Zur Sozialen Frage heute (2): Konstitutive Mechanismen der Vergesellschaftung und die Rolle der Sozialen Arbeit

Die sogenannte Soziale Frage entstand als Folge der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der spannungs- und konfliktreiche Übergang von der Agrar- zur Fabrikarbeitsgesellschaft führte rasch zu sozialen Verwerfungen innerhalb des Kapitalismus und markierte gleichzeitig den Ausgangspunkt Sozialer Bewegungen sowie der Sozialen Arbeit. Das Departement Soziale Arbeit der Ostschweizer Fachhochschule (OST) lenkt mit dieser Beitragsreihe den Blick auf die Gegenwart: Wie stellt sich die Soziale Frage heute? Und wer macht sie sich zu eigen? Die unter dem Übertitel Zur sozialen Frage heute in loser Folge erscheinenden Beiträge untersuchen deren Folgen für die einzelnen Menschen wie auch für die Gesellschaft.

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Im Forschungsprojekt zu Re-Integrationsprozessen wird die Funktion der Sozialen Arbeit als die Bearbeitung des «strukturellen Integrationsproblems der kapitalistischen und demokratisch verfassten Gesellschaften» bezeichnet (Sommerfeld et al., 2011). Die leitende These für die weiteren Ausführungen lautet, dass die Soziale Frage ebenso mit diesem Integrationsproblem der Gesellschaft zusammenhängt wie die Entstehung der Sozialen Arbeit. Und die zweite These lautet daher, dass die «neue» Soziale Frage im Wesentlichen die «alte» Soziale Frage ist. Die aktuellen gesellschaftlichen Prozesse wären demnach als Mechanismen beschreibbar, die auf unterschiedliche Weise zur Herstellung massiver sozialer Ungleichheiten beitragen und dadurch dieses «alte» Integrationsproblem aktualisieren, das sich neu wieder durch vielfältige und verstärkte Formen der Prekarisierung in den diversen Lebenswelten der Menschen materialisiert.

Die Soziale Frage respektive das strukturelle Integrationsproblem sind im Zentrum der gesellschaftlichen Reproduktion und ihrer Dynamik angesiedelt. Sie fordern daher zur Gestaltung heraus. Die Gestaltung des Sozialen, der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse der Menschen, ist primär eine politische Aufgabe. Sie ist aber auch, wenngleich in einem etwas enger zugeschnittenen Sinn, die Aufgabe der Sozialen Arbeit. Mit dem vorliegenden Beitrag sollen einige Grundlagen im Hinblick auf konstitutive Mechanismen der Vergesellschaftung präsentiert werden, die einige Hinweise zur politischen Gestaltung des Sozialen respektive der Gesellschaft und einige Hinweise für den Beitrag der Sozialen Arbeit in diesem Kontext liefern sollen.

Das «sozialpolitische Prinzip» als grundlegender Mechanismus der gesellschaftlichen Dynamik

Das «sozialpolitische Prinzip» wird von Böhnisch und Schröer in Anlehnung an die Arbeit von Eduard Heimann als das allgemeine, alle weiteren Prozesse strukturierendes Prinzip (Mechanismus in der hier verwendeten Terminologie) dargestellt (Böhnisch & Schröer, 2016). Dem «sozialpolitischen Prinzip» und somit der heutigen gesellschaftlichen Dynamik liegt der Widerspruch zwischen kapitalistischen Verwertungsinteressen und dem Sozialen zugrunde. Der Begriff des Sozialen steht für das Zusammenleben der Menschen und ihrer aufeinander bezogenen Lebensführung. Ausschliesslich als Antagonismus lässt sich dieser Widerspruch aber nicht vollständig erfassen, weil die Verwertungsinteressen des Kapitals und damit die kapitalistische Produktionsweise auf das Soziale angewiesen sind, ebenso wie umgekehrt die Lebensführung der Menschen, die das Soziale bildet, auf die wirtschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozesse angewiesen ist. Es handelt sich also um einen doppelten Verweisungszusammenhang, der das sozialpolitische Prinzip konstituiert. Der gesellschaftliche Prozess (inklusive der politischen Prozesse) nimmt daher eine Form an, in der dieser doppelte Verweisungszusammenhang dynamisch ausbalanciert wird. Die (alte) Soziale Frage bildet den Kern dieses gesellschaftlichen Prozesses. Im Grunde geht es darum, den Kapitalismus sozial und kulturell einzubetten und damit auch zu begrenzen.

