpunkt des zweiten Gesprächs mit Nilüfer Göle liegt bei den widersprüchlichen konservativen Tendenzen innerhalb des türkischen Volkes, insbesondere mit Hinblick auf den Status der Frauen angesichts des säkularen Druckes der Modernität. Göle betont zum Beispiel, dass die Frauen, obwohl sie den Schleier tragen, die traditionellen unterwürfigen Frauenrollen nicht mehr akzeptieren. Und dieses Phänomen fasziniert sie sehr.

Aus einer historischen Perspektive erklärt dieses Buch die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei und insbesondere die politischen Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren unter Erdogan zwar kurz aber analytisch scharf. Es enthält viele wichtige Informationen und kohärente Auswertungen. Der Leser / die Leserin lernt viel über die Politik der Türkei und ihre Beziehungen zu Europa. Aktar gibt eine allgemeine und anschauliche Übersicht darüber, warum die Türkei trotz der vielen Bemühungen in den letzten zweihundert Jahren sich nicht demokratisieren kann und gleichzeitig Europa die Türkei nicht politisch eingliedern kann. Zum Beispiel kommentiert Aktar richtig über die andauernden Nachwirkungen des armenischen Genozids und über die Verarmung des politischen Pluralismus in der Türkei.

Dennoch ist eine der Hauptthesen des Buches als nicht realistisch zu bewerten. Diese These besagt, dass,wenn in den 2010er Jahren die EU die Türkei als Mitglied angenommen hätte, die Türkei demokratisch geworden wäre. Die These ist angesichts der letzten politischen Entwicklungen in Osteuropa als politisch unrealistisch zu bewerten: In den meisten Ländern Osteuropas, die neulich EU-Mitglied geworden sind, sind die autoritären und rechtsextremistischen politischen Gruppen gestärkt hervorgegangen, während die erhoffte Vertiefung der demokratischen Werte ausgeblieben ist. Ausserdem, da Aktar wirtschaftlich liberal ist, legt er den Schwerpunkt in Bezug auf die Demokratisierung der Türkei hauptsächlich auf die politischen Dynamiken. Die neoliberalen Wirtschaftspolitiken der AKP-Regierung haben die Kluft zwischen den Armen und Reichen in den letzten zwanzig Jahren grösser werden lassen. Jedoch schreibt Aktar, dass bis 2010 die türkische Wirtschaft floriert hätte. Wenn man aber die wirtschaftlichen Statistiken genauer betrachtet, sieht man, dass eher das Gegenteil richtig ist.

Die Gespräche mit den zwei Türkei-Expert/innen beinhalten sehr interessante Fragen und Antworten über nicht nur die Politik der Türkei, sondern auch über die Geschichte, die Kultur und die Werte der türkischen Gesellschaft. Laut den beiden Gesprächen gibt es noch eine Hoffnung für die Zukunft der Türkei aufgrund der jungen gebildeten Leute, die in den grossen Städten der Türkei leben, obwohl die heutige politische Lage düster aussieht. Beide Expert/innen weisen auf die Gezi Bewegung hin, bei der Millionen von Menschen für die progressiven westlichen Werte auf die Strassen gingen. Für Göle war die spektakuläre Beerdigung von Hrant Dink (der armenischstämmige Journalist, der von den rechtsradikalen Gruppen innerhalb des türkischen Staates in 2007 ermordet wurde), bei der zweihunderttausend Leute „Wir sind alle Armenier! Wir sind alle Hrant Dink“ skandierten, das erste Mal, dass in der Türkei ein Armenier gewürdigt wurde. Nach Copeaux und Göle sind diese Ereignisse ein starkes Zeichen für den Optimismus für die zukünftige Umwandlung des Regimes in Richtung Demokratie.

Dieses Buch ist definitiv ein wertvoller Beitrag, um die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa und die heutige politische „Seele“ der türkischen Gesellschaft, wie sie im gespannten Dialog mit Europa im Lauf der Geschichte entstand, zu verstehen. Zudem vermittelt es dem Leser / der Leserin eine Ahnung davon, wie die Zukunft der Türkei aussehen könnte.


Toros Korkmaz, Politikanalyst, geb. 1977, ist Türkei-Spezialist und lebt zurzeit in Zürich.




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