Zu einigen jüngeren politischen Krimis
Krimis machen eine gewichtige Abteilung der Bibliothek schema f aus und füllen hier etliche Tablare. Da sind die Klassikerinnen Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, Margery Allingham oder die sich allen Schubladen und Einordnungen entziehende Patricia Highsmith. Da ist natürlich auch P. D. James mit dem Buch Ein reizender Job für eine Frau (1972), in dem, jenseits der schrulligen Miss Marple, erstmals eine professionelle Privatdetektivin auftritt, die herkömmliche Rollenmuster hinterfragt. Und da sind die Ariadne-Krimis. Ja, wer erinnert sich nicht an die.
Vor dreissig Jahren tauchten diese feministischen Krimis plötzlich in allen WGs auf, nicht nur von Frauen gelesen. Tiefschwarzer Umschlag, gelb-schwarze Vignetten drauf. Ariadne aus dem bislang auf linke politisch-philosophische Bücher spezialisierten Argument-Verlag bot ab 1988 neue Kost, politisierte, feministische Spannungsliteratur. Die war zumeist aus dem angelsächsischen Raum übersetzt. Die Themen, etwa Gewalt gegen Frauen, waren neu, und die Figuren waren neu. Marion Fosters Wenn die Nacht ihr Netz auswirft und Barbara Wilsons Ein Nachmittag mit Gaudi. Sarah Drehers Stoner McTavis. Katherine V. Forrests Kate Delafield. Sarah Schulmans Sophie Horowitz. Selbstbewusste Frauen, lesbisch oder straight, Verbrechen nicht mehr als Einzelfälle, sondern als Ausdruck patriarchaler Strukturen.
Vergangenen Herbst ist ja Ariadne-Verlegerin Else Laudan im bücherraum f vorbeigekommen und hat enthusiastisch über ihre Arbeit, den Verlag und die neusten Produktionen erzählt (siehe Laudan 2019).
Die Arbeit des Ariadne-Teams war zunächst sehr erfolgreich. Von der neuen Frauenbewegung und dem Interesse an Populärkultur getragen, ergaben sich sagenhafte Umsätze: Von einzelnen Autorinnen wurden 250000 Exemplare umgesetzt. Es gab eine Zeitschrift – das Ariadne-Forum –, Workshops und Leseclubs.
Dann sprangen grössere Verlage auf den Zug der «Frauenkrimis» auf, gleichzeitig brach die Infrastruktur der neuen Frauenbewegung mit Buchhandlungen, Kulturzentren und Frauencafés ein. Ariadne und Argument mussten ihr Programm und die begleitenden Aktivitäten gegen Ende der neunziger Jahre massiv zurückfahren.
Eine Wende zum Besseren setzte erst wieder um 2008 ein. Neue deutsche Autorinnen wie Christine Lehmann und Monika Geier, die schon seit längerem schrieben, errangen erste Anerkennung; die Französin Dominique Manotti wurde mit einem harten Wirtschaftskrimi zum durchschlagenden Erfolg. Nicht ganz zufällig lief dieses neu erwachte Interesse mit der Finanzkrise parallel. Seither hat sich, wie Else Laudan erklärte, der politische Krimi in einer sichtbaren Nische etabliert.
Kürzlich ist nun ein grösseres Paket im bücherraum eingetroffen, mit einigen älteren und vielen neuen Krimis aus der Ariadne-Produktion, die Else der Bibliothek zur Aufstockung der Bestände geschenkt hat.
Melancholische Ballade
Da sind zum Beispiel drei der neusten Übersetzungen der Engländerin Liza Cody. Von der stehen in den Regalen ein halbes Dutzend Bücher, vor allem aus den neunziger Jahren. In den Nullerjahren hat sich Cody eine Schreibpause gegönnt, die ab 2011 wieder erscheinenden Krimis übersetzt Ariadne jetzt sukzessive auf Deutsch. Schauen wir zuerst Ballade einer vergessenen Toten (2019) an
, englisch schon 2011 publiziert.
Zwei drängende Fragen bleiben zum Schluss der Lektüre. Wie wird Amy die Informationen, die sie im Verlauf ihrer Recherche zu Elly Astoria gesammelt hat, insbesondere auch zu der Tod, in die Biografie über die allzu jung verstorbene Musikerin einarbeiten? Und wird sie womöglich zum Schluss vielleicht mit Stuart …, obwohl der doch altersmässig ihr Vater sein könnte?
