Zusammen schreiben. Ein Versuch über das gute Schreiben

und

 Im Wissen um das geteilte Begehren nach Schreiben und Fabulieren haben wir im Februar 2018 einen Briefverkehr angefangen, um unsere eigene Schreibpraxis und Situierung im erweiterten Kunstfeld sowie im Feld der Geisteswissenschaften zu reflektieren. Dabei war uns durchaus bewusst, dass wir in einem besonderen Verhältnis zueinander stehen: Ruth ist von ihrer Ausbildung her Philosophin und Sofia eine theorieaffine Künstlerin. Kennen gelernt haben wir uns 2012 im Rahmen von Ruths Doktorant*innen-Kolloquium an der Kunstakademie in Wien. Unser erster Austausch fand also im Rahmen der Dissertationsbetreuung statt. Nach dem Abschluss von Sofias Dissertation entstand die Idee, das wissenschaftliche Schreiben bzw. die Theorieproduktion in der eigenen Sprache bzw. in der Fremdsprache aus unseren unterschiedlichen Standpunkten zu problematisieren und auf diese Weise unseren Austausch fortzusetzen. Zunächst haben wir den Akzent auf die Problematik des legitimierten Wissens innerhalb der Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum (insbesondere mit Blick auf die Kunst- und Kulturwissenschaften) und die unterschiedlichen Perspektive von Autor*innen mit oder ohne Migrationsvordergrund gelegt. Später setzten wir uns in unserem Briefverkehr mit den eigenen Disziplinierungen durch die sogenannten westliche Wissensproduktion, mit den Konventionen und Freiheiten des (akademischen) Schreibens sowie mit Formen der Kritik, der Situierung und der spekulativen Fabulation auseinander.

 

 

Februar 2018

 

Liebe Ruth,

 

die Theorie(n) und die Selbstreflexion, auf die man sich stützt und die man verwendet, um das eigene Denken und das gelebte Wahrheitsgefühl gedeihen zu lassen, gehen nicht ohne eine gewisse Jacke aus der Tür raus. Die Jacke ist meine Deckung, die ich mir ausgesucht habe oder mir von anderen verpasst wurde, und die mir nutzt, mein intellektuelles Denken-Fühlen situativ einzusetzen. Was das für das eigene Denken und Schreiben in einem spezifischen Feld (in meinem Fall: Kunst- und Kulturwissenschaften, Kunst und Philosophie) bedeutet, möchte ich mit Eribons Perspektive auf kollektives und individuelles Handeln erläutern:

„Wie radikal und kritisch man auch sein oder sich geben kann, in vielen Hinsichten bleiben die täglichen Verhaltensweisen und Wünsche der historischen und sozialen Gravitation verhaftet. Wenn man die Ordnung der Dinge kritisieren oder dazu beitragen will, dass sie sich ändert, dann bedeutet das noch nicht, dass man sich bereits anders ist, dass man sich von erlernten und „naturalisierten“ Rollen, von den inhärenten Verhaltensweisen und Reflexen ganz und gar „befreit“ ist“. [1]

Die emanzipative Arbeit fängt immer bei einem selbst an, schreibt Eribon in seinem Buch Gesellschaft als Urteil. Die emanzipative Kraft, die die Arbeit an der Politik des Selbst mit sich trägt, kann demnach zu einer Veränderung der Wirklichkeit – womöglich zu einer politischen Erneuerung – beitragen. Was mich beschäftigt, was mich oft quält, ist die soziale Ordnung; also die „Strukturen der Welt“, die Eribon wie Bourdieu analysieren. Auch wenn ich mit Begeisterung bereit wäre, eine „kritische“ oder „radikale“ Jacke anzuziehen, um mich theoretisch wie selbstinszenatorisch zu schützen oder zu wärmen, kann ich schwer behaupten, dass emanzipatives Denken dort anfängt, wo ich mich am wärmsten fühle. Biographisch gesehen, habe ich mit dem Schreiben dort angefangen, wo es mir am kühlsten war: etwa in der Unsicherheit der Fremdsprache, die zur eigenen Sprache geworden ist. Und gleichzeitig bin ich doch dort verhaftet geblieben, wo es mir im Diskurs am wärmsten war, nämlich in einer philosophischen, gesellschaftlichen Analyse und Kritik (der Kunsthandlungen), die den Anspruch an sich selbst hat, dekonstruktiv und emanzipativ zu agieren.

Mit diesem Text versuche ich, meine Gedanken zum guten Schreiben als Anregungen zu strukturieren und diese zur Diskussion zu stellen. Ich lasse vorerst eine Präzisierung der Definition „gutes Schreiben“ außer Fokus, weil ich sie später im Kontext bzw. auch in Opposition zur (Fach-)Disziplinierung des Schreibens setzten möchte – oder sogar im Disput erarbeiten will.

 

Sich mit dem eigenen politischen Denken, mit dem eigenen wissenschaftlichen oder (kunst-)literarischen Schreiben und mit der eigenen kritischen Reflexion im künstlerischen und/oder akademischen Feld zu beschäftigen, ist eine erlernte Aufgabe sowie eine Herausforderung. Allein das Schreiben bzw.die Schreibpraxis auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Literatur, Kunst und Wissenschaft, Gesellschaftsanalyse und Autoanalyse, wissenschaftlicher Seriosität und Prosa, bereitet mir Schwierigkeiten. Es ist womöglich weniger eine Methodologie der (Wissens-)Disziplinen sondern vielmehr das Schreiben selber, das instinktiv dekretiert (im Sinne von vorschreiben), wie das Schreiben als restloses Denken und Handeln präsent ist. Mich interessiert die Art bzw. die Kunst des Schreibens – das Schreiben als synthetische Praxis, innerhalb der Geisteswissenschaften quer durch die Fachdisziplinen und durch die eigene situierte Weltwahrnehmung.

Der Film über und mit Donna Haraway Story Telling for Earthly Survival von Fabrizio Terranova

hat mich existenziell befreit. Kapitalismuskritik als solche, witzelt Haraway, so scharfsinnig und intellektuell diese sein mag, kann uns verblöden – sogar uns irre machen, würde ich hinzufügen. Die Scharfsinnigkeit und Eloquenz der neuesten Kapitalismusanalysen sowie die Klugheit (Smartness) der radikalen Gesellschaftskritik stellt Haraway in Frage, indem sie provokativ auf die Arroganz der kritischen Intellektuellen aufmerksam macht und kritisiert, dass sich sogar die radikalsten (akademischen) Kapitalismuskritiker*innen drauf beschränken, eine treffende Analyse der Komponenten der bestehenden Ordnung zu suchen, oder miteinander um die beste Kritik konkurrieren. Diejenigen, die etwas verändern wollen und dies wagen, werden wiederum oft als „dumm“ oder „naiv“ angesehen (so Haraway). Mir ist nicht klar geworden, welche Akteur*innen genauer damit gemeint sind. Haraway sucht eine best practice der Kritik, die nicht mit extremen Veränderungen oder einer spektakulären Umwälzung liebäugelt. Sie plädiert für ein kritisches Denken-Fühlen-Handeln als situierte Praxis, die Dinge und Handlungen aus der Perspektive der Forschenden in Bezug auf deren politische Positionierung deutet. Ich kann mir vorstellen, dass gerade eine Umkehrung der Hierarchie zwischen akademischer Kapitalismus- und Gesellschaftskritik einerseits und emanzipativer everyday Praxis auf der anderen Seite notwendig ist.

An einer anderen Stelle spricht Haraway über das Denken als Praxis bzw. über die materielle Tätigkeit des Denken-Schreibens im Austausch mit anderen Denker*innen. Denken ist nach Haraway nämlich auch Storytelling (Geschichtenerzählen) und es ist ihr wichtig, dass wir die Erzählungen bzw. auch die Geschichten verändern können. Mich interessiert genau die Art des Erzählens und wie das (akademische) Schreiben selber ­– mitsamt seinen Konventionen und Freiheiten – eine Art Stortelling sein kann, das erstens: vielfältigen Erzählungen einen Platz gibt, zweitens: gegen sich selbst denken kann und drittens: sich selber auch verändert.

 

 

Februar 2018

Liebe Sofia,

 

Dein Text drängt mich zur Briefform; zu einer Form, die das Angesprochenwerden und Antwortenwollen – also die Relationalität – explizit macht. Auch wenn mir klar ist, dass alle noch so neutralen, ihren Antwortcharakter versteckenden Texte genau genommen auch vielfältige Antworten sind, gilt das für Deinen Text ganz besonders. Du antwortest auf die Vorschläge von Haraway und Eribon, der über die von Bourdieu schreibt. Ich versuche nun eine Antwort auf Euch alle.

 

Eure erste Anregung – sich mit dem eigenen Denken, Schreiben, sich Politisieren zu beschäftigen – hat mir sofort eingeleuchtet, aber sie ist mir schwer gefallen. Ich versuche einen Anfang. Ich fühle mich, um eine Deiner Formulierungen aufzugreifen, im mehr oder weniger wissenschaftlichen Schreiben am wärmsten und frage mich, wie mir dieses Schreiben zu einer Art zweiten Natur geworden ist, obwohl ich für sie klassenmäßig alles andere als prädestiniert war. Wenn es stimmt, was Du schreibst, nämlich dass es im Warmen nicht besonders emanzipativ zugeht, dann ist die Frage umso wichtiger, woher diese Wärme des wissenschaftlichen Schreibens in meinem Fall kommt und ob daraus etwas Emanzipativeres entstehen kann.

