„Das Leben des Eros entzündet sich an der Ferne“ (Walter Benjamin, Nähe und Ferne, GS Bd.6, 83)
I
Es gibt kaum ein gesellschaftliches Problem, bei dem heute keine Korrelation zu mangelnder Bildung hergestellt wird. Bildung als wichtigste Ressource und die Forderung nach mehr Bildung gehören zu jenen Allgemeinplätzen öffentlicher Diskurse, die keiner näheren Begründung bedürfen. Die Einsetzung von Bildung und Ausbildung als Allheilmittel gegen gesellschaftlichen Ausschluss aber individualisiert und ersetzt politische Debatten um Ausgleich und Umverteilung. Die sozio-politische Fixierung auf Bildung verstärkt nebst den Bemühungen um mehr Chancengerechtigkeit für alle auch die Angst des Mittelstandes vor sozialem Abstieg und daher den Druck auf die Kinder und deren Lehrkräfte. Die Folgen der aktuellen Bildungskonjunktur sind daher zumindest ambivalent. Wenn Bildung zum Gut wird, von dem man sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass man es, selbst wo es mit Nachdruck und Nachhilfe angeboten wird, nicht haben will oder kann, dann ist das Exklusionsrisiko von sogenannten bildungsfernen Schichten und von Bildungsverweigerern nicht kleiner als früher. Der pathetisch aufgeladene Bildungsbegriff droht vielmehr als zusätzliche Exklusionskeule auf die Bildungsfernen nieder zu sausen.
Das Adjektiv bildungsfern ist, wie Roland Reichenbach im titelgebenden Essay schreibt, eine «rhetorische Diskursvokabel», die das als diskriminierend empfundene Wort «ungebildet» ersetzen soll. Als Raummetapher suggeriert es eine neutrale Abstufung von Nähe und Ferne zur Bildung, kann sich aber damit ihrer impliziten Moral doch nicht ganz entledigen. Denn, so Reichenbach, «die Frage, wo wir uns im Raum der Werte und Wertungen befinden, ist im Unterschied zur Frage nach der räumlichen Orientierung, nicht neutral. Wir können uns ihr gegenüber nicht gleichgültig verhalten (…). Vielmehr ist das, was wir wollen, eine Nähe zu dem, was wir als gut, richtig und wichtig empfinden.» (Das sogenannte träge Wissen) Die Absicht, Diskriminierung mit einem neutralisierenden Begriff zu entschärfen, misslingt daher nicht, weil die Veränderung der Sprache prinzipiell nichts bewirken könnte – wie es die Grundsatzkritik an der Political Correctness gerne hätte – sondern weil gleichzeitig der Bildungsbegriff als «Das Gute» schlechthin eine absolute Wertsteigerung erfährt und dadurch ungewollt gesellschaftliche Schliessungsprozesse einleitet – über teure Zertifizierungsverfahren, über erweiterte Weiterbildungs- und Kontrollstandards, über private Zusatzanbieter, deren Abschlüsse einen immer höheren Stellenwert bekommen
, usw.
In diesem Zusammenhang erweist sich die enge Bindung des Gerechtigkeitsbegriffs an den Begriff der Chancen, wie sie etwa in den Bildungs- und Genderdiskursen über die Chancengleichheit geknüpft wurde, als problematisch. Wenn Gerechtigkeit sich nicht mehr an realen Gütern misst, sondern nur an Chancen und Potenzialen, bleibt für die, die ihre Chance nicht nutzen konnten, nichts übrig. Sind sie doch nicht einmal mehr Opfer einer ungerechten Welt, sondern einfach nur Verlierer. Besonders schlimm ist es für jene, denen nachgewiesen oder unterstellt werden kann, dass sie eine Chance durch Eigenverschulden nicht genutzt haben. Sie tragen die ganze Schuld einer sich frei von aller Moral wähnenden Leistungsgesellschaft. Ganz abgesehen davon, dass die Möglichkeiten der Schule, gesellschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen, doch eher gering sind.
