Natürlich, der Hinflug aus London trifft verspätet ein, aber das ist nichts besonders Neues. Das Swiss-Personal lässt sich nichts anmerken, dass am heutigen Tag der Brexit hätte stattfinden sollen, und dass er nächstens, irgendwie, dann schon noch stattfindet. Landing cards für Nicht-EU-Passagiere hat man ja immer mitgeführt, die sind jetzt einfach ein bisschen aufgestockt worden. Auch bei der Einreise in Heathrow ist noch alles beim alten, UK und EU und CH in der gleichen Schlange, und die Ungleichbehandlung beginnt erst zwischen analogen und biometrischen Pässen.
Zweimal war Theresa May mit ihrem ausgehandelten Vertrag zum Austritt aus der EU im Parlament krachend gescheitert, und da der Speaker des Hauses unverhohlen gedroht hatte, ein drittes Mal nur eine substanziell veränderte Vorlage zur Abstimmung zu bringen, verfiel die Regierung auf einen Trick und riss die bisherige zweiteilige Vorlage auseinander. Die Abfuhr fiel mit 286 Ja gegen 344 Nein nicht mehr so katastrophal wie bei den ersten beiden, aber immer noch deutlicher als erwartet aus, obwohl einige prominente Brexiteers wie Jacob Rees-Mogg und Boris Johnson umgeschwenkt waren und jetzt plötzlich dem zustimmten, was sie zuvor mit aller in Oxbridge geschulten hohlen Rhetorik als inakzeptabel verdammt hatten. Was soll man dazu noch sagen? Im Verlauf der Brexit-Saga sind allen Ernstes historische Argumente aus dem 16. Jahrhundert ausgegraben worden, um die angebliche Souveränität wahlweise der Nation oder der Tory-Regierung zu beschwören, und tatsächlich findet sich unter den damaligen Adligen und Höflingen genügend Anschauungsmaterial für Intrigen, Speichelleckerei und Verrat. Wenns schiefging, landete man im Tower und war später einen Kopf kürzer; jetzt droht höchstens ein lukrativer Vertrag für eine Kolumne in einem der rabiaten rechten Brexit-Blätter. Jacob Rees-Mogg hat offenbar am Wochenende seinen zwölfjährigen Sohn zu den Gesprächen mit der Premierministerin auf deren Wochenendsitz in Chequers mitgebracht, und während sein Vater der Premierministerin für seine Unterstützung den baldigen Rücktritt abforderte, las sein Sohn im Vorraum ein Buch. Der Junge darf später für gegeben nehmen, dass er und seinesgleichen ganz selbstverständlich an die Schalthebel der Macht gehören.
Wenn sie ihren Vorschlag erfolgreich durchbringe, dann trete sie zurück, hatte Theresa May unter Tränen versprochen; jetzt, wo sie gescheitert ist, bleibt sie im Amt – so verquer sind mittlerweile die Argumente und Fronten, und so durchsichtig wird Brexit zur Pfründenverteilung der Konservativen genutzt. Mays Bäuerinnenopfer hat einige opportunistische Brexiteers umstimmen können; dafür hat es einige jener Labour-ParlamentarierInnen abgeschreckt, die damit drohten, sich der Parteidisziplin zu entziehen und im Namen ihrer mehrheitlich Leave-stimmenden Wahlkreise den May-Vorschlag im dritten Anlauf zu unterstützen. Nach einem Rücktritt von May womöglich Boris Johnson als Premierminister – das wollten dann doch nur fünf Labour-Abgeordnete in Kauf nehmen, während weiterhin 34 Tories ihrer Regierung die Gefolgschaft verweigerten, von den zehn nordirischen Betonköpfen zu schweigen. Sichtbar wird die Dekadenz der politischen Klasse, und damit ist nicht so sehr der immer auch von rechts eingesetzte Kampfbegriff der classe politique gemeint, sondern die Betonung liegt auf dem Klassencharakter.
Inmitten all der Jämmerlichkeit finden sich auch interessante Aspekte. Der Versuch des Unterhauses, die Politik jenseits der und gegen die Regierung führend zu gestalten, ist am Mittwoch gescheitert, weil man sich nicht auf einen parteiübergreifenden Kompromiss einigen konnte und deshalb alle acht Einzelvorschläge abgelehnt wurden. Darin zeigen sich grundsätzliche Defizite des britischen demokratischen Systems. Jede General- und Gemeindeversammlung kennt Verfahren, wie weit divergierende Vorschläge in eine Struktur von immer engeren Alternativen eingebunden werden können. Das britische Parlament ist damit unvertraut; deshalb stand eine Auswahlsendung von acht Vorschlägen schroff gegeneinander, und selbst taktisches Abstimmen hat die meisten Mitglieder überfordert. So enthielt sich beispielsweise die Scottish National Party SNP gegenüber dem am ehesten Erfolg versprechenden Vorschlag des europhilen Tory-Abgeordneten Kenneth Clarke für eine softe Brexit-Variante der Stimme – mit den Stimmen der SNP wäre der von Labour taktisch unterstützte Vorschlag deutlich angenommen worden. Die Enthaltung mag die SNP inhaltlich begründen können, weil sie grundsätzlich gegen jeden Brexit ist, aber ein positives Resultat zu einem der acht Vorschläge hätte die Position des Unterhauses zumindest symbolisch und in der öffentlichen Wahrnehmung gestärkt. Immerhin wird jetzt für Montag ein solcher Kompromiss versucht. Was die Regierung im Falle eines positiven Resultats damit machen wird, ist eine offene Frage. Optimistisch gestimmt könnte man sagen, neue demokratische Formen werden erprobt, unter höchstem Zeitdruck freilich. Das gilt generell für die Gewaltentrennung zwischen Regierung, Parlament und Bevölkerung – auch in der Öffentlichkeit wird ja das systemisch unpassende Element des Referendums durch Grossdemonstrationen sowohl ergänzt wie bestritten. Speaker John Berkow versucht, den Karren aus dem von den Konservativen angerichteten Schlamassel zu ziehen, und dafür verdient er seinen Kultstatus in der kontinentalen Presse; aber er übernimmt eine Funktion in einem Machtvakuum, die anderweitig erfüllt werden müsste. Zumindest in verfassungsrechtlicher Hinsicht könnte man, sehr optimistisch gestimmt, von einem schöpferischen Chaos sprechen. Fortsetzung am Montag.