 

Ich glaube, ich habe Schreiben schon immer geliebt – in seiner ganzen Materialität. Vom Papier und den Stiften bis hin zu den Bewegungen des Zeichnens als ich ein Kind war; und heute geht es mir mit den Keyboards von Rechnern nicht anders. Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind Schriftzüge nachgeahmt und nachgezeichnet habe, noch bevor ich lesen und schreiben konnte. Ich erinnere mich, wie ich mit dem Wort „Milka“ auf einer Tafel Schokolade seitenlang experimentiert und rauszufinden versucht habe, wo genau die einzelnen Laute von „Milka“ sich in den Schriftzeichen auf der Schokoladentafel befinden; wo die Zeichnung das Ausgesprochene trifft. Lesen und Schreiben zu lernen war eine Intensivierung dieses Abenteuers; eine Möglichkeit, unendliche Welten zu erfinden, die besser als meine waren.

 

Ich glaube, dass ich gerade aufgrund dieses Begehrens auf Schreiben, auf Fabulieren und Erfinden sehr anfällig war für das Disziplinierende und also definitiv nicht Emanzipatorische im Schreiben. Dass ich vermittelt über die Lust am zeichnenden und fabulierenden Schreiben in eine Welt getaucht bin, die ich zu lange gerade unterwürfig verehrt habe: die Welt der Wissenschaft und der (disziplinierenden) Formen des wissenschaftlichen Schreibens. Im Rückblick scheint mir, dass ich sprachlich vermitteltes Analysieren, Argumentieren, Reflektieren und Erfinden als Befreiung aus einer sehr dumpfen Welt erlebt habe und deshalb lange dachte, dass Philosophie – zumindest die Philosophie in der Tradition der kritischen Theorie – der Gipfel davon ist. Das hat mich offensichtlich sehr unkritisch gemacht in Bezug auf die Verehrung der Philosophie im Besonderen und der Universität im Allgemeinen. Hinzu kommt vermutlich auch noch, dass ich in jenem kurzen Zeitraum studieren konnte, in dem der Zugang zu Universitäten relativ leicht war, sodass der Eindruck in den Hintergrund getreten ist, dass Universitäten in erster Linie der Reproduktion von Eliten dienen. Zusammengefasst: Die Liebe zum Schreiben samt seinem für mich Befreienden hat mich sehr unkritisch an das Emanzipatorische des wissenschaftlichen Schreibens und seiner Institutionen glauben lassen; auch wenn mich immer wieder Texte angezogen haben, die Institutionskritik dieses Schreibens betrieben haben. (Benjamins Aufsatz über das Studentenleben, Adornos Essay über den Essay, die Wissenschaftskritik in Büchners Woyzeck, Jelineks Veralberung von Heidegger, Benjamins Passagenwerk, die Dialektik der Aufklärung, ein paar Gedichte von Bachmann etc.)

 

Wachgerüttelt hat mich der sog. Bologna-Prozess (in den Niederlanden). Er hat überdeutlich gemacht, dass universitäre Wissensproduktion in erster Instanz eine Zulieferagentur des kognitiven Kapitalismus ist. Ab da hat mich die Frage umgetrieben, ob und wie man ein anderes wissenschaftliches Schreiben wieder(er)finden kann. Für mich geht es also darum, Stereotypen des wissenschaftlichen Schreibens, die mir inzwischen viel zu leicht fallen, los zu werden. Ich könnte mir vorstellen, dass ich sie nur im Schreiben, im anderen Schreiben, im besseren Schreiben los werden kann. Um jetzt wieder auf Deine Vorschläge und Anregungen zurück zu kommen: Könnte es ein anderes Denken-Schreiben werden, wenn wir einander erzählen, wie wir einen Zugang zum Schreiben erworben haben? Oder konkreter: Wie und wann bist Du zum Schreiben bzw. Denken-Schreiben gekommen? Das hat ja sicher nicht erst mit Deiner Dissertation angefangen.

 

 

März 2018

Liebe Ruth,

 

auf die Frage nach dem Wie und wann ich mit dem Denken-Schreiben begonnen habe, fällt mir keine lineare Geschichte ein. Ich kann meinen Zugang zum Schreiben – hier denke ich nicht an eine konkrete Schreibpraxis, sondern an die verschiedenen Praxen des Lesens, Denkens und eigenen Sprechens – nur in Fragmenten auffassen. Wenn es stimmt, dass man von jedem Milieu vereinnahmt wird (oder zumindest darin bestimmte Eigenschaften antrainiert), dann waren es in meinem Fall die unterschiedlichen Kontexte, in denen ich mir das Lesen und Schreiben angeeignet habe.

Fragment Nr. 1: in der Kindheit habe ich mich wenig getraut, eigene Gedanken in Schriftform zu bringen. Das Lesen-Lernen war eine Tätigkeit, die zur Schulaufgabe gehörte. Das freie Lesen drüber hinaus hatte mir viele Freiheiten gegeben.

 

Fragment Nr. 2: mit dem Denken-Schreiben habe ich mich bewusst in den letzten zwei Schulklassen auseinandergesetzt, während der intensiven Vorbereitung für die staatlichen Universitäts-Prüfungen. Ich hatte Naturwissenschaften als Prüfungsfach gewählt und lernte für die Schlussprüfung in Physik, Chemie und Biologie. Bei allen Uni-Richtungen sollte man neben den Hauptfächern wie Chemie, Mathematik, Geschichte oder Latein auch im Essay-Schreiben, dem sogenannte „ekthesi ideon“ (Ausstellung der Ideen) geprüft werden. Das Ausstellen der Ideen als schriftliche Tätigkeit hat mir gut gefallen bzw. die Arbeitsweise, die Ideen anderer und die eigenen aufs Papier zu bringen. Die Art und Weise, wie eine essayistische, argumentative Erzählung aufgebaut wird, hat mich zu dieser Zeit fasziniert.

 

Fragment Nr. 3: Während meines Studiums der bildenden Kunst in Athen habe ich gelesen und mich in Verwandtschaft mit Autor_innen und Leser*innen gebracht, aber sehr wenig geschrieben. Ich habe fast nur trockene Texte für die Theorieprüfungen an der Kunstakademie geschrieben. Die schriftlichen Prüfungen der Akademie verlangten eine „photographische“ Wiedergabe der im Kunstgeschichtsbuch Geschriebenen – die eigene theoretische Rekonstruktion

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, ganz zu schweigen von einer kritischen Reflexion, war nicht das Prüfungsziel. Es schien mir damals passender, mich durch das Zeichnen, das Photographieren, das Collagieren, das Volumen-Arrangieren sowie mit dem eigenen Körper auszudrücken.

 

Fragment Nr. 4: Mit dem Schreiben habe ich während meines zweiten Kunststudiums in Berlin neu begonnen. Ich habe damals mit dem Lesen in einer dritten Fremdsprache begonnen und mit dem „geisteswissenschaftlichen“ Schreiben auf Deutsch experimentiert. Dort habe ich bemerkt, dass durch die große Entfernung aus der Muttersprache eine neue Sprache im Denken und Schreiben langsam an Boden gewann. Das Denken-Schreiben auf Deutsch hat das Englische verdrängt, das Italienische eliminiert und das Griechische herausgefordert.

Ich denke hier an das Wesentliche der Muttersprache, das Arendt in ihrem Interview mit Günther Gauss erwähnt (selbstredend in einem völlig anderen Kontext): „Es gibt keinen Ersatz für die Muttersprache – man kann die Muttersprache vergessen, das ist wahr, ich habe es gesehen. Was dann entsteht, ist dass die Leute sprechen die Fremdsprache besser als ich (…).“[2]Es ist Arendt zufolge möglich, dass die Muttersprache unter schwierigen Bedingungen verdrängt, sogar vergessen wird. An ihre Stelle tritt dann eine andere Fremdsprache, die man täglich benutzt. Barbara Cassin überlegt sich hierzu, wie man die Fremdsprache in der „als ob“-Kondition verwendet:

“I would certainly agree that one can forget one’s maternal language if, very early on, one no longer practices it with anyone at all, not even with oneself. So one must be able to live in another language “as if” (what does this mean?) it had always been one’s own.”[3]

 

Mich beschäftigt weniger das Vergessen der eigenen Muttersprache, sondern der Lernprozess in den Fremdsprache(n), der die Muttersprache auf subtile Art infiltriert und beeinflusst. Es ist durch die Erfahrung der Migration möglich, die eigene Muttersprache in den Hintergrund zu setzen, sie zu korrumpieren. Die Fremdsprache wiederum ist oft sperrig und rätselhaft, aber man entwickelt sie langsam durch das Begehren zu verstehen und verstanden werden zu können. Ich habe mit Mühe versucht, die Fremdsprache „am besten“ zu lernen – und zwar sie nicht nur im Alltag zu nutzen sondern auch als Gefäß für mein Denken zu verwenden. Die „schmutzige“ Praxis der Übersetzung, die Komplexität der theoretischen deutschen Sprache (im Original oder als Übersetzung aus dem Englischen) und die Aneignung von neuen Wissen waren miteinander verflochten. Während des Studiums im deutschsprachigen Raum haben mich unterschiedliche Texte angezogen wie z. B. Benjamins Buch über die Berliner Kindheit um 1900, Susan Sontags Essay Das Leiden anderer betrachten, Adornos und Horkheimers Kulturindustrie-Kapitel in der Dialektik der Aufklärung, Agambens Homo Sacer oder Foucaults Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft. Zur gleichen Zeit habe ich die Theoretisierung der freien Künste bzw. das institutionelle Etablieren von Theorie (Ästhetik, Architekturgeschichte, politische Philosophie, Cultural Studies) in Kunsthochschulen erlebt. Die Debatten über das fachwissenschaftliche Schreiben in den Künsten, die Verheißung von Kunst und Theorie und die Definitionsschlacht über den umstrittenen Begriff der künstlerischen Forschung an seinen Anfängen, habe ich Mitte 2000 als Teil der institutionellen Agenda der höheren Kunstausbildung in Deutschland verfolgt.

