Kleine Geschichte der Berliner «alternative»
Ihr Name war Programm: Die «alternative» war ab Mitte der 1960er Jahre die wichtigste kritische kultur- und literaturtheoretische Zeitschrift im deutschsprachigen Raum. Sie rekonstruierte marxistische Positionen aus der Weimarer Republik und transportierte nach 68 die französische Literatursoziologie und den Poststrukturalismus nach Deutschland, vor allem auch in seiner marxistischen Variante: Louis Althusser und Etienne Balibar.
Begonnen hatte sie als Literaturzeitschrift «Lyrische Blätter». Im Umfeld der Protestbewegung gegen die drohende nukleare Aufrüstung der Bundesrepublik fusionierten die «Lyrischen Blätter» mit dem kleinen Magazin «Visum für Lyrik, Prosa und Graphik» zur «Alternative – Blätter für Lyrik und Prosa», herausgegeben von Reimar Lenz und Richard Salis. Ihr Anspruch war es, «Alternativen zur sprachlichen und existenziellen Indifferenz» Raum zu geben. Zunächst stand besonders der literarische Austausch zwischen Ost und West im Fokus der vierteljährlich erscheinenden Hefte. Ende 1963 wurden in der bereits von der Literaturwissenschaftlerin Hildegard Brenner verantworteten Doppelnummer 33/34 Texte einer neuen Generation von DDR-SchriftstellerInnen erstveröffentlicht, zum Beispiel Volker Braun, Peter Hacks, Christa Reinig, Johannes Bobrowski, Wolf Biermann, Günter Kunert, Heiner Müller, Franz Fühmann und andern.
1964 übernahm Brenner den Verlag und die Herausgabe der Zeitschrift, nunmehr mit dem Untertitel «Zeitschrift für Literatur und Diskussion». Die «alternative»-Jahrgänge wurden mit Jahrgang 7 weitergezählt. Zur Redaktion gehörten in den ersten Jahren neben Hildegard Brenner unter andern Georg Fülberth, Helga Gallas, Klaus Laermann, Helmut Lethen und Peter B. Schumann. Mit dem Jahrgang 1964 wurde auch die unverwechselbare, bis zuletzt beibehaltene Gestaltung durch Ulrich Harsch eingeführt: rote Hefte im Format A5, fernab jeden Glamours, mit einem verstärkten matten Kartoneinband, einfach (bzw. zweifach) geheftet. Oben und unten und am linken Rand stand der Text eng gedrängt, während auf der rechten Seite ein breiterer Rand für Notizen blieb.
Von Benjamin zur Literatursoziologie
Brenner schrieb selbst nicht so häufig, blieb aber all die Jahre über unbestrittener Mittelpunkt der Redaktion. Mit ihr verlagerte sich der Schwerpunkt zunehmend in Richtung theoretischer Diskussionen und kritischer Kulturtheorie. Sie selbst hat das in der letzten «alternative» 145/146, die 1982 erschien, skizziert. «Stück für Stück holten wir die durch die NS-Zeit abgebrochene linke Tradition der Weimarer Republik hervor: Namen wie [Karl] Korsch, den kannte damals niemand, und die MASCH, die marxistische Arbeiterschule in Neukölln, die Lehrstücke Brechts in den späten 20ern, seine Film- und Radioexperimente; des weiteren [Hanns] Eisler, Carl Einstein und andere.» Walter Benjamin natürlich, muss man hinzufügen. Da legte sich die «alternative» in zwei Heften 1967/68 mit dem Gralshüter Theodor W. Adorno und dem Suhrkamp Verlag an, denen vorgeworfen wurde, die damals begonnene Benjamin-Edition dazu zu benützen, Benjamins Politisierung der letzten Jahre kleinzureden.
1966 waren bereits der russische Formalismus und die Literatursoziologie von Lucien Goldmann vorgestellt worden. Letztere bedeutete nicht nur eine Auseinandersetzung um interpretatorische Methoden, sondern auch um die Verhältnisse, in denen solche Methoden angewandt wurden, also eine Analyse von Universitäten, Lehrerausbildung und Lehrmitteln. Mit Nummer 67/68 startete dann 1969 eine Debatte um eine «materialistische Literaturtheorie», die sich über elf Hefte bis Anfang 1976 hinzog.
Abschweifung nach Frankreich
Parallel dazu wurde eine noch radikalere Linie aufgegriffen. In Heft 66 vom Juni 1969 wurde unter dem Titel «Revolutionäre Texttheorie» die Gruppe Tel Quel präsentiert. Die Zeitschrift «Tel Quel» war 1960 in Paris gestartet worden, geprägt von Philipp Sollers, lose mit dem nouveau roman und anfänglich mit Autoren wie Michel Foucault und Jacques Derrida verbunden, die allerdings nie zur Kerngruppe gehörten, deren wichtigste RepräsentantInnen wurden später Roland Barthes und Julia Kristeva. Im «alternative»-Heft kam vor allem Philippe Sollers mit programmatischen Texten zu Wort, dazu kaum geniessbare literarische Texte, die den nouveau roman in sich als politisches Zertrümmern gerierender Hermetik zu übertrumpfen suchten.