Die aktuelle neue oder besser erneuerte Soziale Frage speist sich daraus, dass mit dem digitalen Kapitalismus und den überaus vielschichtigen Prozessen, die man mit Globalisierung unter ein Schlagwort fassen kann, eine (tendenzielle) soziale Entbettung des Kapitalismus, insbesondere des Finanzkapitalismus einhergeht. Mit anderen Worten hat sich die Machtbalance zwischen den kapitalistischen Verwertungsinteressen und dem Sozialen verschoben. Auf der Ebene der real existierenden Sozialpolitik wird zudem – anstatt nach neuen Wegen der sozialen Einbettung zu suchen – mit neo-liberalen Konzepten primär ein kultureller Wandel betrieben («investive Sozialpolitik»), der die Ungleichheiten und Härten legitimiert (Stichwort Eigenverantwortung), und der das Soziale weiter untergräbt, um die kapitalistischen Verwertungsinteressen möglichst wenig zu begrenzen.

Die erneuerte Soziale Frage ist also im Kern die alte Soziale Frage, die den Konflikt zwischen Grenzenlosigkeit und Begrenzung des Kapitals, zwischen dessen sozialer Entbettung und seiner sozialen Bindung im Hinblick auf die Lebensverhältnisse und die Lebensführung der Menschen thematisiert. Auch wenn dabei neue Erscheinungsformen aufgrund der aktuellen Dynamik zu beobachten und zu beachten sind, gilt es festzuhalten, dass die grundlegende Strukturierung, dass der grundlegende Mechanismus, nach wie vor derselbe ist. Eine daran anschliessende, vertiefende Frage lautet: Wie konstituiert sich das Soziale in dieser Form der Gesellschaft, oder anders herum formuliert: Wie funktioniert die Vergesellschaftung der Individuen?

Zur Vergesellschaftung der Individuen oder: wie übersetzt sich die gesellschaftliche Makrostruktur in das Soziale bzw. in die Lebensführung von Menschen?

An dieser Stelle wird zunächst das «strukturelle Integrationsproblem» relevant. Denn diese Gesellschaftsform, die durch den doppelten Verweisungszusammenhang von Kapitalverwertung und dem Sozialen strukturiert wird, ist durch eine Umstellung der Form der Vergesellschaftung gekennzeichnet, die das «strukturelle Integrationsproblem» zur Folge hat. Im Kern besteht diese Umstellung darin, dass die Individuen «freigesetzt» werden. Alle Menschen sind frei heißt konkret, dass jedes Individuum nicht mehr einfach eine durch die Geburt gegebene gesellschaftliche Position hat, sondern die Position im Lebensverlauf (in der Regel durch Arbeit und somit in der Verwertungslogik des Kapitals) erwerben muss. Das heißt, dass alle ihre gesellschaftliche Integration in Abhängigkeit der Verhältnisse selbst herstellen müssen. Diese dynamische Form der Vergesellschaftung stellt anspruchsvolle Entwicklungsaufgaben und kann aus unterschiedlichsten Gründen auf der individuellen Ebene scheitern. Diese Form der Vergesellschaftung ist also für die Individuen grundsätzlich prekär.

Zudem sind die Chancen bzw. die Ressourcen zur Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben von Geburt an ungleich verteilt. Trotz der Freisetzung und damit der prinzipiellen Gleichheit aller Individuen wird im Rahmen einer kapitalistischen Ökonomie und einer dermaßen dynamischen Form der Vergesellschaftung systematisch soziale Ungleichheit erzeugt, die sich in der vertikalen Differenzierung der Gesellschaft strukturell verfestigt, also benachteiligte Teilpopulationen hervorbringt. Das ist an sich kein Problem, bzw. war es in anderen Gesellschaftsformen nicht, wohl aber in einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Denn die Verfestigung und das jeweilige Ausmaß der Benachteiligung bilden einen grundlegenden Widerspruch zur demokratischen Semantik, die mit den Grundwerten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ oder dem demokratischen Universalprinzip der „Teilhabe aller“ auf den Punkt gebracht werden kann. Dieser Widerspruch zwischen dynamischer Vergesellschaftung inklusive der Verfestigung von Benachteiligung auf der einen Seite und der demokratischen Semantik auf der anderen bildet das strukturelle Integrationsproblem dieser Gesellschaft und bringt die «soziale Frage» respektive die Frage nach sozialer Gerechtigkeit hervor – und die Soziale Arbeit zu dessen Bearbeitung (in spezifischer Weise).