 

Fragment Nr. 5: Mein Bild des akademischen bzw. wissenschaftlichen Schreibens ist immer noch elliptisch, ich kann es nicht vervollständigen. Durch die Auseinandersetzung mit der Dissertationsliteratur ist mir dieses Schreiben-Denken näher gekommen. Die Fachdisziplinen der Philosophie, der politischen Theorie und der Kulturwissenschaften erziehen das Denken und geben in der Regel das „korrekte“ Schreiben vor. Ich habe die Form und die Konventionen des wissenschaftlichen Schreibens auf Deutsch oft bewundert und gleichzeitig habe ich mich in dieser Art des Schreibens unwohl gefüllt. Es war und bleibt ein Wechselspiel zwischen der Faszination (angesichts des Erfinderischen in der akademischen Sprache) und dem Befremdet-Sein in der wissenschaftlichen (Fremd-)Sprache. Es bleibt dabei auch eine Menge Skepsis und Belustigung bezüglich der Verhältnisse, die die verschiedenen Disziplin-Sprachen in ihrer Konkretheit verbergen, und die Lust, diese näher zu untersuchen. Nun steht die Idee im Raum, dass wir zusammen ein anderes Denken-Schreiben versuchen, das gewisse Konventionen, Normen und Adaptionen los wird. Nämlich ein gemeinsames Denken-Schreiben erproben, das unsere sprachlich-kognitive Hintergründe nicht verschweigt oder ignoriert, sondern diese im Rahmen eines temporär digital-symbiotischen Austausches gedeihen lässt (oder der Briefverkehr im Sinne von Haraways sym-poiesis erprobt).

 

 

August 2018

 

Liebe Sofia,

 

danke für Deine Geschichten über die verschiedenen Fremdsprachen und Eigensprachen. Ich habe mich beim Lesen plötzlich wieder daran erinnert, wie ich Holländisch mit Adorno, Heidegger und Kant gelernt habe, als ich deren Texte in den Niederlanden unterrichten musste. Weil ich ihre Texte auf Deutsch gut kannte, waren sie ideal, um mich gleich in die holländischen Übersetzungen zu stürzen, weil ich dann beim Lesen kein Wörterbuch brauchte. Man kann sich vorstellen, was da für ein veraltetes, lächerliches Holländisch rausgekommen sein muss. Hoffentlich haben die Gespräche mit Lebenden mein sicher verkorkstes Philosophen-Holländisch korrigiert und allmählich in die Gegenwart gebeamt! Es wäre wohl schlauer gewesen, Holländisch mit politischer Philosophie oder den Cultural Studies zu lernen. Aber davon gibt es ja im Original so gut wie nichts auf Holländisch. Das habe ich einerseits immer bedauert. Aber im Nachhinein denke ich mir, dass es auch befreiend ist, in eine Sprache hineinzufinden, die nicht übermächtig groß und traditionsschwer ist wie ich mir aus einer Außenperspektive z.B. das Deutsche vorstelle – mit diesen Deutscher-Idealismus-Sätzen. So eine Sprache ist vermutlich eine riesige Einschüchterungsmaschine. Das Holländische hingegen ist eine kleine, mit einem melancholischen Minderwertigkeitskomplex beladene Sprache, was wohl damit zu tun hat, dass es einmal eine ziemlich weltumspannende Kolonialsprache war.

 

Nachdem wir nun unsere Sprachgeschichten ein wenig kennen gelernt haben (danke fürs Teilen!), sollten wir uns überlegen, mit welchen Fragestellungen wir weitermachen, um aus diesem Metadiskurs über unsere Sprachen wieder rauszukommen. Was mich sehr interessieren würde, geht auf deine „Zweite Anregung“ zurück. Ich meine den Vorschlag von Haraway, nicht ewig an idealen Theorien zu basteln, sondern mit best practice Konzepten und Überlegungen zu arbeiten. Mir ist zwar noch nicht ganz klar, wie das mit ihrer Forderung nach dem Geschichtenerzählen als Modus des Reflektierens zusammenhängt, aber genau deshalb würde ich da gerne weitermachen.

 

 

September 2018

 

Liebe Ruth,

 

ich möchte mit dem Vorschlag von Donna Haraway anfangen, nicht ewig an idealen Theorien zu basteln, sondern mit best practice Konzepten und Überlegungen zu arbeiten[4]. Die Frage in meinem Notizbuch lautet: Welche Denkweisen wollen wir für Wen produzieren, im Licht von Haraways Vorbehalten über die endlose Produktion von perfekter Theorie?

Story telling möchte ich keinesfalls als eine zusätzliche große Erzählung begreifen, die aus einer Subjektposition bzw. aus einer männlichen, intellektuellen, bürgerlichen Autorenfigur (wie der genderunspezifischen Reproduktion dieser Figur) hervorgeht. Das Geschichtenerzählen ist bekannterweise eine historische wie gegenwärtige feministische Praxis der mündlichen oder vielleicht schriftlichen Überlieferung von Erfahrung, Erlebnissen, Wissen, Emotionen. Es ist eine Übertragung von eigenen und fremden Geschichten, ein geteiltes affiziertes Erlebnis zwischen Hörenden und Zuhörenden. Das letzte findet z. B. beim Briefaustausch zwischen Freund*innen statt, wenn eine Großmutter von ihrem eigenen Leben ihrem Enkelkind erzählt, in Telefonaten zwischen Schwestern in unterschiedlichen Ländern, beim Kollektivplaudern zwischen älteren und jüngeren Aktivist*innen, bei den Interviews einer Künstlerin oder einer Ethnologin, beim Arbeiten in der Kantine zwischen zwei Kolleginnen usw. Das Geschichtenerzählen ist eine everyday practice, die uns mehr oder weniger häufig begegnet.

Haraway, wie ich sie verstehen möchte, setzt das Geschichtenerzählen in einen spezifischen Kontext: in Prozesse des Wissenschaftlichen, des Theoretisierens und des Lernens. Sie spricht von spekulativen Fabulationen und der sogenannten feministischen Technowissenschaft. Michelle Murphy[5] und andere Wissenschaftlerinnen/Feministinnen lehnen sich an Haraways praktisches Denken an und setzen auf eine feministische Technowissenschaft als everyday practice innerhalb der eigenen Wissensproduktion.

 

Zurück zu story telling! Geschichtenerzählen – mit Haraway oder drüber hinaus – wäre für mich der Versuch, die Subjektposition in der binären westlich-philosophischen Logik der Sortierung, Bewertung und Bestimmung von legitimen Wissens- und Denkkategorien zu stören bzw. sie herauszufordern. Mit diesem Gedanken bin ich glücklicherweise nicht allein. Künstlerin und Autorin Lorraine O’Grady spricht von der Notwendigkeit, über die klassische binäre Logik des entweder/oder hinaus zu denken:

„It is no overstatement to say that the greatest barrier I/we face in winning back the questioning subject position is the West’s continuing tradition of binary, “either/or” logic, a philosophic system that defines the body in opposition to the mind.“[6]

 

Genau diese binäre Logik ist in vielen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Fakultäten im deutschsprachigen Raum und drüber hinaus zu beobachten Genau diese binäre Logik ist auch in vielen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Fakultäten im deutschsprachigen Raum durchaus präsent. An dieser Stelle möchte ich Lorraine O’Gradys Zitat und ihrem Denken einen größeren Platz einräumen. (Eine Übung gegen die endlose Zitatkonsumation im akademischen Schreiben). Deshalb erzähle ich die Geschichte von Lorraine O’Grady, die mich in der letzten Zeit beschäftigte. O’Grady aus Boston ist bekannt für ihre Arbeit über Black Female Subjectivity und ihre Persona als Mlle Bourgeoise Noire. Bevor sie sich mit der eigenen Kunstproduktion auseinandersetzte, arbeitete O’Grady jahrelang als Kritikerin für Rock Musik, Analystin sowie Literatur- und Handelsübersetzerin. In der New Yorker Kunstwelt war sie erst Ende der 1970er Jahre aktiv, während sie 1983 im Kontext des Civil Rights Movement an der „African American Day Parade“ in Harlem mit dem partizipativen Perfomance-Stück „Art Is“ involviert war. Die Performance war ein scharfer Kommentar zur verbreiteten Ansicht im US-amerikanischen Kunstfeld, dass Avantgarde-Kunst nichts mit Schwarzen Menschen zu tun habe.