Vor diesen Fragen stehen 400 Seiten Lesespannung höchster Qualität. Liza Cody montiert verschiedene Textsorten ineinander, Interviews, Erzählungen, Tonbandabschriften. Dem entsprechen verschiedene Erzählstimmen, alle tongenau getroffen. Sie fügen sich insgesamt zu einer mal melancholischen, mal bitteren, mal ironischen Ballade über ein ungewöhnliches Leben. Die ansonsten hervorragende Übersetzung setzt hier den Akzent nicht ganz richtig. «Vergessen» ist die Tote nicht: Ihre Musik und ihre Geschichte überleben, geradezu mythologisch überhöht. Doch Elly Astoria war, wie es im Original heisst, ein «nobody», ein Niemand: nicht fassbar. Ein musikalisches Wunderkind, nicht hochgepäppelt von Hubschraubereltern, sondern aus zerrütteten Verhältnissen. Sie verdiente sich als Strassenmusikantin ein wenig Geld für die drogensüchtige Mutter, wurde von einer mittelmässigen Frauenband aufgenommen, zum Geheimtipp, als Person unscheinbar, kaum wahrgenommen, als Musikerin und Komponistin eine Offenbarung. Doch noch vor dem grossen Durchbruch wird ihre verstümmelte Leiche entdeckt. Kurzes sensationelles Nachleben in den Massenmedien; danach werden ihre Lieder umso erfolgreicher gecovert. Fünfundzwanzig Jahre später wird Amy – deren Nachname unbekannt bleibt – aus der Depression einer gescheiterten Beziehung und einer abgebrochenen Schreibkarriere heraus von einem Astoria-Song getroffen und beschliesst, Ellys Biografie zu schreiben. Durch ihre Nachforschungen setzt sich langsam ein Bild zusammen, von der sozialen Depravierung der Thatcher-Jahre, von der Dynamik in einer mit weit divergierenden Charakteren besetzten Frauenband, von der Musikszene, wo die meisten – aber vor allem Frauen – übers Ohr gehauen werden. In der Beschreibung von Ellys Musik wird dagegen so etwas wie die transzendierende Kraft der Kunst beschworen. Wie das Verbrechen aufgedeckt wird, ist schon beinahe nebensächlich. Was die erste drängende Schlussfrage betrifft: Das hier vorliegende Buch ist die Biografie, die Amy schreiben wird, und die ist schonungslos auch gegen die noch – fiktiv – Lebenden. Die zweite Frage überlassen wir den handelnden Figuren zur Beantwortung.
Behinderung und Flucht
Verschiedene Erzählstimmen kommen auch bei Gudrun Lerchbaum Wo Rauch ist (2018) zu Wort. Es sind drei sehr unterschiedliche Typen, die sich hier zusammenfinden. Die selbstbewusste, an MS leidende und im Rollstuhl sitzende Buchhändlerin Olga, die gerade aus dem Gefängnis entlassene, ziemlich aufgedrehte Kiki und der etwas verkrachte ältliche Schnösel Adrian, der sich als Begräbnisbegleiter durchschlägt. Gemeinsam verstricken sie sich in die Aufklärung eines Mords durch Rechtsextremisten oder Islamisten oder den türkischen Geheimdienst, die vielleicht oder womöglich zusammenarbeiten. Mit den – durchaus plastisch vergegenwärtigten – Erfahrungen einer Behinderten und dem Rechtsextremismus werden zwei angesagte Themen behandelt. Die Figurenanlage mit den ausgefallenen Gestalten wird durch die Sprache auf die Spitze getrieben: In jedem zweiten Satz muss ein Witz stecken. Man kann so was ja mögen. Inhaltlich läuft die Geschichte eher problematisch auf eine – natürlich in Notwehr erfolgte – nicht geahndete Selbstjustiz hinaus.