Wie übersetzt sich nun aber diese Makro-Struktur in das Soziale, das sich auf der meso- und mikrosozialen Ebene abspielt, also überall dort wo konkret Teilhabe und Interaktion stattfindet? Zunächst ist hier vorauszuschicken und zu betonen, dass das Soziale einerseits von unten her gebildet wird, nämlich auf der Basis der menschlichen Bedürfnisse und der sozialen Ausgestaltung der Formen der Bedürfnisbefriedigung sowie andererseits horizontal durch (Sub-)Kulturbildung (Bourdieu, 1991). An dieser Stelle soll aber ein Mechanismus beschrieben werden, wie sich die vertikale Positionsstruktur in die soziale Lebensführung von Menschen übersetzt. Es geht also um die Frage, wie die gesellschaftliche Position erworben wird, oder soziologisch: was konstituiert den Status eines Individuums und was macht das mit dem Individuum?

Peter Heintz hat zu Fragen wie dieser in den 1960-er und 70-er Jahren gearbeitet und Werner Obrecht, ein Schüler von Peter Heintz, hat dessen Arbeiten in der Sozialen Arbeit weitergeführt (Heintz, 1968, 1982; Obrecht, 2008). Oben wurde der hauptsächliche Integrationsmechanismus, nämlich Arbeit, bereits erwähnt. Konsum ist ein weiterer Mechanismus, über den gesellschaftliche Teilhabe im Kapitalismus organisiert und erfahrbar wird. Mit Heintz kann nun präzisiert werden, dass in der uns interessierenden Gesellschaft Bildung, Berufsrolle und Einkommen die zentralen Statuslinien darstellen, die zusammen als Statuskonfiguration bezeichnet werden und für die vertikale gesellschaftliche Position massgeblich sind. Es ist augenfällig, dass diese massgeblichen Statuslinien in die Verwertungslogik des Kapitals eingebunden sind. Sie sind aber auch kulturell bestimmt und repräsentieren insofern kulturelle Werte. Dies gilt insbesondere für Bildung und Beruf (soziales Prestige), während das verfügbare Einkommen unmittelbar auf die Teilhabe via Konsum wirkt und erst vermittelt über (gekaufte) Statussymbole auch kulturell bedeutsam wird. Die Kultur und die damit einhergehenden Bewertungen sind darüber hinaus relevant, weil es neben diesen zentralen Statuslinien weitere gibt, auf die ich gleich noch eingehen werde.

Es gibt nun gleichgewichtige, ungleichgewichtige und unvollständige Konfigurationen. Gleichgewichtig meint, dass alle Statuslinien auf demselben Niveau sind, also zum Beispiel alle hoch, alle in der Mitte oder alle unten. Dementsprechend sind ungleichgewichtige Konfigurationen solche, bei denen z.B. hohe Bildung mit tiefer Berufsrolle und tiefem Einkommen einhergeht, bei denen also die Statuslinien auf unterschiedlichen Niveaus laufen. Unvollständig sind solche, bei denen eine Linie nicht besetzt ist, wie z.B. typischerweise bei Arbeitslosigkeit, bei der keine Berufsrolle ausgeübt wird. Was heisst das nun aber für die individuelle Lebensführung und damit für das Soziale?

«Die Theorie struktureller und anomischer Spannungen besagt nun, dass jede Abweichung von einem der drei Aspekte einer vollständigen und gleichgewichtigen Konfiguration auf hohem Rang zu einer bestimmten Form von Spannung beim betroffenen Individuum führen. Die Abweichungen in der Konfiguration nennt man strukturelle Spannungen, die Spannungen, die das Individuum aufgrund der Abweichung von der Norm erfährt, nennt man anomische Spannungen» (Obrecht 2008, 53).

Wenn also die uns interessierende Gesellschaft grosse soziale Ungleichheit produziert, dann produziert sie ein hohes Mass an strukturellen und anomischen Spannungen. Dieser Mechanismus der Übersetzung der makrostrukturellen Bedingungen auf die meso- und mikrosozialen Ebenen ist ein wesentlicher Treiber der Dynamik des Sozialen und mithin der Lebensführung der Menschen in dieser Gesellschaft. Denn die anomischen Spannungen müssen von den Individuen in irgendeiner Form bewältigt werden. Oder anders formuliert. Die anomischen Spannungen motivieren individuelles Handeln. Wenn ich zu wenig Einkommen habe, kann ich einen zweiten Job annehmen, ich kann eine Abendschule besuchen, um ein Bildungsdefizit zu beheben, ich kann mich umbringen, wenn mein unvollständiger Status meine soziale und psychische Integrität zerstört, ich kann einer politischen Partei beitreten und versuchen die Verhältnisse zu verändern, ich kann mich anderen anschliessen und damit eine soziale Bewegung befördern, ich kann mein Land verlassen, wenn ich denke, dass an einem anderen Ort bessere Lebenschancen auf mich warten. Und so weiter.