Diesem Heft im bücherraum f liegt ein vervielfältigtes Typoskript bei: «Jenseits von Tel Quel – Die Bewegung des Kollektivs Change», eine wütende Abrechnung mit der Gruppe Tel Quel, der vorgeworfen wurde, im Mai 68 ihr wahres revisionistisches bzw. unpolitisches Gesicht gezeigt und sich aller internationalen Solidarität enthalten zu haben. Tatsächlich war in Frankreich 1968 ein Gegenprojekt gestartet worden, massgeblich geprägt von Jean-Pierre Faye, der aus der Redaktion von «Tel Quel» ausgeschieden war. Zwar balgte man sich zuweilen um die gleichen AutorInnen und erst recht um das gleiche Zielpublikum, doch wurde in «Change» einerseits stärker die Linguistik als neue Leitwissenschaft zur Analyse von Herrschaftsstruktur betont, andererseits der Anschluss an Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt gesucht. Ironischerweise wandte sich parallel dazu ab 1972 «Tel Quel» dem Maoismus zu, was 1974 zur berüchtigten Beurteilung der chinesischen Kulturrevolution als «Erfolg» führte. «Change» erschien vorerst dreimal im Jahr, ab 1979 dann nur noch als Jahrbuch, die Ausgabe vom März 1983 war die letzte; im Übrigen war «Tel Quel» schon ein Jahr zuvor durch ein Nachfolgeprojekt ersetzt worden.
Althusser und das Ende
Um 1970 erreichten die «alternative»-Hefte eine Auflage um 8000, einzelne Hefte gar 10000 Exemplare. Einen neuen Schub erhielt das Projekt mit der «Entdeckung» von Louis Althusser und dessen Analyse ideologischer Staatsapparate. 1973 war im befreundeten VSA-Verlag ein Sammelband mit Althusser-Texen zu «Marxismus und Ideologie» erschienen, editorisch und typografisch grenzwertig dilettantisch, aber unverzichtbar wegen der deutschen Erstübersetzung von Althussers einflussreichem Artikel «Ideologie und ideologische Staatsapparate (Skizzen für eine Untersuchung)». Die «alternative» griff die Anregung begierig auf. In der Nummer 97 von 1974 wurde ein früher Beitrag von Althusser zu Carlo Bertolazzi und Bertolt Brecht als «seltener Fall» vorgestellt, in dem «ein theoretisches Konzept – das der ideologisch-ästhetischen Praxis – an bekannten bzw. rekonstruierbaren Aufführungen (und zu ihnen gehören die Zuschauer) dargelegt wird». Dazu legten Otto Kallscheuer und Peter Schöttler begeisterte Rekonstruktionen des Ansatzes von Althusser vor. In der folgenden Nummer 98 begründeten Etienne Balibar und Pierre Macherey ein an Althusser geschultes Modell der Analyse der «Schule als Produktionsstätte literarischer Effekte». In Heft 99 wurde zudem unter dem Stichwort Ideologische Staatsapparate die Situation in Deutschland untersucht.
Drei Jahre später kam Etienne Balibar in der Nummer 116 erneut zu Wort, diesmal etliches pessimistischer, da angesichts der Neuen Philosophen in Frankreich die «Austreibung des Marxismus aus den Köpfen» thematisiert wurde. In zwei Doppelheften 1976/77 war auch ein Ausflug in die feministische Psychoanalyse unternommen worden, auflagenmässig erfolgreich, aber von der «alternative» kaum weiterverfolgt.
Tatsächlich erschöpfte sich der «alternative» Antrieb langsam. Der Jahrgang 1980 war schon von Melancholie überschattet. Die Nummer 130/31 thematisierte «Italienisches post-politico» und die folgende Doppelnummer sprach über Walter Benjamin nicht mehr als Produktivkraft, sondern über die «Faszination Benjamin», und geradezu kulturpessimistisch wurde festgehalten: «Armut heute: Warum ein brennendes Auto interessanter ist als ein politischer Inhalt». Zwar versammelte wenig später das Heft 137 nochmals Texte von Althusser, aber kurz darauf ging es um das «Indiz Sprachlosigkeit», im Titel noch mit einem Fragezeichen versehen, doch zeugten die Texte eher von Unverständnis gegenüber den neuen Protestformen etwa in der Punkbewegung. Die Auflage war auf unter 3000 gesunken, Tendenz weiter sinkend.