Wie unterschiedliche Stimmen eindringlicher eingesetzt werden können, zeigt Merle Kröger in ihrem grandiosen Roman Havarie (2015). Von ihr sind zwei frühere Krimis hier vorhanden. Nein, einen Mord gibt es in Havarie nicht. Jedenfalls nicht einen, bei dem der Täter oder die Täterin nach etwelchen Irrungen und messerscharfen Kombinationen schliesslich überführt wird. Tote gibt es allerdings etliche. Flüchtlinge kommen um, wenn ein Boot im Mittelmeer kentert; ein Flüchtling, der früher aufgegriffen worden ist und als illegale Küchenhilfe auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet, wird zurückgeschickt und stirbt an der spanischen Küste; ein Bordmusiker, der sich zum Überleben mit Passagierinnen prostituiert hat, springt ins Meer.
Havarie sprengt die Gattungskonventionen eines Kriminalromans. Statt einer Hauptfigur, einer psychisch mehr oder weniger versehrten Ermittlerin, bietet er ein breites Figurenpanorama. Das reicht durch die verschiedenen Etagen eines Kreuzfahrtschiffs hindurch, vom Kapitän und mehreren Offizieren über Küchenpersonal bis zu Passagieren, umfasst Flüchtlinge auf einem Boot, inklusive Schlepper und dessen Freundin, sowie Mitglieder des spanischen Seenotrettungsdiensts. Macht ein gutes Dutzend Figuren, die alle in ihr Recht gesetzt werden und eine eigene Sprache und Geschichte bekommen.
Während der zugespitzten «Flüchtlingskrise» geschrieben und 2016 mit dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet, ist der Roman breit recherchiert und vergegenwärtigt ein unmenschliches Migrationsregime. So ist er ein herausragendes Beispiel der neuen Generation von deutschen Ariadne-Krimis.
Grand Guignol
Klare Sache der Schottin Denise Mina startet mit einer ähnlichen Prämisse wie Liza Cody. Anna McDonald wird von ihrem Mann zugunsten ihrer besten Freundin verlassen, und er nimmt auch gleich die beiden Kinder mit. Sie flüchtet sich in ihr wirkungsvollstes Betäubungsmittel, einen true-crime-podcast. In dem wird über den rätselhaften, gewaltsamen Tod eines Mannes berichtet, den Anna in einer weit zurückliegenden Zeit gekannt hat. Denn mit ihr hat es eine besondere Bewandtnis, eine gewechselte Identität, die vorerst kunstvoll umspielt wird. Anna setzt sich auf die Spur des Verbrechens und ihrer eigenen Vergangenheit, zusammen mit einem anorektischen ehemaligen Popstar, der, wie das Leben so spielt, der Ehemann jener Frau ist, mit dem Annas Mann sich davongemacht hat. Mina schildert das ungleiche Paar psychologisch genau: Wo Verdrängung aufbricht und zu berechtigten Ängsten führt und wo die in die Paranoia abzustürzen drohen; wo umgekehrt die Anorexie die Weltwahrnehmung trübt. Dazu gibt es ein paar hübsche Seitenblicke auf die Macht einer mit neuen sozialen Medien hergestellten Öffentlichkeit. In der wird Annas horrende Geschichte von Verführung und Gewalt an jungen Frauen wieder hochgekocht; die vom Popstar hergestellten podcasts befördern aber auch die Verbrechensrecherche. Der Kriminalfall mündet dann in einen melodramatischen Showdown, wenn die beiden einer alle Drähte ziehenden Milliardärin samt ruchloser Assistentin und Auftragskiller in deren festungsähnlichen Anwesen entgegentreten. Aber ein bisschen Grand Guignol darf ja schon sein.
Eine Mittäterin
Die US-Amerikanerin Sarah Schulman hat in den achtziger Jahren mit den beiden Büchern Die Geschichte der Sarah Horowitz (englisch 1984, deutsch bei Ariadne 1996) und Ohne Delores (englisch 1988, deutsch bei Ariadne 1992) Pionierinnenwerke lesbischer Krimis vorgelegt – beide sind bei schema f selbstverständlich vorhanden. Schulman schrieb danach ‹klassische› Romane, Theaterstücke und Sachbücher, gründete ein lesbisch-schwules Filmfestival, war unermüdlich als Aktivistin tätig, für das Recht auf Abtreibung, gegen die Stigmatisierung von Aids, für die Rechte der PalästinenserInnen – schema f führt neben den Krimis etliche andere Bücher von ihr. Dabei trat Schulman auch mit provokativen Thesen auf, wollte Frauen nicht auf den Opferstatus reduzieren, sondern ihre Eigenverantwortung betonen. In ihrem jüngsten Sachbuch von 2017 wendet sie sich gegen die Selbstbezichtigungs- und Entschuldigungskultur, weil diese von realen Veränderungen ablenke – eine Diskussion, die gegenwärtig anlässlich der Solidarisierung von Weissen Männern und Frauen mit Black Lives Matters wieder geführt wird.