Bei einem Überhandnehmen der strukturellen und damit einhergehend der anomischen Spannungen werden immer mehr Akteure versuchen, kollektive Bewältigungsformen zu finden, die sich wiederum in subkulturellen Milieus verdichten können (aktuell sehr beliebt: Realitätsverweigerung/ Verschwörungstheorien), die evt. neue Bewertungskriterien entwickeln und diese dann eventuell gesellschaftlich durchsetzen. Somit liegt mit den strukturellen und anomischen Spannungen ein Mechanismus vor, der den sozialen Wandel und darin auch den sozialen Konflikt dynamisch weitgehend erklären kann. Für die Reflexion auf die erneuerte, aktuelle Soziale Frage sind zwei Aspekte besonders bedeutsam: Wenn der Abstand zwischen den unteren und den oberen Statuskonfigurationen zunimmt, wie dies dank der neoliberalen Politik geschaffen wird, steigt das Spannungsniveau insgesamt. Dieses Spannungsniveau wird weiter erhöht, wenn unvollständige und ungleichgewichtige Statuskonfigurationen zunehmen, wie sie im Gefolge von Globalisierung, Beschleunigung, Digitalisierung etc. nicht nur zu erwarten, sondern bereits zu beobachten sind. Diese Prozesse schaffen neue Handlungsoptionen, die von einigen ergriffen werden, die damit die anomischen Spannungen für sich gewinnbringend bewältigen können. Sie schaffen aber auch Verlierer, also Menschen, die im Statusgefüge absteigen, bis hin zu einer neuen Unterschichtung der Gesellschaft, die Kronauer als die eigentliche neue Soziale Frage bezeichnet hat (Kronauer, 2010). Sie schaffen aber in weiten Kreisen auch ein Gefühl der Bedrohung (des eigenen Status), selbst wenn dies für viele unmittelbar gar nicht realistisch ist. Wenn zusätzlich durch die investive (neo-liberale) Sozialpolitik die Grundsolidarität geschwächt und die Leistungen abgebaut werden, dann verstärkt sich dieses diffuse Bedrohungsgefühl, und eben nicht nur bei den Sozialhilfeempänger*innen. Die Folge ist, dass sich die Dynamik des sozialen Wandels und des sozialen Konflikts verstärkt.

In jenen Phasen der gesellschaftlichen Dynamik, in denen sich die Machtverhältnisse zugunsten der kapitalistischen Verwertung verschieben, steigen also die strukturellen und anomischen Spannungen tendenziell. Man könnte also hoffen, dass sich das Pendel in Richtung des Sozialen wieder verschiebt. Was man in Zeiten wie diesen allerdings, und heute eben wieder, beobachten kann, ist das Folgende: Die geschilderte, mit dem ansteigenden Spannungsniveau zusammenhängende reale oder subjektiv und kollektiv empfundene Bedrohung eröffnet denjenigen politischen Kräften Optionen, denen es gelingt, diese Bedrohung zu schüren und für sich, also für ihren Machtgewinn zu nutzen, indem sie neue bzw. eigentlich alte, überwunden geglaubte Statuslinien zur Geltung bringen. Es sind die Klassiker der Produktion sozialer Ungleichheit: Geschlecht, Rasse, Religion und Nation. Mein Status und meine Lebensführung mögen elend oder bedroht sein, aber ich bin Schweizer, ich bin ein Mann, ich bin weiss, und im Idealfall gehöre ich auch noch der richtigen Religion an, oder zumindest nicht der falschen. Diese Form der Aufwertung von Statuskonfigurationen und damit der Bewältigung der anomischen Spannungen funktioniert nur durch Abwertung der jeweils anderen, der Frauen, der Schwarzen, der Muslime, der Ausländer. Und es funktioniert dann am besten, wenn diese im politischen Diskurs mittels «falscher Projektionen» (Horkheimer & Adorno, 1981) für die Misere verantwortlich gemacht werden können. Die Juden (Karthago, die Ausländer, die Frauen, die Schwarzen) sind schuld und müssen vernichtet oder, sofern man sie braucht, an den ihnen gebührenden Platz (unten, draussen, am Herd) verwiesen werden. Es ist evident, dass alle diese heute «populistisch» genannten politischen Strömungen und sozialen Bewegungen in ihrem Kern nicht nur reaktionär im Sinne der Wiederbelebung rassistischer