Aber die Menschen sind auch meist kompliziertere Wesen, als es die Bildungskonzepte und Förderpläne vorsehen. So wie dem Ausschluss durch andere ein Wille zur Selbstinklusion entgegenstehen kann, so kann umgekehrt auch der institutionalisierte Versuch der Fremdinklusion mit dem Bestreben nach Selbstausschluss kontrastieren. Oder es kann auf Fremdexklusion mit Selbstexklusion geantwortet werden. Und wenn es auch richtig ist, einen grundsätzlichen Inklusionswunsch bei den meisten Menschen zu unterstellen, wäre es doch verfehlt, in den Praktiken der Selbstexklusion nur Zwang und Leid zu vermuten. Vor allem wenn man die gängigen, viele überfordernden Inklusionsangebote oder die manchmal eher drohenden, denn ermutigenden Aufrufe zum «Lebenslangen Lernen» kritisch dagegenhält.
Der «Spass am Widerstand» – um einen soziologischen Klassiker von Paul Willis aus den 70er-Jahren zu zitieren – scheint unter diesen Bedingungen einen schweren Stand zu haben. Die Bildungsverweigerer der Working Class von Birmingham zeichnete in Willis berühmter Studie noch ein starkes positives Klassenbewusstsein aus. In den vielen autobiographischen Emanzipationserzählungen der letzten Jahrzehnte, in denen die Befreiung aus den beengten Verhältnissen durch Bildung beschrieben wird, unterliegt dieses Klassenbewusstsein aber einem fundamentalen Wandel. Die bildungsferne Herkunft wird darin nur retrospektiv aus der Distanz einer erfolgreich durchlaufenen Bildungslaufbahn positiv besetzt, gleichsam als Kainsmal, das die alte Scham nur unter dem Vorzeichen der empfangenen Gnade zeigen will.
Und das bedeutet einerseits, dass Bildung etwas Grossartiges ist. – Beispielsweise berichtet James Baldwin im Buch «Von dieser Welt» von einer furchterregenden Schulleiterin, die ihn als ganz kleinen Knirps wegen ein paar korrekt an die Tafel gemalter Buchstaben als klugen Jungen bezeichnet hatte, worauf er eine grosse innere Kraft verspürt habe und die Gewissheit, in der Schule am richtigen Platz zu sein. – Aber andererseits heisst das ja auch, dass diejenigen, die von ihren Erfahrungen aus der bildungsfernen Vergangenheit erzählen, jetzt eben bildungsnah sind. Nur wer die Bildungsferne überwunden hat, schreibt, erzählt, veröffentlicht und wird überhaupt je nach seinem Leben gefragt. Und die anderen, bei denen es umgekehrt war, die durch die Schule gedemütigt wurden oder denen die Schule weder positiv noch negativ etwas gebracht hat und zwar nicht nur wegen klassischer, rassischer oder geschlechtlicher Diskriminierung, sondern einfach weil sie es trotz Bemühung nicht besser konnten oder nicht wollten, kommen im Diskurs viel weniger vor oder, wenn man ihn auf die Erfolge der Chancengleichheitsbemühungen einschränkt, eigentlich gar nicht.
An dieser Schnittstelle zwischen Idee und Ideologie, Fabel und Empirie, Metapher und Arbeit am Begriff ist das Titelwort dieser Essaysammlung situiert. Ist doch Bildungsferne ein Begriff, der die Widersprüche, von denen er handelt, nicht vermitteln kann, sie vielmehr unterschlägt: «Aber welches Bildungsverständnis muss im Bildungsforscherkopf vorherrschen, damit er davon ausgehen kann, ganze Bevölkerungsgruppen könnten der Bildung fernliegen? Und wie bildungsnah ist sich dieser Kopf eigentlich selber?» (Über Bildungsferne) Oder: «Die Kindheit und vor allem die Jugendzeit der Bildungsfernen sind vergleichsweise kurz. Wer also früh im Leben und ungefragt Verantwortung für sich und andere übernehmen muss, gilt in der Taxonomie der empirischen Bildungsforschung höchstwahrscheinlich als bildungsfern. Wer hingegen mit 25 oder 30 Jahren noch nicht so recht weiss, was er mit seinem Leben anfangen will, ist wahrscheinlich bildungsnah». (Über Bildungsferne)
Nur dort, wo das institutionalisierte Bemühen um umfassende Bildungsnähe bewusst Lücken für Eigensinn und Sonderwege offen hält und Heterogenität pflegt, kann es dem eigenen Widerspruch zwischen seinem emanzipatorischen Bildungsbegriff und der Legitimation der herrschenden Verhältnisse reflektierend gegenüber treten. Selbstverständlich gilt: In Tuchfühlung mit der Mehrheit zu leben, ist für die meisten besser als ihr fern zu sein und Bildung schafft heute mehr denn je die Voraussetzungen für dieses Dazugehören oder wenigstens für die Entscheidung dagegen. Was aber bei der gegenwärtigen Aufladung der Bildungsangebote und Bildungsverpflichtungen als exklusiver Inklusionsmotor unbegriffen bleibt, ist das Recht auf Zugehörigkeit, das auch die freiwillig oder unfreiwillig nicht am «Lebenslangen Lernen» teilnehmenden Menschen haben. (vgl. Nichts aus sich machen)