 

O’Gradys Familie migrierte aus Afrika über Jamaica nach Boston. Sie erzählt diese Geschichte selber, während sie der Filmmacherin Zawe Ashton ein Bild in ihrem Studio zeigt. O’Grady zeigt Ashton vier gerahmten Fotos aus ihrer Familie bzw. ihrer Mutter und ihrer Tanten. Sie erzählt ihre (Kunst-)Biografie[7] und wie sie mit ihren eigenen „Waffen“ in ihrem Milieu zu kämpfen versuchte bzw. in einem Milieu von Schwarzen ausgebildeten Menschen der US-amerikanischen Mittelschicht. In Abgrenzung zu den weißen bürgerlichen Avantgarde-Kunstkolleg*innen, die ihre Inspiration und Selbst-Legitimation „von der Straße“ bzw. von unten suchten, setzte O’Grady als „overly educated“ und „overly well brought up“ Schwarze Frau auf Sichtbarkeit und Anerkennung auch außerhalb der Black Community.

Schwarze Künstler*innen waren aus der US-amerikanischen avantgardistischen Kunstwelt der 1970er­ und 80er Jahre ausgeschlossen. Diesen Ausschluss erklärten die Kuratoren dieser Zeit mit der Begründung einer „fehlenden Qualität“ der künstlerischen Arbeit von Schwarzen Künstler*innen – also gemäß den Qualitätsstandards der westlichen Kunstgeschichte. Somit wurden Schwarze Künstler und insbesondere Künstlerinnen schlichtweg unsichtbar gemacht. In ihrem Interview weigert sich O’Grady, für alle Schwarze Künstlerinnen zu sprechen und grenzt sich von der essentialistischen Kategorie „black women’s art“ ab. Sie lässt sich aufgrund ihrer Schwarzen Identität nicht in die exotische Schublade reinstecken.[8]

O’Gradys Position beschäftigt mich noch aus einem weiteren Grund, genauer gesagt: Mich interessieren die Identitätspolitik(en)[9] im Verhältnis zur Repräsentationskritik und zur relativ erhöhten Sichtbarkeit von historisch diskriminierten Subjekten wie z. B. PoC Frauen* und nicht-weißen bürgerliche Künstlerinnen* – insbesondere im Kunstfeld. Wie werden diese Positionen im Rahmen von Kunstausstellungen in westlichen Kulturinstitutionen präsentiert? Ich frage nach dem Verhältnis von Inklusion und Exotisierung von nicht westlich-europäischen Subjekten im gegenwärtigen Ausstellungsbetrieb.

Aber ich habe zugleich die Geschichte und die Position von O’Grady alias Mlle Bourgeoise Noireerzählt, um etwas anderes herauszustreichen: nämlich das Hinterfragen der Subjektposition.

Angenommen wir möchten unsere eigene Subjektposition und jene mancher unserer Kolleg*innen hinterfragen. Dann könnte unsere Übung eine best practice der Theorie (d. h. mit einer Theorie in der Praxis arbeiten) in Bezug auf unsere Tätigkeiten als Kunst- und Kulturwissenschaftlerinnen sowie Lehrerinnen eine Herausforderung werden, die unbequem, aber auch reizvoll ist.

 

Für mich heißt es konkret: Ich müsste eine (Schrift-)Sprache entwickeln und darin auch die entsprechenden Denkweisen platzieren, die den etablierten bzw. hegemonisierenden kunst- und kulturwissenschaftlichen Diskurs irritieren. Ich möchte eine argumentative Sprache erzeugen, die so sehr mit ihrem „verfehlten Können“ irritiert, bis etwa die Aussage kommt: „So kann man nicht schreiben“ oder „Das ist kein gutes Deutsch“. Ich möchte nicht jene Denk- und Schreibweise innerhalb des akademischen deutschsprechenden Betriebs verfestigen, die sich in philologischen Debatten und Virtuositätswettkämpfen erschöpft (das bezieht sich übrigens auch auf unsere Eingangsdiskussion über das, was das „gute“ Schreiben sei). Ich möchte nicht endlos Absätze mit Zitaten und feuerwerkartigen Referenzen aufeinander bauen – vielmehr möchte ich es nicht mehr so lernen. Ich habe diese Art von Sprechen und Schreiben stets bewundert und oft zum Maßstab gesetzt, eher aus der bewussten Unsicherheit heraus, nicht die sprachlichen Standards bedienen zu können. Es dauerte lange, bis ich die feinen Unterschiede zwischen der eigenen Sprachdisziplinierung und der Konditionierung im Diskurs erkannte. Nun distanziere ich mich vom posenhaften akademischem Intellektualismus und möchte mein Denken in eine Sprache verpacken, die für die Peers (oder manche davon) evtl. „unterkomplex“ oder sogar „etwas komisch“ wirkt. Zugleich geht es mir auch nicht nur um das Wie des Schreibens, sondern auch um das Was und das für Wen und mit Wem. Anders gesagt, ich meine hier die Fortsetzung der Fragestellung, welchen Denkweisen und Denktraditionen wir widersprechen wollen (z.B. der entkörperten wissenschaftlichen Objektivität, der westlichen Wissensproduktion als allgemeingültige Lehre und/oder Wahrheit). Dies steht nun als unvollendete Aufgabe für unseren nächsten Brieftausch.

 

Eine fruchtbare Anregung wäre für mich, den Vorschlag von Jota Mombaca zu verfolgen. Ihr Text „Für einen ontologischen Schlag“ befindet sich im Katalog der 10. Berlin Biennale. Mombaca schreibt über die Erlaubnis stottern zu dürfen (The permission to stutter). Das Stottern im Denken und Schreiben scheint mir eine best practice zu sein. Außerdem macht Jota Mombaca zwei wichtige Kommentare, die mit ihrer eigenen Praxis als cuir-Schwarze*r Kulturarbeiter*in und mit dem Prozess der Entkolonisierung zu tun haben.

Zitat 1: „Der Zugang zu künstlerischen und intellektuellen Kreisen, die sich mit der sogenannten Politik der Diversität befassen, beruht bis zu einem gewissen Grad auf unserem Vermögen, jene Logik zu reproduzieren – und sei das als kritische Position – die uns[10] markiert.“

Zitat 2: „Fürsorge (care) meint hier nicht eine reparierende Funktion. (…) Möglicherweise erfordert die Wandlung, wie die Entkolonisierung, eine Form der Sorge, die zersetzend ist: eine Form der Fürsorge also, die den Verfall der Dinge moderiert, die den Niedergang begleitet, so lange er dauert, die den Riss am Horizont vertieft und die die Welt der Sinne, Formeln, Figuren und Werke der Macht zu Lava auflöst – jene Welt also, die jene Wandlung, genau wie jeden Entkolonisierungsprozess, brennen sehen möchte.“

 

PS vom 19. Oktober 2018

Meine Idee für die Fortsetzung dieses Textes war die Anregung bzw. die Kommentare von Jota Mombaca aufzunehmen. In der Zwischenzeit bin ich von einem unerwarteten Verlust getroffen. Den Tod des LGBTQI-Aktivist und Künstler*s Zak Kostopoulos/Zackie Oh in Athen[11] erlebe ich zusammen mit der Community in Athen als einen heftigen Schlag, der mich/uns in Trauer und Wut versetzt. Zahlreiche Menschen (Augenzeugen) und die Polizei vor Ort konnten/wollten den Lynchmord von Zak nicht verhindern. Sie haben nicht reagiert, sie haben den brutalsten sozialen Rassismus vor ihren Augen zugelassen – wie kann das sein? Unmittelbar nach Zaks Tod zirkulierten Diskussionen in etablierten Medien über das „Recht“ des Ladenbesitzers und seines Helfers (Mit-Täter) auf Selbstjustiz. Also das „Un-Recht“, das aggressive, toxische Männlichkeiten für sich selbst beanspruchen: das Recht, andere Menschen totschlagen zu dürfen, weil sie nicht ihre Gleichen sind. Wie kann das sein? Der Fall ist immer noch nicht geklärt, trotz des Beweismaterials (mehrere Videos vor Ort), trotz der ausführlichen Untersuchung des Ereignisses vonseiten der drei Anwältinnen (von Zaks Familie und Freund_innen), trotz des Aufschreiens der LGBTQI-Community, trotz der solidarischen Demonstrationen, Briefe und Petitionen in Athen, Kreta, Zypern, Berlin, Brüssel und anderswo. Die zuständige Polizeibehörde verhindert die Arbeit der Staatsanwaltschaft, sie versucht seit Wochen bzw. Monaten, den Fall zu vertuschen und betrachtet Zak als potenziellen Täter und nicht als Gewaltopfer. Ich versuche die Energie, den Humor, die Performanz und die Parrhesia von Zak bei mir zu halten. In Wut und in Trauer möchte ich über die Kraft der queer-feministischen Wut und die gesellschaftliche Solidarität schreiben. Das wird mir bald zusammen mit anderen Stimmen gelingen.