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, sexistischer, nationalistischer und religiöser Formen der Ungleichheitsproduktion sind, sondern auch autoritär und antidemokratisch. Sie streben das Gegenteil einer integrativen Gesellschaft an. Sie nutzen den sozialen Konflikt und heizen ihn an, um zu polarisieren und somit soziale Ungleichheit herzustellen. Wir können seit geraumer Zeit eine Zangenbewegung neo-liberaler und neo-konservativer bzw. eigentlich autoritärer/ populistischer/ faschistoider politischer Kräfte beobachten, die beide kein Interesse daran haben, den Kapitalismus zu begrenzen und ihn wieder sozial einzubinden; die einen aus primär wirtschaftlichen Interessen, die anderen primär zur Erlangung politischer Macht. Diese zweiseitige, typischerweise Allianzen bildende politische Machtballung verschiebt die Balance weiter in Richtung sozialer Entbettung des Kapitalismus und verstärkt die Spannungen weiter und verstärkt sich so erst einmal in dieser Dynamik gegenseitig. Keine hoffnungsträchtige Situation und Dynamik, erst einmal.

Die Gestaltung des Sozialen – Felder der Hoffnung und das Denken in Möglichkeitsräumen

Diese sich selbst verstärkende gesellschaftliche Dynamik wird von mächtigen Interessen angetrieben und ihre Konsequenzen scheinen wieder einmal in Richtung von Zerstörung zu weisen, heute insbesondere, aber bei Weitem nicht nur, der natürlichen Lebensgrundlagen. Denn die soziale und die ökologische Frage sind aufs Engste miteinander verknüpft (vgl. Truell, 2019). Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, was uns Hoffnung gibt, dass es dieses Mal gelingt, die Katastrophe zu vermeiden (dies spielt auf eine m.E. vergleichbare Dynamik an, die in den 2. Weltkrieg gemündet hat).

Die grundlegende Hoffnung, die auch Böhnisch und Schröer zum Ausdruck bringen, liegt im Wissen, dass die weitere Verschiebung der Machtbalance und mithin die weitere soziale Entbettung des Kapitalismus auf sozialen Wandel drängt, dass sie den sozialen Konflikt notwendig befördert und dass angesichts der Dringlichkeit der Krisen, die aus der aktuellen Dynamik entspringen, tendenziell die Gestaltungskraft des Sozialen wieder erstarkt. Das Soziale sind die Menschen, die ihr Leben führen und deshalb ist die erste Konsequenz aus dieser Analyse, dass jede und jeder Einzelne, denen am Sozialen gelegen ist, in Zeiten wie diesen, in denen der soziale Konflikt über die Entwicklungsrichtung der Dynamik entscheiden wird, aufgefordert ist, sich politisch zu engagieren. Angesichts der autoritären, antidemokratischen Kräfte geht es entscheidend wieder um eine integrative Gesellschaft, das heisst um die Freiheit und die Teilhabe aller und damit um (möglichst) gute Lebenschancen für alle Menschen. Es geht vorderhand darum, dass das Soziale gegenüber dem Kapital wieder an Bedeutung gewinnt, es geht längerfristig darum, dass eine Form der Vergesellschaftung und des Wirtschaftens entsteht, die dem Sozialen, das heisst den Menschen und ihrer Bedürfnisbefriedigung dient, und die nicht die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört.