II
Die Moralisierung der Raummetaphern Nähe und Distanz bzw. der negative Beigeschmack der Distanz kommt in den Erziehungswissenschaften auch vom guten Ruf des Authentischen, auf dessen Problematik Reichenbach, ausgehend von Richard Sennetts frühem Klassiker über «die Tyrannei der Intimität», immer wieder aufmerksam gemacht hat – pointiert in Verbindung mit der Frage des pädagogischen Kitschs: «Während das Ideal personaler Autonomie im 20. Jahrhundert gründlich dekonstruiert und auch destruiert worden ist, erfährt das regulative Ideal der Authentizität bis heute eine breite gesellschaftliche Schonung. Die Vermitteltheit unserer Selbst- und Weltbeziehungen bleibt ein auch erziehungs- und bildungstheoretisch wenig beachteter Stachel im Diskursgewebe, wiewohl er in der philosophischen Anthropologie schon lange reflektiert worden ist.» (Reformation und Kitsch).
Bei der Geringschätzung rhetorischer, repräsentativer oder mimetischer Praktiken in der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft liegt der Gedanke nahe, dass dahinter noch immer das romantische Problem des unwiederbringlichen Austritts der menschlichen Gattung aus der Einheit mit der Natur bzw. der Unmöglichkeit eines direkten Zugangs zu ihr liegt. Und mit ihm auch die Scham, dass Schule etwas Künstliches sei, eben doch nicht das wirkliche Leben und es noch viel weniger sein kann, je stärker eine Lehrperson als zentrale Vermittlungsinstanz der rein schulischen Abstrakta auftritt. Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass der Lehrperson in den letzten Jahrzehnten in der Forschung fast fahrlässig wenig Beachtung geschenkt worden ist.
Der Glaube an den direkten Draht, an die Unmittelbarkeit im Zugang zur Welt, fällt zurück hinter die Aufklärung des Individuums über seine Abhängigkeit von Dingen und Realitäten, die es weder selber hervorbringen noch kontrollieren kann. Weder der erfahrungsbezogene Unterricht, noch das selbstorganisierte Lernen überlisten die Tatsache, dass wir das Meiste, was zum Begreifen der Welt notwendig ist, von anderen lernen müssen, die es auch wieder von anderen gelernt haben. Reichenbach kontrastiert diese negative Sicht des fernen und passiven Zuhörers bzw. Zuschauers zum einen mit der wichtigen Figur des politisch Apathischen bzw. gebildeten Zuschauers (Kult der Inkompetenz) und zum anderen mit dem Insistieren auf Theoriearbeit als Praxis des Zurücktretens, Schauens, Überblickens, als notwendige Bedingung kritischer Reflexion des eigenen Tuns. (Lehrtätigkeit als Inszenierungspraxis)
Das Problem der uneingestandenen, nur durch Vermittlungsleistungen überbrückbaren Ferne zu den Dingen wird letztlich manifest im Zwang zur Identifikation – zu beobachten überall da, wo Distanzierungspraktiken wie das Zweifeln und Relativieren, das Vermuten und Spekulieren, die Ironie oder der Spott fehlen oder undenkbar geworden sind. Wie sehr es sich hier um einen Kern von Reichenbachs Denken handelt, sei mit zwei Beispielen angedeutet: «In solchen Zeiten hat es der Kitsch nicht immer leicht, sich im Denken, Darstellen und Empfinden durchzusetzen. Das ist einerseits ein Glück, denn dort wo er nicht selber ironisch betrieben wird, d.h. ohne Selbstdistanzierung, bleibt er ein Übel, manchmal nur ein kleines Übel, manchmal ein kaum zu überschätzendes. Andererseits ist das völlige Fehlen von Kitsch auch problematisch, denn wo nichts mehr ernsthaft betrieben und verteidigt wird, d.h. aufrichtig gemeint wird, fehlt dem Leben eine Tiefendimension und es erscheint dann umso seichter und vielleicht gänzlich sinnlos.» (Reformation und Kitsch) oder: «Das Nachdenken über und Eindenken in Fremdes, Vorgedachtes oder Angelesenes wird zugunsten des Ausdrucks des Eigenen vernachlässigt. Letzteres ist aber eigentlich anti-diskursiv und verunmöglicht eine kritische Distanz zu dem, was man macht, weil ich nicht einfach eine erworbene Sache vortrage oder darstelle, sondern mich selber, was schlicht grauenvoll ist, wenn man länger darüber nachdenkt. Im Gegensatz dazu ist und bleibt Lesen eine wichtige Distanzierungs- und im erweiterten Sinn Diskurspraxis.» (Über das Lesen und Sprache).