 

 

November 2018

 

Liebe Sofia,

 

danke für Deine Überlegungen und Geschichten. Ich bin sehr einverstanden mit dem Vorschlag, dass wir zusammen im Sinn von Haraways Geschichten und Fabulationen zum Überleben weiterarbeiten. Ihr Einspruch gegen das Warten auf die beste aller Theorien bzw. das unendliche Feilen an einer Theorie, die irgendwann die beste und angriffssicherste der Welt werden soll, hat mir sofort eingeleuchtet. Der Vorschlag kommt mir grundvernünftig vor und irgendwie auch schon eine Einsicht der frühen kritischen Theorie, die gerade in der kritischen Theorie verloren gegangen ist. Aber in den 1930er bis in die 1960er Jahre ging es in der kritischen Theorie ja immer auch um die Frage, welche Theorie und welches Wissen jetzt nötig sind. Wie viel da verloren gegangen ist – oder auch: in die verschiedenen Wellen des Feminismus, von Antifa und Antira und ganz generell in die sozialen Bewegungen abgewandert bzw. ausgewandert ist – ist mir zuletzt beim Wiederlesen des Buches Kritik und Migration (2014) von Radostin Kaloianov in Erinnerung gerufen worden. Radostin Kaloianov unterscheidet ziemlich brachial, aber trotzdem erhellend zwischen zwei Formen der Kritik: Exzellenzkritik und Existenzkritik. Der Exzellenzkritik geht es in erster Instanz um akademische Exzellenz – Haraway würde sagen: Es geht um das Basteln an der besten aller Theorien. Kaloianov meint, dass Habermas und seine Schüler*innen Honneth, Forst und Jaeggi sich dieser Tradition verschreiben. Die Existenzkritik, die einst bei Benjamin, Horkheimer, Adorno u.a. im Zentrum stand, denkt im Ausgang und in Auseinandersetzung mit existentiellen Problemen von Ausgegrenzten und Ausgegrenztem. Kaloianov zufolge ist diese Form von Theorie aus der kritischen Theorie in die unterschiedlichsten Studies ausgewandert: in die Cultural Studies, Fem-queer Studies, Postcolonial Studies, Crip Studies etc.

 

Mir ist das Wort „Existenzkritik“ zwar etwas zu pathetisch, weil es mich immer an die Herren Existenzialisten und ihr Freiheitspathos denken lässt. Trotzdem finde ich, dass das Paar Exzellenz-Existenz die Problematik, die Haraway mit gänzlich anderen Begriffen fasst, ganz gut auf den Punkt bringt.

 

Obwohl mir das alles aus der Seele spricht, stehe ich mir (selbst) noch auf den Füssen, wenn es um die Geschichten geht, die es Haraway zufolge zu erzählen oder zu erfinden gilt. Ich will immer ganz besondere oder ganz besonders geeignete Geschichten erzählen, was vermutlich eine weitere Fortsetzung des Exzellenz-Zeugs ist. Ich frage mich also, warum und welche Geschichten sind (in meinem/unsrem Kontext) wichtig. Ich versuche es noch mal anders zu sagen: Ich fahre total ab auf die Geschichten und das Fabulieren, wenn ich davon bei Haraway lese. Ich mag total, Geschichten erzählt zu bekommen, und ich war immer die, die für meine Geschwistern und später für meine Patenkindern Geschichten erfinden musste. Trotzdem stehe ich irgendwie auf der Leitung, wenn es darum geht, mir zu überlegen, welche Geschichten für eine andere Form des Theoriemachens und selbstkritischen Denkens, also Re-Flektierens wichtig wären. Deshalb ist mir unsere Auseinandersetzung darüber so wichtig.

 

Bis jetzt kann ich Folgendes sagen: (1) Es gibt klarerweise die (existenzielle) Notwendigkeit, Dinge, die zu furchtbar oder zu schön sind, um sie alleine auszuhalten oder bei sich zu behalten, mit anderen zu teilen. Meist sind das Gleichgesinnte, also (politische) Freund*innen, Bekannte, Familienmitglieder etc. Aber ich würde derartiges Teilen nicht Theorie nennen, in den meisten Fällen führt es auch nicht zu Textproduktion. (2) Etwas ganz Anderes sind für mich Geschichten, von denen ich denke, dass sie gar nicht, viel zu wenig oder auf die falsche Weise zirkulieren bzw. weitergegeben werden. Solche Geschichten (anders) zirkulieren zu lassen, vielleicht auch anders zu erzählen, als sie gewöhnlich erzählt werden, ist eine ethisch-politische Notwendigkeit, wobei die Geschichten auch Video-Aufnahmen sein können. Etwa, das Video von Zak Kostopoulos‘ Tortur, das Du als Fußnote mitgeschickt hast. (3) Dann gibt es Geschichten, die man erst einmal durch Forschung finden muss, weil sie total verschwunden oder (in bestimmten Teilen der Welt) nie da waren. Das können die Geschichten von Arbeiter*innen, die Rancière in der Nacht der Proletarier versammelt genauso sein wie die, die in den kolonialen (Polizei-)Archiven versteckt sind und die die Subaltern Studies durch Gegenlektüren von kolonialen Akten gefunden und veröffentlicht haben. Auch die Geschichte des Feminismus ist voll davon. Diesbezüglich fände ich es interessant, warum gerade in der 3. Feministischen Welle die tendenziell weißen, akademischen Feminstinnen den PoCs vorgeworfen haben, sie würden nur Geschichten oder Literatur, aber nicht Theorie produzieren. Die Überlegungen von G. Anzaldúa und Chela Sandoval zu diesem Thema scheinen mir superwichtig.

 

Aber ich habe die Vermutung, bei Haraway steht etwas Anderes im Zentrum: Ich glaube, es geht Haraway neben der existentiellen Dimension von Geschichten (die man teilen muss, um sie auszuhalten, oder weil es politisch wichtig ist) auch noch um eine bestimmte Frage der Relevanz und der Komplexität (verwandt mit ihren Überlegungen zur Standpunktgebundenheit von Wissen), und zwar insbesondere in Bezug auf die Gegenwart und die düstere Zukunft. Ich meine, das geht so ungefähr in diese Richtung: Manche Zusammenhänge sind so komplex (gerade auch was den Zusammenhang des ökologischen mit dem politischen Desaster der Gegenwart betrifft), dass der Anspruch, sie ganz, also total zu erfassen, oder darauf zu warten, bis wir die Meta-Theorie für alles hätten, vermessen und auch wissenschaftlich falsch ist. Man kann, so verstehe ich ihr Plädoyer, nur Geschichten sehr komplexer einzelner Momente erzählen. Die sind dann im Idealfall (aber darf man dann noch von Ideal sprechen?) nicht nur richtiger, sondern auch wirksamer als die beste aller totalen Theorien. Solche Geschichten der Komplexität werden, indem Haraway sie zwischen künstlerischen Arbeiten, theoretischen Überlegungen und politischen Plädoyers aufspannt, von ihr ein Stück weit auch allererst gemacht. Das Erzählen ist also zugleich ein Fabulieren. Welche Geschichten das leisten und welche nicht, müssen wir vermutlich auch noch lernen zu unterscheiden und zu artikulieren. Ich frage mich z.B. schon länger, warum ich Eribons Rückkehr nach Reims, was man ja auch als Geschichte der komplexen Verschränkung von Klassen- mit sog. Kulturkämpfen sehen könnte, nicht mag. Ich glaube, es hat mit der überheblichen Rolle des Erzählers zu tun und vor allem mit dem herabwürdigen Umgang mit seiner Mutter. Was ich also sagen will: Geschichten allein sind zu wenig. Es geht um die richtigen, relevanten. Und dass man sie richtig – komplex, nicht auktorial etc. – erzählt. Das würde ich gerne lernen.

 

Über die Frage, welche Theorie(-Geschichten) es jetzt braucht, bin ich ganz unsicher, seit wir diese türkis-blaue, rechts-rechte Regierung in Österreich haben. Ich sehe um mich herum ganz viel Notwendigkeit, auf die Straße zu gehen, bestimmte Initiativen durch Anwesenheit, aber auch Geld zu unterstützen, Soli-Parties und Spendenaktionen zu organisieren etc. Oder anders gesagt: Es gibt ganz viel Notwendigkeit zu handeln, Theorie dazu scheint mir im Moment meist nicht unbedingt nötig. Das einzige, was ich dazu im Moment sehr produktiv finde, sind monatliche Lese-Treffen mit dem „kollektiv“, das aus MAIZ heraus entstanden ist. Wir (das sind: Deutsch-als-Fremdsprache bzw. Zweitsprache-Lehrer*innen, Basisbildner*innen, Studierende, Akademiker*innen) lesen gemeinsam einmal im Monat ein kleines Textchen – bislang meist von Gramsci – und tauschen uns dann darüber aus, welche Bildungsarbeit es heute aus politischen Gründen in Österreich braucht und was im Bildungsbereich alles gerade weggekürzt wird. Konkrete Geschichten von einzelnen Schüler*innen und Lehrer*innen sind dabei entscheidend. Diese „Bildungsarbeit gegen rechts“ – so haben wir unseren Lesekreis neulich genannt – ist für mich ein Punkt, wo Aktivismus, Theorie und Geschichten sich produktiv überkreuzen. Jedenfalls sind diese Treffen für mich derzeit seltene Momente, wo ich das Gefühl habe, was wir machen, passt genau so, wie es passiert. A propos: Kennst Du die wunderbare Rede „Willst Du Samba?“, die Rubia Salgado vom „kollektiv“ bei einer der Donnerstagsdemos in Wien gehalten hat? Du findest sie hier: https://transversal.at/blog/willst-du-samba

 

Jetzt habe ich noch gar nichts zu Deinen Überlegungen zur erhöhten Sichtbarkeit in puncto ausgegrenzter Teile der Gesellschaft gesagt bzw. dazu, wie diese Sichtbarkeit gerade im Kunstfeld auf sehr problematische Weise um sich greift. So ärgerlich ich diesbezüglich die Documenta14 fand, so sehr hat mich die Berlin Biennale unerwartet positiv überrascht. Dabei habe ich nur die Akademie der Künste und das Siemens-Gebäude gesehen. Hier könnten wir auch gerne weiterdenken/schreiben.