Hoffnung ist also daran gebunden, inwieweit sich der soziale Konflikt und das Engagement der vielen Einzelnen in (neuen) sozialen Bewegungen finden, organisieren und sich dadurch als politisch wirksame Kraft im Hinblick auf eine integrative, demokratische Gesellschaft entfalten kann. «Black Lives matter», der Frauenstreik in der Schweiz, die internationale Klima-Bewegung, die Demokratiebewegung in Hongkong oder in Belarus, all das sind Beispiele für Ausdrucksformen, wie sich die Gegenkraft des Sozialen formiert. Es ist kein Zufall, dass Rasse, Gender, Demokratie und Klima Themen des Protestes sind, die viele mobilisieren können, weil dieselben Dimensionen, die populistisch/ autoritär zur Polarisierung der Gesellschaft im Dienste der Macht und der sozialen Entbettung des Kapitalismus dienen, die Felder der Hoffnung des Sozialen bzw. einer integrativen, sozial und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft sind. Diese Proteste sind wichtige symbolische Akte, aber sie verändern die Gesellschaft nicht. Die Gestaltungskraft des Sozialen wird durch diese Proteste aufgerufen, aber sie kommt dadurch alleine nicht zur Geltung. Etwas anderes wäre es, wenn z.B. aus der «Klimajugend» subkulturelle Formen entstehen würden, in denen Alternativen des Zusammenlebens sowohl als Möglichkeitsräume gedacht, als auch in ihren Lebensentwürfen umgesetzt würden, in denen nicht nur auf Flugreisen und Verpackungsmüll verzichtet würde, sondern auch Formen der Versorgung mit Lebensmitteln und Dienstleistungen aufgebaut würden, die sich an alternativen Werten orientieren würden. Eine grössere Zahl vorausgesetzt, würde dies die Gesellschaft tatsächlich verändern, weil die Gestaltungskraft des Sozialen eine konstruktive Ausdrucksform erlangen würde.

Das ist nur ein Beispiel. Der Punkt ist, dass für eine Veränderung der Gesellschaft von unten die Gestaltungskraft des Sozialen entlang der Themen, wie sie in den Protestbewegungen aufscheinen, insofern genutzt werden müsste, dass Alternativen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Organisation des Zusammenlebens als Möglichkeitsraum gedacht, experimentell umgesetzt und im Idealfall kulturell verfestigt werden müssten. Das Konzept der «konkreten Utopien» von Ernst Bloch (Bloch, 1982) gewinnt hier als Leitidee wieder an Aktualität (deshalb auch nicht zufällig die Verwendung des Begriffs der Hoffnung in diesem Zusammenhang). Kurz zusammengefasst resultiert eine konkrete Utopie aus einer ideologiekritischen Reflexion, aus der ein Potenzial hergeleitet wird, das etwas qualitativ Neues darstellt, dessen Realisierung aber möglich ist, das heisst in der Reichweite der Umsetzung liegt. Neben dem Protest und dem Denken der Möglichkeitsräume in Theorien des gesellschaftlichen Wandels und der gesellschaftlichen Zukunft müssten in diesen auf sozialen Wandel drängenden Zeiten aus sozialen Bewegungen konkrete Utopien als Lebensentwürfe von Menschen entstehen, die soziale Möglichkeitsräume auf den meso- und mikrosozialen Ebenen erschliessen, also dort wo die Lebensführung konkret und das heisst im Hier und Jetzt stattfindet. Ein interessantes Experiment im Sinne der Umsetzung einer konkreten Utopie sind beispielsweise die Formen politischer Organisation des Zusammenlebens, die in Rojava entwickelt wurden (Öcalan, 2020), in denen eben Religion, Ethnie, Gender, Nationalität in ein integratives Modell gegossen wurden, das mindestens, gerade auch in dieser Region der Welt, vielversprechend genannt werden muss. Lokale Ökonomien bzw. soziale Ökonomie (z.B. Wallimann, 2014), lokale Währungen, lokale, zumeist genossenschaftliche Produktionsformen, Landwirtschaft auf der Basis von Permakultur sind weitere Beispiele, in denen sich die Gestaltungskraft des Sozialen manifestiert und die insofern wichtige Impulse für die Stärkung des Sozialen darstellen. Theorien, die Gesellschaft (und darin Ökonomie) vom Sozialen her zu denken, wie sich dies derzeit z.B. rund um den Begriff «care» abzeichnet (vgl. z.B. Winker, 2015), sind wichtige Elemente in einem Prozess, der entweder «im Kapitalismus gegen den Kapitalismus» (Heimann zitiert in Böhnisch & Schröer, 2016a, S. 9) die Machtbalance wieder stark auf die Seite des Sozialen verschiebt oder mittelfristig zu einer Veränderung der systemischen Parameter der Gesellschaft führen wird, also zu einer Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Die Frage, die die Linke so oft geschwächt hat, nämlich Revolution oder Reform, ist in dieser Perspektive irrelevant. Es geht um sozialen Wandel und darum, der Gestaltungskraft des Sozialen Raum und Geltung zu verschaffen.

Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit

Abschliessend stellt sich für mich aus der Soziale Arbeit heraus die Frage, was dies für die Soziale Arbeit bedeutet? Auf der einen Seite bedeutet es das, was es schon immer bedeutet hat, wenn Soziale Arbeit als Profession im Kontext der sozialen Frage agiert: sie arbeitet mit den Benachteiligten dieser Gesellschaft und versucht mit diesen den Möglichkeitsraum des Gegebenen so weit wie möglich auszuloten und auszugestalten, mit dem Ziel deren Lebenschancen zu verbessern. Das ist die ganz normale professionelle Arbeit mit z.B. prügelnden Ehemännern und deren Opfern, mit von Armut betroffenen Familien, mit gewaltbereiten Neo-Nazis, mit vernachlässigten und missbrauchten Kindern, mit alltäglich von Diskriminierung betroffenen Migrantinnen und Migranten, mit überforderten Eltern, mit älteren Langzeitarbeitslosen, mit psychisch erkrankten Menschen und so weiter. In Zeiten wie diesen muss sich die Profession dabei schlau ihres Wissens bedienen und – mindestens so wichtig – ihre Wertebasis verteidigen. Jede einzelne und jeder einzelne Professionelle ist aufgefordert an ihrem Arbeitsplatz, gegenüber den Geldgebern im politisch-administrativen System und in der Öffentlichkeit dafür einzutreten und darauf aufmerksam zu machen, dass die Soziale Arbeit für eine integrative Gesellschaft arbeitet und zwar im Einklang mit der demokratischen Wertebasis und den Menschenrechten (vgl. auch Staub-Bernasconi, 2019). Bei den aktuellen politischen Machtverhältnissen wird dies nicht ohne Kritik an der aktuellen Sozialpolitik gehen und wahrscheinlich auch nicht ohne Widerstand gegen sozialpolitische Zumutungen, die ebendieser Wertebasis wie der professionellen Wissensbasis und somit den professionellen Standards zuwiderlaufen.

Zum anderen geht es darum, dass sich die Soziale Arbeit zunehmend wieder selbst als gestalterische Kraft des Sozialen wahrnimmt und dementsprechend Angebote realisiert und ggf. neue schafft. Es geht im Kern darum, das Soziale im Hinblick auf Problemlösungen und/oder Möglichkeitsräume für die Menschen erfahrbar zu machen, insbesondere für die benachteiligten Teilpopulationen, aber auch darüber hinaus. Das Schaffen, das Mitgestalten und die Nutzung solcher sozialen Erfahrungsräume ist schon immer sowohl eine zentrale Aufgabe der Sozialen Arbeit als auch eine zentrale, wenngleich scheinbar in Vergessenheit oder in den Hintergrund geratene methodische Säule, die sich z.B. in den Begriffen «Gemeinwesenarbeit» (Stövesand et al., 2013) und «Sozialraumorientierung» (z.B. Kessl & Reutlinger, 2007) niedergeschlagen haben.

Der Begriff der sozialen Erfahrungsräume geht allerdings über die hier anklingende Orientierung auf das Gemeinwesen und die Gemeinwesenarbeit hinaus. Es geht im wörtlichen Sinn darum, die Gestaltungskraft des Sozialen mit den Mitteln der Sozialen Arbeit zur Geltung zu bringen und dadurch für die Menschen (wieder) erfahrbar zu machen. Die Soziale Arbeit zeigt sich bislang insgesamt trotz einiger vielversprechender Ansätze (z.B. Treffpunkt Azzurro in Bern https://azzurro-bern.ch/ ) erstaunlich fantasielos. Der Begriff der «Sozialen Innovation» ist zwar en vogue (Hüttemann & Parpan-Blaser, 2012), nicht zuletzt auch an meiner Hochschule, aber neue Formen im Sinn konkreter Utopien begegnen mir zumindest bislang kaum. Wenn soziale Erfahrungsräume in diesem Sinn sozialarbeiterisch genutzt bzw. geschaffen werden sollen, dann geht es jedenfalls darum Problemlösungspotenziale im gegebenen, aber gestaltbaren und somit erfahrbar veränderbaren sozialen Raum mit den Betroffenen zusammen zu erschliessen. Wo und wie auch immer. Die Zeitschrift «surprise» (https://www.surprise.ngo) ist ein schönes Beispiel für eine soziale Innovation im Sinne der Nutzung der Gestaltungskraft des Sozialen, ebenso wie die «Heitere Fahne» in Wabern (https://www.dieheiterefahne.ch/). Die Überwindung der neo-liberalen, investiven, ideologisch auf Eigenverantwortung abstellenden Sozialpolitik könnte in ein Paradigma sozialer Innovation münden, in dem neben der Re-Etablierung einer soliden Grundversorgung (z.B. durch ein bedingungsloses Grundeinkommen) die Bildung solcher Projekte, solcher Möglichkeitsräume des Sozialen systematisch unterstützt würde. Dafür ist wiederum das politische Engagement von uns allen notwendig, von allen, die sich gegen die soziale Entbettung des Kapitalismus und damit gegen reaktionäre, autoritäre, populistische politische Kräfte behaupten wollen.

