Eine Insel am Rande Europas erklärt sich für selbstständig. Ist das angesichts von Pandemie und verschärfter Rivalität zwischen den USA, China und Russland nicht bloss eine Randnotiz? Nicht nur. Denn daran lassen sich Verwerfungen im globalen institutionellen Gefüge wie an herkömmlichen Politikformen festmachen.
Im vergangenen Herbst dominierte eine rollende, hektische Berichterstattung über den Austritt Grossbritanniens aus der EU, und im Dezember erfolgten tägliche Bulletins vom Verhandlungstisch: ein harter Brexit ohne Deal, doch noch ein Deal, eine Verschiebung des Austritts, ein Abbruch der Verhandlungen, mehr Fische, dafür eine Grenze in der Irischen See, nein, natürlich keine Grenze, dafür Anerkennung der EU-Sozialstandards, oder doch nicht, undsoweiter undsofort. Dann, vor Weihnachten die Meldung: Ein Deal ist erreicht. Naturgemäss wurde er von beiden Seiten als Erfolg verkauft. Seit Anfang 2021 ist der Austritt Tatsache, it is done, wie der britische Premierminister Boris Johnson immer wieder mantraartig versprochen hatte.
Natürlich ist es mit dem Brexit nicht getan, aber er geht gegenwärtig in der Covid-Berichterstattung unter. Heftig gefördert durch Johnson, der sich gerade im seltenen Sonnenlichtstrahl einer erfolgreichen Impfkampagne räkelt. Es hat aber auch mit der Lage der Opposition zu tun. Labour hat nach der Wahlniederlage im April 2020 anstelle des zögerlich taktierenden Jeremy Corbyn als neuen Chef den Remainer Keir Starmer gewählt, der sich lange für ein zweites Referendum zum Austritt eingesetzt hatte. Seither hat er das Thema abgehakt. Sein erstes Argument ist realpolitisch: Man kann nichts mehr dagegen machen. Das zweite ist demokratietheoretisch: Man muss den Entscheid akzeptieren. Beides zeigt die mangelnde Perspektive, an der Labour seit der Brexit-Abstimmung 2016 leidet.
Der Auftakt der neuen britischen Selbständigkeit am 1. Januar verlief knirschend: Trotz aller Beschwörungen eines reibungslosen Übergangs war das Vereinigte Königreich administrativ und institutionell ungenügend vorbereitet. Die Liste von Pannen und grundsätzlichen Mängeln verlängert sich jeden Tag: Verfaulende Fische, die nicht exportiert werden konnten, überforderte Zollbeamte, zugespitzte Lage in Nordirland wegen der dortigen Sonderregelungen, Abfluss von Geldern aus der Londoner City.
Waghalsige Wetten
Aber Johnson hat es fertiggebracht, solche Fehlleistungen unter dem Covid-Notstandsregime unter den Tisch zu wischen. Im Frühling und Herbst hatte er durch sein unverantwortliches Laissez-faire, dann seinen Zickzackkurs Grossbritannien in eine medizinische und menschliche Katastrophe gestürzt. Mangelndes medizinisches Ausrüstungsmaterial, unzureichender Schutz in Altersheimen, Gesundheitssystem vor dem Kollaps, als Resultat: höchste Todesrate in Europa. Doch seit einigen Wochen kann er unbestreitbar einen Erfolg verzeichnen. Die Impfkampagne treibt England schneller und erfolgreicher als jedes andere kontinentaleuropäische Land voran. Von der Regierung, vor allem aber von den jingoistischen Massenblättern wird das mehr oder weniger penetrant als Erfolg der neuen Souveränität durch den Austritt aus der EU verkauft.
Und das ist in bestimmter Hinsicht sogar richtig. Johnson liess sich, ungehemmt von den halb-demokratischen Regeln der EU, im Frühling auf ein Vabanque-Spiel ein und sicherte sich hektisch Vorkaufsrechte für Impfstoffe bei mehreren Firmen. Die Wette ging auf, und sie ist ein Vorgeschmack auf das, was kommt: ein neuer nationaler Konkurrenzkapitalismus. Dazu gehört, als Kehrseite der selben Medaille, dass die Vertragsabschlüsse schlechter sind als die späteren der EU, weil sie die Pharmafirmen von jeglicher Haftung entbinden.