 

November 2018

 

Liebe Ruth,

 

deine letzten Gedanken tönen wie Sound-Wellen von unterschiedlichen Seiten. Diese Sound-Wellen hinterlassen ein warmes Murmeln am Ohr und ich weiß gerade nicht, wo ich weiter anknüpfen kann. Ich finde deine Dreiteilung von story telling in Geschichten-Teilen, Geschichten-Weitergeben und Geschichten-Finden sehr einleuchtend. Haraway fügt noch das Erfinden von Teil-Geschichten hinzu, um komplexere „universale“ Geschichten durch erfinderische Methoden zu erzählen – was uns beide fasziniert![12]

Anhand von deiner Anregung bzw. des Kommentars von Kaloianov über Exzellenzkritik und Existenzkritik möchte ich mit Dir weiter denken. Eine gesellschaftliche/politische Kluft scheint es mir zwischen den beiden Kritiken zu geben. Exzellenzkritik ist kein Rätsel, sondern sie resultiert aus der Systematisierung von Wissen und den kognitiven Fähigkeiten zur gesellschaftlichen und philosophischen Meta-Analyse – fair enough. Die Existenzkritik, die ich besser im Plural fände – Existenzenkritik – ist in andere Disziplinen ausgewandert. Das ist zumindest unbefriedigend, weil die Exzellenzkritik das Primat des legitimierten Wissens immer noch für sich beibehält.

Existenz(en)kritik kann nicht ohne die gewaltvollen Zu- und Einschreibungen, durch die diese spezifische Identitäten entstanden sind und weiterhin entstehen, gedacht werden. Identitätskonstruktionen sind nach wie vor präsent und oft fluid – und ja, von den größeren Subjektkategorien (z.B. Frau*, Migrant*in) wird immer etwas fehlen, weil diese Kategorien die Verknüpfungen und Verflechtungen von unterschiedlichen (diskriminierenden oder emanzipierenden) Erfahrungen nicht kompletten erfassen können. Dass die verschiedenen Existenzen mithilfe von Studies (Cultural Studies, Fem-queer Studies, Postcolonial Studies, Crip Studies) analysiert werden, bestätigt zunächst den langwierigen Prozess der „Öffnung“ des akademischen Terrains zugunsten von Gebieten, die sich mit subjektivem Wissen und Erfahrungen am eigenen/fremden Leib auseinandersetzen. Aber es zeigt auch die Ausgrenzung der Existenz(en)kritik seitens der Exzellenzkritik und/oder Exzellenz-Studies. Die Exzellenzkritik, also die Meta-Theorie und die Philosophie, die das Körperliche verallgemeinert, ent-humanisiert oder oft ausblendet, braucht heute dringend die Existenz(en)kritik im eigenen Curriculum. Dieses Infiltrieren passiert m.E. sehr wenig bzw. nur bedingt oder nur durch interdisziplinäre Assemblagen, die wiederum keine Transversale ziehen. Soviel in aller Kürze aus Athen, ich freue mich auf die Fortsetzung der Diskussion.

 

 

Februar 2020

 

Liebe Ruth,

 

ich möchte unseren Faden nach der Schreibpause wieder aufnehmen: Wir haben bisher das situierte Wissen im Sinne von Haraway als grenzüberschreitende wissenschaftliche Praxis angesprochen, weil wir die Vermischung von theoretischer Analyse mit politischer Positionierung als eine wichtige Praxis erachten. Diese Vermischung wird oft als beunruhigende Praktik in akademischen Kreisen wahrgenommen. Allerdings ist Wissensproduktion weder ahistorisch noch kontextlos, sie ist keine passive Weltbetrachtung – sondern sie impliziert eine stets kritische Reflexion der eigenen Sichtweise bzw. des eigenen Standpunktes. Der Standpunkt von Forschenden bietet eine partielle (Wissens-)Perspektive, welche in Bezug auf ihre politische Haltung betrachtet werden kann. Ähnlich, würde ich behaupten, ist die kritische Reflexion beim Filmdrehen, nämlich der Standpunkt der Aufnahme: die Regisseur*in ist zugleich Akteur*in und Agent*in, wenn man sie sich als Filmproduzent*in für eine spezifische Sichtweise von ihrem Sujet entscheidet.

 

Mir scheint, dass das traditionelle Wissenschaftsverständnis im deutschsprachigen Raum – u.a. aufgrund seiner disziplinären Geschlossenheit gegenüber politischen Ansprüchen – die Tendenz hat, die „Situierung“ vom akademischen Schreiben auszuschließen – oder zumindest das situierte Schreiben als weniger akademisch zu verdächtigen. Und gleichzeitig wird situiertes Schreiben oft als Teil von bestimmten akademischen Studies (wie Cultural Studies, Gender Studies, Post-Colonial Studies, Critical Race Studies) in die nice-to-have-Ecke gedrängt. Da die situierte Wissensperspektive im engen Zusammenhang mit herrschaftskritischen Theorietraditionen (wie Queer-Feminismus, Marxismus, Anti-imperialismus) steht, wird diese oft als „ideologisch“ wahrgenommen und sie fällt raus dem Blick der high-end-Theorie bzw. Weltbetrachtung. Die situierte Perspektive findet zum Beispiel wenig Gehör innerhalb der Tradition des deutschen Idealismus oder der philosophischen Ästhetik.

Was wir mithilfe von Haraways Wissenschaftskritik versuchen wollen, ist das situierte Schreiben als Umschulung von akademischem Schreiben stark zu machen. Das tun wir einerseits, um die historischen Objektivitätsansprüche der westlichen Wissenschaft zu dekonstruieren, und andererseits, um eine feministische, post-migrantische Perspektive mehr Raum und Achtung zu geben. Wir brauchen Werkzeuge in unserer Sprache, mit denen wir die diskursiven Fundamente verändern können, um eine intersektional feministische sowie dekoloniale Denk-Schreiben-Praxis zu stärken. Das Einfügen von mehreren Stimmen und Praktiken, die die disziplinären Wissensvermittlungen produktiv stören können, nämlich in den akademischen Alltag (dort wo wir lehren-lernen-agieren) ist ein Anfang aus der Mitte.

 

Wenn ich an meine theoretische Ausbildung in Deutschland und in Österreich denke, bekomme ich ein süßbitteres Gefühl im Mund. Obwohl ich in dem Kontext das Privileg hatte, mich in die Seiten der post-strukturalistischen Theorie zu vertiefen, bleibt immer noch einen Nebengeschmack übrig. Ich habe noch Mühe mit dem Begriff der Wissenschaft (im Singular), der sowohl ein Machtfeld sowie ein bildungsbürgerliches Ideal impliziert. Die Pluralisierung von Wissenschaft bzw. die Rede von Wissenschaften (Studies) im deutschsprachigen Raum öffnet womöglich eine kleine Tür für die mehr-als-eine Perspektive – immerhin ein Versuch, den hegemonialen westlichen Universalismus zu problematisieren. Der große Begriff oder die allgemeine Kategorie „Kunst“ ist auch genügend kritisiert worden, aber ich bleibe vorerst im Feld der Geistwissenschaften um konkreter zu werden: Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Tradition der Kritik und der Aufklärung, die philosophische wie kunst- und kulturwissenschaftliche Studiengänge im deutschsprachigen Raum determiniert, komme ich durch Affirmation und Ablehnung an einen point of no return: gemeint ist nämlich die Skepsis gegenüber der (vornehmlich deutschen und französischen) Konzipierung der Vernunft und der epistemischen Wahrheit, die den Ton im sogenannten westlichen kritischen Theoriefeld geben.