In Anbetracht dessen könnte ein wichtiges Merkmal von Bildung so etwas wie die Kultivierung von Fremdheit sein und hätte, worauf Reichenbach mit Hans Blumenberg immer wieder hinweist, weniger mit einem «Arsenal» von Kompetenzen, aber viel mit «Horizont», das heisst mit einem Gespür für die Ferne zu tun. Dieses Gespür kann beispielsweise Einsicht in die Notwendigkeit von Vermittlungen, Eingeständnis der eigenen Unbildung, Wertschätzung des Abwesenden oder Anerkennung der bleibenden Bedeutung metaphysischer Fragen hervorbringen: «Der transzendentalphilosophischen Tradition ist eine Metaphysikkritik zu verdanken, welche metaphysische Fragen gerade nicht als „schlicht unbeantwortbar“ verwirft, sondern zumindest einräumt, dass sich metaphysische Fragen immer wieder aufdrängen, wenn auch nicht abschließend beantworten lassen, es aber einen großen Unterschied macht, ob sie erkannt und ernstgenommen werden oder nicht.» (Über den «Herz-Geist») Ein Merkmal von Bildungsnähe wäre insofern das Interesse an allem, was noch aus der Ferne leuchtet, was einem zugänglich bleibt, bzw., um es mit Kant zu sagen, was einen «belästigt», auch wenn es bereits abgetan, verloren oder entzogen scheint. Denn paradoxerweise ist es das Präsent-Halten der metaphysischen Fragen, das die heimliche Grundlage bildet für einen realistischen Zugang zur physischen Wirklichkeit. Denn nur wer die Metaphysik nicht für erledigt hält, weiss auch, dass es ihre Kritik nicht ist und bleibt sensibel für alle Arten von unreflektierten und unhintergehbaren Setzungen, an denen es gerade in den Erziehungswissenschaften unserer Tage nicht mangelt. Vielleicht weisen die Texte von Reichenbach deshalb eine solche Fülle an Paradoxa, Ambivalenzen und Spannungsbegriffen auf und folgt er meist dem, nebenbei sehr unterhaltsamen Grundsatz, nie eine Relativierung auszusprechen, ohne sie vorher selber durch Übertreibung notwendig gemacht zu haben. Und als gälte es damit den Zusammenhalt der Welt zu sichern, wird das Eine nur gesagt, wenn ans Andere wenigstens gedacht ist.
Bei aller Kritik und allem Spott, womit Reichenbach die geistigen Engpässe seiner Zunft überzieht, behandelt er selbst noch das Dogma mit dem Respekt dessen, der darin den Versuch einer Lösung des Unlösbaren erkennt. Und wo er zum Zynismus greift, geschieht das nie, um sich schadlos zu halten, sondern nur in jenem ursprünglichen Sinn des Rückzugs auf das existentielle Minimum angesichts der Versperrung aller anderen Wege. Denn was man ganz abstösst, wird nicht mehr begriffen und erfasst. Insofern ist der Begriff der Bildungsferne ein typischer Reichenbachscher Spannungsbegriff, weil man sich, von dem, wovon man sich befreien will, nicht zu weit entfernen sollte. Die Bindung an die Ferne ermöglicht die Freiheit gegenüber dem Nahen. Erst indem es sich der unmittelbaren Macht des Nahen entzieht, kann ein Subjekt darüber raisonnieren. Den Grad der notwendigen und noch zulässigen Distanz zum Gegenstand bestimmt es selber kraft seines Horizonts, der über das Hier und Jetzt hinausdrängt.