 

Literatur

Bloch, E. (1982). Das Prinzip Hoffnung (8. Aufl., Bd. 3). Suhrkamp.

Böhnisch, L., & Schröer, W. (2016). Das sozialpolitische Prinip. Die eigene Kraft des Sozialen an den Grenzen des Wohlfahrtsstaats. Transcript.

Bourdieu, P. (1991). Sozialer Raum und Klassen. Suhrkamp.

Heintz, P. (1968). Einführung in die soziologische Theorie (2., erw. Aufl.). Enke.

Heintz, P. (1982). Ungleiche Verteilung, Macht und Legitimität: Möglichkeiten und Grenzen der strukturtheoretischen Analyse (Bd. 9). Rüegger.

Horkheimer, M., & Adorno, T. W. (1981). Dialektik der Aufklärung. Suhrkamp.

Hüttemann, M., & Parpan-Blaser, A. (2012). Innovation in der Sozialen Arbeit. ein altbekanntes Phänomen und ein neues Forschungsgebiet. Schweizerische Zeitschrift Für Soziale Arbeit / Revue Suisse de Travail Social, 12, 75–99.

Kessl, F., & Reutlinger, C. (2007). Sozialraum: Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90330-9

Kronauer, M. (2010). Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus (2., aktualis. u. erw.). Campus.

Obrecht, W. (2008). Individuum und (Welt)Gesellschaft. https://w3-mediapool.hm.edu/mediapool/media/fk11/fk11_lokal/forschungpublikationen/lehrmaterialen/dokumente_112/sagebiel_1/Obrecht-08-Indiv_u_WeltGesellschaft.pdf

Öcalan, A. (2020). Soziologie der Freiheit.: Bd. Band III. Unrast Verlag.

Sommerfeld, P., Hollenstein, L., & Calzaferri, R. (2011). Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. VS Verlag.

Staub-Bernasconi, S. (2019). Menschenwürde – Menschenrechte – Soziale Arbeit: Die Menschenrechte vom Kopf auf die Füße stellen. Verlag Barbara Budrich.

Stövesand, S., Stoik, C., & Troxler, U. (Hrsg.). (2013). Handbuch Gemeinwesenarbeit: Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden ; Deutschland – Schweiz – Österreich. Verlag Barbara Budrich.

Truell, R. (2019). The Future of Social Work. Soziale Arbeit, Jul 2019. 68. Jahrgang, 242–249.

Wallimann, I. (2014). Social and solidarity economy for sustainable development: its premises – and the Social Economy Basel example of practice. International Review of Sociology, 24(1), 48–58. https://doi.org/10.1080/03906701.2014.894345

Winker, G. (2015). Care Revolution: Schritte in eine solidarische Gesellschaft. transcript-Verl.

 


Peter Sommerfeld, Soziologe, Professor am Institut Soziale Arbeit und Gesundheit, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Schwerpunktthemen: Theorien Sozialer Arbeit, insbesondere Systemtheorien, Soziale Arbeit als Profession und Handlungswissenschaft, Soziale Arbeit und Psychiatrie, Soziale Arbeit im Gesundheitswesen.




2 Comments

  1. peter sommerfeld hat mir gestern seinen Text hier gezeigt, welchen ich doch zur kenntnis nehmen solle.

    weil ich sehe, dass bei theoriekritik.ch nicht kommentiert wird, habe ich den text dann doch nicht hier als “abgeschickt”, sondern in meinem blog dissent.is abgelegt.

    falls ihr den text doch hier haben wollt, mache ich später gerne eine copy/paste. der link ist unter “website” eingetragen worden. oder hier noch einmal: https://dissent.is/2021/09/09/alway-looking-for-complications-sozialarbeit-theoriekritik/

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