 

Zugegeben, die Traditionslinie der Kritischen Theorie hat auf der einen Seite durch Selbst-Aufklärung und Gesellschaftsanalyse zur Ermächtigung der Unterworfenen beitragen. Auf der anderen Seite sind es diese kritische Traditionslinien, die nach wie vor die eurozentrische Perspektive der exzessiven Selbstkritik in den Mittelpunkt setzen oder diese ins Absurdum führt, z. B. durch die ständige Legitimation der Selbst-Kritikalität, die bestimmte Formen der (dezentralen[13]) Kritik ausblendet. Ich denke gerade an die konkreten Beispiele aus deinem Buch Vom Leben der Kritik bzw. an die theoretischen Modelle der post- und antikolonialer Kritik, die im Diskurs der deutschen und französischen Kritischen Theorie vernachlässigt wurde. Besonders aufschlussreich und inspirativ fand ich Chela Sandovals kritische Methodologie bzw. die fünf vorgeschlagenen Kritik-Techniken der Unterdrückten, die den feministischen Standpunkt des Voneinander-abhängig-Seins und das Aufeinander-bezogen-Sein einnehmen, um gegenwärtige Formen der Selbst-Kritik, Emanzipation und Resignifizierung von Standpunkt der Unterdrückten (oder Unterworfenen) zu fördern.[14]

 

Wie relevant könnte Sandovals Position innerhalb des westlichen, deutschsprachigen Diskurses sein – insbesondere für die Verknüpfung des universitären, privilegierten Wissens mit nicht institutionellen Praktiken der Wissensproduktion (z. B. durch queer-feministischen Aktivismus und migrants community based practices)? Sandovals Vorschläge zunächst im universitären Rahmen einsetzen zu können, würde verlangen, nicht nur den europäischen geisteswissenschaftlichen Kanon zu torpedieren bzw. neue zu konzipieren, sondern auch die Zusammenstellung der Studierenden sowie die Besetzung der Fakultäten zu verändern. Aus eigenen Erfahrungen in der deutschsprachigen Academia und durch unzählige Studien wissen wir bereits, dass universitäre Milieus (inkl. Hochschulen und Kunstakademien) par excellence Orte sind, die gesellschaftliche Ausschlüsse reproduzieren und verfestigen. Die langjährige Problematisierung[15] von Inklusionen und Exklusionen in deutschsprachigen Universitäten und Kunsthochschulenweist auf die Kluft zwischen euphorischen „Deklarationen“ und der „Non-Performativität“ von Diversität hin. Die institutionellen Gefäße (Diversität-Büros, Gleichstellungsbeauftragten usw.), die bereits auf Hochschulebene existieren, können systemische Diskriminierungen nicht allein verhindern – oft sind sie sogar das Feigenblatt einer offenen, demokratischen Universität, deren internen Strukturen sich sehr langsam verändert, wenn sie nicht gerade blind in Bezug auf ihren eigenen Standpunkt ist.

Die Universität lässt sich in manchen Fällen jedoch öffnen bzw. demokratisieren: Eine umgängliche Praxis ist, das Curriculum mit post-kolonialer Theorie, antirassistischer und queer-feministischer Kritik zu impfen bzw. Nischen in Studiengängen zu schaffen, um post- und antikolonialen Kritik auf der diskursiven Ebene zu etablieren. Eine ergänzende Praktik hierzu ist, die Einladungspolitik in Universitäten und Kunsthochschulen zu erweitern: in der Regel werden internationale Gäste aus dem Globalen Süden oder aus der europäischen Peripherie punktuell (d.h. temporär und prekär) eingeladen, um fehlendes Wissen und die Performanz der Diversität reinzuholen. Nur wenige Akteur*innen durchqueren die gläserne Decke der deutschsprachigen Geistwissenschaften. Die Frage bleibt bestehen: Wie sollte man gegenwärtige Konzepte der post- und antikolonialen Kritik innerhalb von Universitäten und Kunsthochschulen stärken, wenn die Mehrheit der Lehrenden/der Lernenden nicht mal repräsentativ für die Problematisierung von Diversität ist?[16]

Ich zweifele nicht an den Konzepten der kritischen Pädagogik, des intersektionalen Feminismus, der herrschaftskritischen Kunstpraxis und der situierten Wissensproduktion. Ich bin froh, dass es immer mehr Bücher, Diskussionen, Ausstellungen und Arbeitsgruppen darüber gibt. Aber ich bin gleichzeitig skeptisch, ob es innerhalb der Fakultäten und Institutionen genug Spiel- und Handlungsräume gibt, um Diversität nicht als Feigenblatt, sondern als Umwälzung von epistemischen und strukturellen Hierarchien einzusetzen.

 

 

 

Juni 2020

 

Liebe Sofia,

 

ich teile Deine Skepsis total, dass Diversität kaum mehr als ein Feigenblatt ist. Die entsprechenden Mechanismen hat Sara Ahmed in On Being Included[17]ja schon vor längerer Zeit präzise analysiert und ich sehe keine Anzeichen, dass sich daran in den letzten Jahren etwas geändert hat; vielmehr hat sich die Feigenblatt-Logik ausgeweitet, verfeinert und perfidisiert. Man kann dieses scheinbare Gutwort ja auch wunderbar dazu benutzen, gut zahlende Studierende und hoch angesehene Sprachen an die eigene Institution zu holen; oder auch dazu, um als reiche Uni Dependencen in ärmeren Ländern hinzuklotzen, um gut situierten Studierenden und Dozierenden Exotik im Ausland zu bieten.

 

Das alles zeigt nur umso deutlicher, dass Diversität nur dann ein brauchbares tool ist, wenn man es als die intersektional ausgerichtete Forderung versteht, gegen Ausgrenzungen und Diskriminierungen jeder Art vorzugehen. Ansonsten liegt nichts mehr auf der Hand als der Trick, die eine gegen die andere Diskriminierung auszuspielen und stolz auf jene Dimension hinzuweisen, in der eine Institution ohnehin relativ gut funktioniert. Meine eigene Uni etwa ist relativ gut in dem, was bis heute „Frauenanteil“ genannt wird, aber wenn man klassistische, rassistische oder migrationsfeindliche Ungleichbehandlungen in den Fokus nimmt, sieht die Diversitätsbilanz katastrophal aus. Deshalb finde ich es wichtig, Begriffe wie Ungleichheit, (Bildungs-)Ungerechtigkeit oder Diskriminierung wieder zurück in die Diskussion zu holen, und zwar in den unterschiedlichsten Hinsichten, die über race, class und gender hinaus gehen müssen. Mit „Diversität“ sollte man sich wohl nur dann beschäftigen, wenn es um die Analyse der institutionellen Mechanismen geht, die sich auf dieses Konzept berufen; also in kritischer Hinsicht.

 

Ich teile auch Deine Vermutung, dass ohne inklusivere Personalpolitik die besten Curricula Gefahr laufen harmlos zu bleiben oder eben auch zu Feigenblättern zu werden. Auf der anderen Seite wird einem mit Blick auf z.B. die momentane ungarische Situation, wo es seit ein paar Jahren keine Gender Studies mehr geben darf, schlagartig klar, dass Lehrinhalte und Curricula nicht per se harmlos sind. Ansonsten gäbe es derzeit nicht so viel Hass auf den sogenannten „Genderismus“, der ja die angeblich zu große Bedeutung gender-queerer Curricula und die vermeintliche Verschwendung von Steuergeldern im Bereich der Gender Studies immer mit-meint. Dieser Hass ist in meinen Augen nicht nur Hinweis auf eine erstarkende Rechte, sondern auch ein Beleg, dass die Gender Studies samt der (Personal-)Politik in diese Richtung Erfolg hatten; dass man sich angesichts dieses Erfolgs vor dem Verlust von Selbstverständlichkeiten und Privilegien fürchten muss, wenn man eine bestimmte und leider nicht so selten anzutreffende Agenda von Männlichkeit hat. Die aufgrund ihres Schneckentempos kaum wahrnehmbaren institutionellen Errungenschaften fallen einem leider meist erst dann am deutlichsten auf, wenn sie plötzlich zur Disposition stehen oder rückgängig gemacht werden. Derartige Prozesse kann man derzeit ja nicht nur in (Ost-)Europa, sondern noch krasser in den USA und vielen Staaten Lateinamerikas sehen. Aber es sollte die Protagonist*innen dieser Veränderungen auch stolz machen auf das, was sie erreicht haben.