Den zeitlichen Vorsprung bei der Lieferung der Impfstoffe hat Johnson in eine nationale – zumindest englische – Kampagne umwandeln können. Dazu hat er erstens den staatlichen Gesundheitsdienst NHS benützt – nachdem der jahrelang finanziell ausgeblutet wurde, ist er jetzt wieder zum nationalen Heilsbringer stilisiert worden, mit ständigen Slogans, rituellem Dank-Klatschen und Fundraising-Aktionen. Und während der Gesundheitsdienst letztes Jahr noch vor dem Kollaps stand, hat er die Impfkampagne in eindrücklicher Weise organisiert. Zweifellos werden, wenn die Pandemie abgeklungen ist, gegenüber dem NHS erneut Forderungen nach «Rationalisierungen» erhoben werden. Vor allem geht die schleichende Privatisierung gerade auch in der Pandemie an den Rändern des Gesundheitswesens weiter. Zusätzliche medizinische Dienstleistungen sind in einer Form eingekauft worden, die an Korruption grenzt. Völlig unerprobte Firmen haben Grossaufträge bekommen, weil sie den Bekannten eines Bekannten eines Regierungsmitglieds gekannt haben. Zudem hat die Regierung im neuen Budget dem öffentlich so gelobten Pflegepersonal faktisch einen Lohnabbau verordnet.
Doch nochmals: Die nationale Mobilisierung ist ein durchschlagender Erfolg. In einem Land, in dem man sich so viel auf seinen Individualismus zugute hält, dass man sich jahrzehntelang gegen die Einführung einer Identitätskarte wehrte, gibt es heute, anders als in den kontinentaleuropäischen Ländern, praktisch keinerlei Impfskepsis. Impfen ist zur nationalen Pflicht, ja Ehre geworden. Die Medien machen pflichtschuldig mit. Der Fernsehsender Sky News, der zumindest in England nicht ganz unkritisch auftritt, blendet jeweils oben links den aktuellen Stand der Impfzahlen ein: Mehr als 27 Millionen sind es mittlerweile, über die Hälfte aller Erwachsenen. Auch hier hat der zwanghafte Spieler Johnson allerdings wieder eine Wette durchgedrückt. Geimpft wird vorerst, entgegen den meisten Empfehlungen, nur einmal, weil man darauf hofft, dass die Zahl womöglich unzureichend Geschützter wegen der verzögerten zweiten Impfung durch die grosse Zahl erstmals Geimpfter in den Hintergrund rückt. Die Wette mag, sogar immunologisch, womöglich aufgehen.
Forsches versus zögerliches Verhalten hat sich auch in der kurzfristigen Debatte um den AstraZeneca-Impfstoff gezeigt. In der EU lag die Beweislast tendenziell beim Impfstoff bzw. der Firma: Der sollte erst eingesetzt werden, wenn nachgewiesen ist, dass er nicht zu gefährlichen Nebenwirkungen führt. In England liegt die Beweislast faktisch bei den Erkrankten: Ein Impfstoff wird erst abgesetzt, wenn nachgewiesen werden kann, dass es dabei überproportional zu anderweitigen Erkrankungen kommt.
Wirtschaftseinbruch
Der Impferfolg kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die britische Gesellschaft stärker als andere von der Pandemie getroffen worden ist. Neben der höheren Todesrate ist auch der wirtschaftliche Einbruch gravierender als anderswo. Die Wirtschaftsleistung ist im Jahr 2020 um 10.3 Prozent zurückgegangen – nur Spanien und Griechenland waren ähnlich dramatisch betroffen, während der EU-Durchschnitt 6.3 Prozent beträgt, Deutschland bei 5 Prozent, die USA bei 4.6 Prozent und die Schweiz bei 4,7 Prozent liegen. Selbst die Aussichten einer Erholung für 2021 liegen mit 3,4 Prozent unter dem EU-Durchschnitt von 3,7 Prozent.
Vorletzte Woche hat der Schatzkanzler Rishi Sunak das erste Covid-Budget vorgelegt. Es setzt den Trend fort, der seit der Corona-Krise in allen Ländern zu beobachten ist: weg mit Austerität und Schuldenbremse. Der Staat muss, muss, muss retten. Es werden Summen eingesetzt, die für konservative Regierungen bislang unvorstellbar waren. In Grossbritannien steigt die Staatsverschuldung auf Höhen wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie lag Ende Jahr bei 100 Prozent. In der EU sind es, mit den bekannten Ausreissern nach oben, im Durchschnitt 88 Prozent, in Deutschland 68, die Schweiz steht bei unglaublich tiefen 35 Prozent.