Mit dem 2018 erschienenen Buch Maggie Terry beziehungsweise Trüb (2018, deutsch 2019) knüpft sie an die frühen Krimis an. Dabei läuft die persönliche Krise der Hauptfigur mit der gesellschaftlichen Krise der USA parallel. Ein gefährlicher Clown ist Präsident geworden und will die Welt verzocken. Maggie Terry ihrerseits taucht nach 18 Monaten in einer Klinik wieder im Alltag auf. Einst Polizistin bei der NYPD, hatte sie sich zunehmend hinter Drogen und Alkohol versteckt, bis zur Katastrophe. Mit der Partnerin ist auch das gemeinsam aufgezogene Kind aus ihrem Leben gegangen. Jetzt geht es ums Überleben. Das gentrifizierte New York stellt sich ihr fremd entgegen. Die Gentrifizierung wird nicht einfach behauptet, sondern sinnlich in den Geschäften und Bars, die verschwinden, in den alten versus den neuen Gerüchen und Klängen und Leuten. In einem Anwaltsbüro kriegt Maggie als Ermittlerin die Chance einer neuen Stelle nach dem Entzug, gegen das Misstrauen der andern Angestellten. Eindringlich werden die täglichen Versuchungen der Sucht beschrieben; mit ironischem Vorbehalt besucht Maggie AA und NA-Meetings, die doch überlebensnotwendig sind. Mit neuer Aktualität versehen, wird auch – im Anschluss an die 2014 von Polizisten getöteten Michael Brown und Eric Garner – Black Lives Matters in die Personenkonstellation eingebracht. Der Sohn von Maggies hispanischem Polizeikollegen, mit dem sie jahrelang auf Streife war, hat einen Schwarzen erschossen, und sie ist damals selbst in den Sog des Corpsgeistes bei der Polizei geraten, der sogar über Rassenschranken hinwegreicht.
Die Erzählperspektive ist ganz nah bei Maggie; sie hat ihre im Beruf geschärfte Beobachtungsgabe nicht verloren, und doch ist ihr nicht ganz zu trauen, weil sie sich immer wieder etwas vormacht, durch die Entzugserscheinungen und die Sehnsucht danach, mindestens ein Besuchsrecht für das von ihr mit aufgezogene Kind zu erhalten.
Aber ihr Absturz in die Sucht ist auch selbstverschuldet. Zuweilen wirkt der Roman wie eine Verkörperung der These von der weiblichen Mittäterinnenschaft. Maggie ist als Frau und Lesbe nicht (nur) Opfer, sondern sie stammt ursprünglich aus privilegierten Verhältnissen, verkörperte als Polizistin nicht nur die Macht, sondern verfügte auch über solche; sie muss also Verantwortung für ihre früheren und jetzigen Taten übernehmen. Selbstmitleid allein reicht nicht aus. Der Roman steuert auf eine erste Wiedergutmachung zu. Fortsetzung folgt hoffentlich bald.
Liza Cody: Ballade einer vergessenen Toten. Deutsch von Martin Grundmann. Hamburg: Argument Verlag 2019 (Ariadne Krimi 1238). 412 Seiten. (Originalausgabe 2011)
Gudrun Lerchbaum: Wo Rauch ist. Hamburg: Argument Verlag 2018 (Ariadne Krimi 1233). 286 Seiten.
Merle Kröger: Havarie. Hamburg: Argument Verlag 2015 (Ariadne Krimi 1224). 228 Seiten.
Denise Mina: Klare Sache. Deutsch von Zoë Beck. Hamburg: Argument Verlag 2019 (Ariadne Krimi 1242). 346 Seiten. (Originalausgabe 2019)
Sarah Schulman: Trüb. Deutsch von Else Laudan. Hamburg: Argument Verlag 2019 (Ariadne Krimi 1241). 270 Seiten. (Originalausgabe 2018)