 

Im Moment zeigt sich auch drastisch, wie wichtig die rechtliche Verankerung noch so bescheidenere Gleichbehandlungsziele oder von Affirmative Action Vorgaben an Bildungsinstitutionen ist. (In diesem Zusammenhang verfolge ich auch mit Spannung die Anstrengungen österreichischer Arbeitskreise für Gleichbehandlungsfragen, sich Kompetenzen über die Geschlechterdiskriminierung hinaus anzueignen und auch für die rechtliche Verankerung dieser erweiterten Kompetenz zu kämpfen. Das dauert sicher alles noch endlos, aber es geht in die richtige Richtung.) Und was rechtlich verankert ist, kann auch unter konservativen Regierungen nicht ganz so schnell vernichtet werden, während der Rest von diskursiven Moden und Hypes abhängig bleibt. Es ist z.B. schon irre zu sehen, wie im Zusammenhang der massiven Eribon-Rezeption im deutschsprachigen Bereich plötzlich die Kategorie der Klasse zumindest im bürgerlichen Feuilleton (wieder) entdeckt und gefeiert wurde, so als ob das bislang ein unbekannter Planet gewesen wäre. Aber jetzt, zwei Jahre später, redet in den Feuilletons schon wieder niemand mehr über Klasse. Dabei ist der gerade in Österreich und Deutschland massive Klassismus von Bildungsinstitutionen so gut erforscht wie kaum etwas anderes und trotzdem ändert sich rein gar nichts: vom Kindergarten und der Grundschule, wie gerade die Corona Krise wieder gezeigt hat, bis hin zu den Unis, wo Ungleichbehandlung aus race- und class-Gründen kaum je Thema werden. Was massiv fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit den Mechanismen von dem, was afro-amerikanische Wissenschaflter*innen im Anschluss an Cederic Robinson racial capitalism genannt haben:[18] also mit dem Zusammenhang zwischen rassialisierender, klassistischer und extraktvistischer Ausgrenzung, die vom Kapitalismus als Lebens- und Gesellschaftsform – und also nicht lediglich als Wirtschaftsweise! – zusammengehalten werden. An der traurigen Spitze stehen dabei die Kunstunis, an denen, wie zumindest für Österreich und der Schweiz zumindest in Ansätzen erforscht ist, die Ungleichheit noch beträchtlich größer als an anderen Unis. Offenbar ist hier die unhinterfragte Berufung auf Kategorien wie Talent, Genie und die vermeintliche Qualität am massivsten.[19] Und das heißt in den meisten Fällen ja nichts anderes, als dass die eigenen (Vor-)Urteile als universalistischer Kanon verkauft werden.

 

Es gibt immer wieder Tage, wo ich denke, dass man bei diesem Verein einfach nicht mehr mitmachen darf, weil er politisch eine Katastrophe ist und zudem gegen all das, was seit Jahrzehnten (sozial)wissenschaftlich gut belegt wurde, strukturiert ist und handelt. Diesem Hadern mit meinem Beruf steht nicht nur die Lust am Unterrichten entgegen, sondern auch die Tatsache, dass wir im kreativ-kognitiven Kapitalismus leben, in dem Bildungsabschlüsse ein zentrales Nadelöhr zur gesellschaftlichen Teilhabe sind. Das hat mich bislang immer wieder dazu bewegt zu versuchen, über meine Arbeit an einer Bildungsinstitution in Richtung Ausweitung der Teilhabenden zu arbeiten und also in der Institution zu bleiben. Aber das funktioniert nur, wenn man mit mindestens einem Bein draußen bleibt und von außeruniversitären Erfahrungen z.B. des guten Schreibens und gemeinsamen Denkens zehren kann.

 

 

 

 

[1]Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 64.

[2]Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus, „Zur Person“, 28.10.1964, https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw

[3] “The power of bilingualism: Interview with Barbara Cassin, French philosopher and philologist”, https://conversations.e-flux.com/t/the-power-of-bilingualism-interview-with-barbara-cassin-french-philosopher-and-philologist/6252

[4] Vgl. Donna Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/London: Duke University Press Books 2016, S.30

[5] Michelle Murphy, Seizing the means of reproduction: entanglements of feminism, health, and technoscience, Durham: Duke University Press 2012.

[6] Lorraine O’ Grady, „Olympia’s Maid: Reclaiming Black Female Subjectivity*“, Opening section published as illustrated essay in: Afterimage, Vol. 20/Nr. 1, 1992.

[7] Vgl. Meeting Lorraine O’Grady | A Film by Zawe Ashton. Trailer unter: https://www.youtube.com/watch?v=60U8FXYS69A

[8]Lorraine O’Grady im Panel: “Carnal Knowing: Sexuality and Subjectivity in Representing Women’s Bodies”, College Art Association, 80th Annual Conference, Chicago, February 15, 1992.

[9] Seit einigen Jahren haben wir es mit einer Krise der Identitätspolitik(en) auf makro-politischer Ebene zu tun. Einerseits, weil der Konflikt zwischen kultureller, sozialer, gender-Differenz und Universalismus immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Andererseits weil sich die Neuen Rechten auf eine nicht-egalitäre, diskriminierende Identitätspolitik berufen, die kulturessentialistisch ist.

[10]„uns“ bezieht sich auf cuir-Schwarze* Kulturarbeiter*innen.

[11] “Wie ein Gebet: International Zum Gedenken an den in Athen ermordeten Zak Kostopoulos”, 16.10.2018: https://www.akweb.de/ak_s/ak642/28.htm?fbclid=IwAR3jUs_y3xBnLqbx5roSTHawRCP92rhmAKFCDcm_MTSnYfuJ0aW81m6qSZk; “Tod in Handschellen” von Christiane Schlötzer, Athen 9.10.2018: https://www.sueddeutsche.de/panorama/athen-tod-in-handschellen-1.4162979; „Distortions and cover-ups in the Zak Kostopoulos case“, 29.9.2018: https://www.thepressproject.gr/details_en.php?aid=134723#.W6_ZecAp2iA.facebook;

Kollektiver Text: “Für Zak: Die Verantwortung unserer Trauer”, 09 2018: https://transversal.at/blog/fur-zak-die-verantwortung-unserer-trauer

 

[12]2019 hat sich unser Austausch auf ein Buchprojekt mit drei anderen Menschen verlagert. In diesem Rahmen haben wir mit einer Freundin auch einen ersten Versuch einer science fiction im Bereich der Ästhetik unternommen. Sofia Bempeza, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger, „Es war einmal eine Ästhetik (die hatte sich selbst sehr lieb)“, in: Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Katharina Hausladen, Ines Kleesattel und Ruth Sonderegger, Polyphone Ästhetik. Eine kritische Situierung, Wien: transversal texts 2029, S. 149-162.

[13] In der westlichen Historiographie wird Europa (und Nordamerika) als globales Wissenszentrum wahrgenommen. Die Rede von Zentrum und Peripherie impliziert quasi den Blick aus dem Alten-Europa auf die Peripherie (Ost-Europa, Balkan, Nah- und Fernost, Globalen Süden usw.). Mit dezentraler Kritik meine ich jene theoretischen Stimmen/Positionen, die nicht im westlichen Theoriekanon zugehören.

[14] Ruth Sonderegger, Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken – und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung, Wien: Zaglossus 2019.

[15] Philippe Saner, Sophie Vögele und Pauline Vessely; unter Mitarbeit von Tina Bopp, Dora Borer, Maëlle Cornut, Serena Dankwa, Carmen Mörsch, Catrin Seefranz und Emma Wolukau-Wanambwa, Schlussbericht Art.School.Differences. Researching Inequalities and Normativities in the Field of Higher Art Education, Zürich: Institute for Art Education, November 2016. Online über den Projekt-Blog zugänglich: https://blog.zhdk.ch/artschooldifferences/schlussbericht/; Blog des Projekts: https://blog.zhdk.ch/artschooldifferences/. Nikita Dhawan, “’What Difference Does Difference make?’: Diversity, Intersectionality and Transnational Feminist Politics”, in: Nikita Dhawan (Hg.), Difference that makes no Difference. The Non-Performativity of Intersectionality and Diversity. Special Issue. Wagadu. A Journal of Transnational Women’s and Gender Studies (mit M. Castro Varela), Vol. 16: 11-39, 2017.

[16] Mahmoud Arghavan, Nicole Hirschfelder,Luvena Kopp, Katharina Motyl (Hg.),Who Can Speak and Who Is Heard/Hurt?Facing Problems of Race, Racism, and Ethnic Diversity in the Humanities in Germany, Bielefeld: Transcript 2019.

[17] Sara Ahmed, On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life, Durham and London: Duke Univ. Press 2012.

[18] Cederic Robinson Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, 1983 (Neuauflage 2000); eine kompakte Zusammenfassung zur Geschichte und Aktualität des racial capitalism findet sich in einem Vortrag von Robin Kelley (auf youtube): „What is Racial Capitalism and Why Does it Matter?“: https://www.youtube.com/watch?v=–gim7W_jQQ

[19] Vgl. z.B. Barbara Rothmüller und Ruth Sonderegger: „Über die Grenzen der Kunst“, in: Migrazine 1, 2014: http://www.migrazine.at/artikel/ber-die-grenzen-der-kunst

 


Sofia Bempeza ist Künstlerin und Kunstwissenschaftlerin sowie Ko-Gründerin/Kuratorin des queer-feministischen Festivals Aphrodite* in Athen. Sie unterrichtet an der Leuphana Universität Lüneburg. Aktuelle Buchpublikationen: Geschichte(n) des Kunststreiks, Wien 2019; Polyphone Ästhetik (Co_Autor*innen Christoph Brunner, Katharina Hausladen, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger), Wien 2019.

Ruth Sonderegger ist Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Ihre Forschungsfelder sind: Geschichte der Ästhetik (im Kontext des kolonialen Kapitalismus), Praxistheorien, Cultural Studies, kritische Theorien und Widerstandsforschung. Letzte Buchpublikationen: Foucaults Gegenwart. Sexualität – Sorge – Revolution (Co-Autorinnen: Gundula Ludwig and Isabell Lorey), Wien 2016; ungar. 2020; Polyphone Ästhetik (Ko_Autor*innen Christoph Brunner, Sofia Bempeza, Katharina Hausladen und Ines Kleesattel), 2019; Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken – und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung, Wien 2019.




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