Gegen diese neokeynesianische Ausgabenpolitik lässt sich politisch ja nicht viel einwenden. Und dennoch ist es ein Tory-Budget. Denn viele Grossunternehmen bekommen weitaus grosszügigere Staatshilfe als die Kleinunternehmen. Freilich ist überraschend eine Erhöhung der Unternehmenssteuer angekündigt worden. Die soll allerdings erst 2023 wirksam werden, damit sie nicht als Munition im nächsten Wahlkampf dienen kann. Doch was tut Labour? Nachdem eine solche Erhöhung seit Jahren gefordert worden ist, wird jetzt schwächlich erklärt, eine Krise sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür!
Beim Brexit ist Johnsons Wette vorerst noch nicht aufgegangen. Soeben sind die Handelszahlen für den Januar bekannt geworden. Der Export in die EU ist um 40 Prozent eingebrochen, aus der EU um 25 Prozent. Viele Firmen brauchen aus administrativen Gründen einen neuen Sitz auf dem Kontinent und verlagern entsprechend Arbeitsplätze. Selbst der Londoner Finanzplatz hat gegenüber Amsterdam an Boden verloren. Und erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ist im Jahr 2020 die Bevölkerung in Grossbritannien zurückgegangen, vor allem wegen der Re-migration vieler Beschäftigen aus den EU-Ländern – die Konsequenzen für den Dienstleistungssektor, aber auch für die finanzielle Lage der Sozialversicherungen werden sich erst mittelfristig zeigen.
Kommt die Ankündigung von Johnson hinzu, die Übergangsbestimmungen für Nordirland einseitig bis Ende Jahr zu verlängern. Eigentlich ist das eine Bankrotterklärung, dass man sich nicht genügend auf den Austrittsdeal vorbereitet hat. Johnson versucht die Massnahme dagegen wie eh und je, als notwendige Reaktion auf die übergriffige EU-Bürokratie darzustellen – dabei sind die zusätzlichen bürokratischen Abläufe ja gerade ein Resultat des Austritts aus dem europäischen Binnenmarkt. Der Sache der EU hat allerdings die idiotische Drohung der EU-Kommission Ende Januar nicht geholfen, das Nordirland-Protokoll zum Brexit-Vertrag abändern und keine Impfdosen mehr nach Nordirland liefern zu wollen.
Die Verlockung der Souveränität
Dennoch wäre es vorschnell, die Brexit-Strategie schon als gescheitert zu betrachten. Aus zwei Gründen. Erstens war es immer eine Schwäche der Pro-EU-Kampagne, dass sie einen unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch Grossbritanniens an die Wand malte. Ein solcher war aber nie zu erwarten, oder zu befürchten. Auch die jetzigen Schwierigkeiten, so gravierend sie akut für einzelne Betriebe und Sektoren sein mögen, schlagen erst mittelfristig voll durch, können auch erst dann beurteilt werden.
Zweitens hatte der Brexit neben der wirtschaftlichen Frage immer eine Werte-Dimension: die berühmt-berüchtigte Souveränität. Natürlich ist die eine gigantische Täuschung. Souverän will man gegenüber der EU sein, bleibt dabei vollkommen unsouverän gegenüber dem globalen Kapitalismus. Aber das Schlagwort hat eine Attraktion für weite Bevölkerungskreise, deren insulares Denken man nicht unterschätzen sollte.