Dann, 1982, war mit einer Doppelnummer 145/46 Schluss. Der politischen Theorie war die Bewegung abhanden gekommen, oder, wie Hildegard Brenner im Rückblick relativierte: Der von ihr verkörperten Generation und deren theoretischen Anstrengungen war die Bewegung abhanden gekommen. Neue Theorieansätze und Politikformen waren nicht auszuschliessen, aber deren Vermittlung konnte und wollte die «alternative»-Redaktion nicht mehr leisten.
Im bücherraum f sind folgende «alternative»-Nummern vorhanden:
Hefte 46/66, 56+57/67, 59+60/68, 64/69, 66/69, 67+68/69, 72+73/70, 75/70, 83/72, 88/73, 92/73, 97/74, 98/74, 99/74, 104/75, 105/75, 106/76, 110+111/76, 118/78, 124/79, 130+131/80, 132+133/80, 137/81, 140+141/81, 145+146/82
Was sich auch noch in der «alternative» lesen lässt: der Münchhausen-Effekt
Zur Althusser-Schule, welche die «alternative» nach Deutschland brachte gehörte auch Michel Pêcheux. Von dem stammt dieser Begriff: «Münchhausen-Effekt». Er trifft mich, da wir gerade die redaktionellen Arbeiten an einem Band mit «neuen Perspektiven» zum «Phänomen Münchhausen» abschliessen. Pêcheux hat den Begriff in seinem Buch «Les vérités de La Palice. Linguistique, sémantique, philosophie» von 1975 eingeführt. Mit ihm will er auf die «metaphysische Phantasie» aufmerksam machen, wonach sich das Subjekt als Quelle seiner eigenen Existenz versteht, sich als mächtig, eigenverantwortlich usw. setzt, obwohl es doch nur der Effekt ökonomischer und ideologischer Mechanismen ist, und er benennt diese Illusion in «Erinnerung an den unsterblichen Baron» und dessen in der klassischen, von Gottfried August Bürger der ersten englischen Münchhausen-Fassung beigefügten Geschichte überlieferten Fähigkeit, sich, mitsamt Pferd, am Perückenzopf aus dem Sumpf zu ziehen, in dem er zu versinken droht.
Nun gebe ich nicht vor, Pêcheuxs Buch gelesen zu haben; einige Auszüge daraus, im ursprünglichen «alternative»-Heft wie aktuell auf Englisch im Internet überflogen, bestärken mich im Vorurteil, dass der bei Althusser vorherrschende Gestus der vorbereitenden Umkreisung und Zerlegung von Problemen, der doch zumeist zu einer anregenden These führt, bei Pêcheux nur den ewigen Aufschub vorführt, und das bei Althusser zuweilen mystifizierende Vokabular, das doch zumeist einen realen Kern enthält, zum mystifizierenden Geraune geworden ist.
Der «Münchhausen-Effekt», immerhin, ist ein verständliches, kräftiges Bild. Ebenso kräftig, wenn auch nicht gerade virtuos, ist die auf dem Titelblatt der «alternative» abgedruckte anonyme Illustration, die im Bildnis, oder besser: im Kopf des Barons anscheinend auf die berühmteste Münchhausen-Darstellung von Gustave Doré zurückgreift.
Die Zeichnung hat das Subjekt M. zerstückelt: in Haupt (mit Perücke) und Arm. Dabei hat die Hand den Zopf bereits losgelassen und lässt das Haupt zu Boden stürzen, in eine Blutlache: Das Subjekt ist doppelt entmachtet; ein Vorfall, der in zeitgenössischer Terminologie zuweilen mehr oder weniger weitreichend und gelegentlich auch blutig als Revolution gedacht und benannt wurde.
Tatsächlich erinnert das Bild ikonografisch an jene Phase der französischen Revolution, in der die Häupter der Adligen durch die Guillotine von ihren Rümpfen getrennt wurden, und es mag, im Jahr 1978, auch an jene Taten erinnern, die im einleitenden Artikel im gleichen «alternative»-Heft als «Provokationen der RAF» bezeichnet werden. Andererseits mag sich die Lache auch als grosser Tintenklecks lesen lassen, was den Subjektsturz zum literarischen Akt erklärte.
Erkenntnistheoretisch bleibt das Bild allerdings defizitär. So verspricht es, die Frage der Subjektkonstituierung mit einem Streich zu erledigen, indem die Frage durchgestrichen, also der gordische Knoten zerhauen wird. Mit diesem Voluntarismus wird gerade nicht eingelöst, was der Untertitel des Hefts verspricht, nämlich die Materialität der Ideologie zu zeigen, die Subjektivität entstehen lässt. Insofern illustriert die Zeichnung nicht nur den Sturz des Subjekts, sondern auch die Ohnmacht der Theorie, die das Subjekt gestürzt hat.
sh