III
Die hier versammelten Essays und Gespräche von Roland Reichenbach sind allesamt Versuche und Erkundungen über die Möglichkeit einer Erziehungswissenschaft, die ihrem Gegenstand, der Menschenbildung im emphatischen-humboldtschen Sinn, die Treue halten kann. Folgt man der sprachlichen Struktur und der inhaltlichen Richtung dieser Texte, so findet sich darin immer die Arbeit an der mehrstufigen Aufgabe, die Welt und die Menschen in ihrer prekären und von Zerreissung bedrohten Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Tragik kennen zu lernen, auszuhalten, als Einheit zu denken und lieben zu lernen, ohne zu vergessen, dass wir darin doch nie ganz heimisch werden.
Der Band beginnt mit Passagen der Selbsterkundung. Aber die autobiographische Seite schlägt die analytische nicht weg. Ebenfalls streicht Reichenbach die Ambivalenz nicht aus seinen Erfahrungen und Schlüssen, sondern macht sie explizit. Er kritisiert das Moralisieren und deutet doch Verständnis an, wenn es auftritt. Die Empörung, die Polemik, die selten fehlt, gilt nie einer einzelnen Position, sondern immer nur der „Dummheit“, fehlender Distanz, Reflexion, Theorie. Reichenbachs Essays zeigen daher kein Denken in Alternativen, aber Angriff und Verteidigung auf alle Seiten, keine Identifikationen, aber Eros und Distanz, kein Positivismus, aber Affirmation als Praxis der Negation, kein Mittelweg, aber doch Bedauern, wenn er nicht mehr beschritten wird. Kurzum, wer immer Reichenbach liest, wird ihm beipflichten und fühlt sich doch bei der nächsten Wendung ertappt.
Nach wenigen Sätzen ist man meist verwickelt in die Lust des Autors an Kontrapunkten, Widersprüchen und Doppeldeutigkeiten: «In der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, war kein Bücherregal nötig.» (Über Bildungsferne) Es heisst nicht einfach „stand kein Regal“, denn wenn auch keins nötig war, könnte trotzdem eins dagestanden haben, zum Beispiel eine Wohnwand. Oder: „Der gute Ruf der Demokratie ist jung. (…) Dass ‘gute’ Erziehung demokratisch zu sein habe, ist eine politisierte Wendung des pädagogischen Denkens, die alles andere als selbstverständlich ist.» (Kult der Inkompetenz) Es heisst nicht «die Wendung ist schlecht», sie ist nur «politisiert» und nicht «selbstverständlich», es heisst nicht «die Demokratie ist gut oder schlecht», es heisst nur, «der Ruf ist gut». Und man fragt sich sofort, «wer ruft», «wer politisiert»? Es heisst nicht «früher war Demokratie verpönt, aber heute ist alles gut», sondern es heisst: Der gute Ruf «ist jung», und schon ist dem Fortschrittspathos mit Skepsis und Humor die Spitze genommen. Sein Essay über „Neomanie in der Erziehungswissenschaft“ schliesslich beginnt mit dem Satz: „Die Überwindung von Traditionen zu bejubeln, ist nicht immer ein guter Indikator für die Bildung eines Menschen oder einer Gesellschaft.“ Wie im Schachspiel eine kluge Eröffnung ein komplexes Spiel garantiert, ermöglicht dieser Satz Ermittlungen in alle Richtungen. Weder verschliesst die Kritik am Jubel den Weg des Fortschritts, noch schlägt sie sich bereits auf die Seite der Tradition. Vielmehr ahnt man, dass es hier nicht um die Alternative Überwinden oder Beharren gehen wird, sondern gerade darum, diese zurückzuweisen. Und doch kommt bei Reichenbach nie der Verdacht auf, die Sache könne in der Schwebe bleiben, sie sei letztlich gleichgültig. Denn obwohl in seiner Dialektik nichts endgültig entschieden wird, ist es doch nicht egal wie es ausgeht. Es ist, als würde er zum Schluss immer mit jenem jüdischen Vater aus dem klassischen Witz über den atheistischen Monotheismus insistieren: „Es gibt nur einen Gott! Und wir glauben nicht an ihn!“
Literatur:
Baldwin, J. (2018): Von dieser Welt, München.
Richard, S. (1983): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M.
Willis, P. (2013): Spass am Widerstand. Learning to Labour, Hamburg.