Entsprechend formuliert Boris Johnson die Souveränitätsfrage. Handelsverträge sollen künftig nach WTO-Regeln ausgestaltet werden, also nach dem absoluten Minimum der Freihandelslehre. Natürlich, auch die EU betreibt weitgehend neoliberalen Freihandel. Aber eben nicht nur: Sie geht bei Sozialstandards und Nachhaltigkeit doch ein wenig weiter. Für das «neue, souveräne» Grossbritannien geht es dagegen vor allem darum, überhaupt Deals hinzukriegen, um welchen Preis auch immer. Inhaltliches, Kleingedrucktes spielt keine Rolle, sondern jeder Vertragsabschluss wird schon als solcher als Ausdruck einer neuen Souveränität angepriesen. Dadurch gerät der Opportunist Johnson ganz in den Sog der Turbo-Kapitalisten des Finanzsektors. Sie haben, im Gegensatz zum längst reduzierten Produktionssektor, den Brexit vorangetrieben, um das krude Konzept eines Singapore-on-Thames einzurichten. Wobei das selbst im Finanzsektor lange eine Minderheitsposition war. Banken und grössere Finanzdienstleister fürchteten Schwierigkeiten im nach wie vor wichtigen Geschäft mit Europa. Tatsächlich sind, bevor neue Strukturen im als Wachstumsparadies angebotenen Pazifikraum aufgebaut werden konnten, Anfang Jahr beträchtliche Gelder an die konkurrierenden kontinentaleuropäischen Finanzplätze abgeflossen. Vehemente Brexit-Anhänger waren und sind die Hedge Funds und rabiaten Private-Equity-Boutiquen. Mit dem Brexit sind ideologische Extrempositionen selbst unter den Finanzfraktionen ins Zentrum gerückt. Dazu helfen dann auch stunts. Aus dem neuen Budget hat die «Sun» eine beiläufige Idee, acht englische Häfen als sogenannte Freihandelszonen einzurichten, unter der Schlagzeile «Brexit-Boom» zu verkaufen versucht. Der Kanzler, der sich jetzt so sozial gibt, ist übrigens selbst Mitbesitzer eines Hedge Funds. Das wird ihm dereinst nach dem Abschied aus der Politik ganz zupass kommen.
Und die Souveränitätsfrage wird anderweitig abgestützt, nicht nur wirtschaftlich. Gerade eben hat Boris Johnson eine neue Aussen- bzw. Verteidigungspolitik verkündet. Das neue «globale Grossbritannien» müsse in einer sich verändernden Welt eine neue Rolle für sich finden. Das heisst, voraussehbar und konsequent, weg von der EU, wieder stärker hin zu den USA unter Joe Biden als natürlichem Bündnispartner (vergessen sind die früheren Anbiederungen gegenüber Trump) und ein intensiveres Verhältnis zu China («ausgewogen» zwischen Kritik an Menschenrechtsverletzungen und Handelsbeziehungen). Künftig sollen englische Fregatten wieder durch alle Weltmeere pflügen. Diese Grossmachtfantasien werden durch den geplanten hirnrissigen Ausbau des Atomwaffenarsenals unterstützt.
Der ganze Brexit-Prozess wirft drei zentrale Fragen auf:
Erstens eine funktionale. Wie können vielfach verflochtene Institutionen entflochten werden? Zwischen Grossbritannien und der EU müssen hunderte von Gesetzen angepasst und neue Regeln entwickelt werden. Ja, die Bürokratie nimmt überhand – aber das war gerade der wirtschaftliche Vorteil der EU, Regeln und Bürokratie abzubauen. Der Brexit ist ein Experiment am lebenden Objekt, so wie auch die internationalen Lieferketten in der Pandemie einem Stresstest unterzogen werden.
Zweitens eine politische. Was begünstigt den neuen Nationalismus? Denn der steckt ja im Kern der so heftig beschworenen Souveränität. Dieser Nationalismus wird vor allem durch wirtschaftliche und sogar militärische Macht voranzutreiben versucht, während Institutionen wie dem British Council und dem BBC World Service Gelder gestrichen und die transnationale wissenschaftliche Zusammenarbeit reduziert wird. Die Solidargemeinschaft ist aufs Nationale eingedampft. Ein darüber hinausgehender Solidaritätsgedanke ist verschwunden. Da hat auch und gerade Labour versagt.
Drittens eine ideologische. Wie schafft es Johnson, mit seiner Politik eine Mehrheit an sich zu binden? Man kann dafür das Konzept einer Hegemonie ohne Hegemon hervorholen (siehe http://www.theoriekritik.ch/?p=3733) – ein volatiles, wechselndes Kräftefeld, in dem der Opportunist Johnson – so wie vier Jahre lang der rabiate Demagoge Trump – bislang erfolgreich manövriert hat.
Wird fortgesetzt.