Josef Langs „Geschichtsbuch“ erinnert die Demokratiegeschichte der Schweiz mit dem Blick des politischen Zeitgenossen. Anhand der aktuellen egalitären sozialen Bewegungen des Frauen- und Klimastreiks werden die eingelösten, verzögerten, die unabgeschlossen gebliebenen Postulate dargestellt und die politischen Lager von Fortschritt und Reaktion benannt. Die in vielerlei Hinsicht ferngerückten Problemstellungen und Konfliktlinien des 19. Jahrhunderts nicht nur zu vergegenwärtigen, sondern mit den Problemen von heute in Resonanz zu versetzen, ist das grosse Verdienst des schlackenlos geschriebenen Essays des GSOA-Aktivisten, alternativ-grünen Politikers und ehemaligen Nationalrats aus Zug.
Langs Demokratiegeschichte ist nicht das Werk eines kühlen und distanzierten historischen Analytikers, sondern eines Zeitgenossen, der in den historischen Prozessen Antriebe gesucht und gefunden hat für einen übergreifenden Emanzipationsprozess, der, auf einen Nenner gebracht, individuelle Freiheitsrechte gegenüber wie auch immer gearteten Kollektivprivilegien, ebenfalls „Freiheit“ geheissen, bevorzugt. Der Puls für mehr rechtliche, politische und soziale Gleichheit schlägt durch dieses Buch und setzt klare begriffliche Schranken: „Ein Volks- oder Religionskörper, der sich in Bewegung setzt, indem er einem Führer folgt und so die Unmündigkeit seiner Glieder bekräftigt, wird hier nicht als solche (nämlich als soziale Bewegung) betrachtet.“
Die Protagonisten auf diesem Spielfeld heissen zwar immer noch Konservative, Liberale und Linke. Weil sich aber Lang besonders für die politisch-sozialen Vorgeschichten der Aufbruchsphasen der Schweizer Demokratisierungsschübe interessiert und diese immer vor der Folie von Freiheits- und Bürgerrechten liest, gelingen ihm interessante Nuancierungen des bekannten Schulbuchwissens. So ist zwar die Phase von Aufklärung, kurzlebigem helvetischem Einheitsstaat und anschliessender Restauration, demokratischem Aufbruch in den Kantonen und bundesstaatlichem nation building sowie intensivem Kulturkampf bis zur totalrevidierten Bundesverfassung von 1874 – der nach Lang fortschrittlichsten Verfassung weltweit – eine nicht neue historische Etappierung. Konsequenter als ältere Untersuchungen betont Lang dabei aber auch die soziale Dimension der Bündnisse von Vertretern des Liberalismus und eines sozialpolitischen Aufbruchs, der späteren sozialistischen Linken. Diese historische Phase bildet den Auftakt und auch die argumentativ am überzeugendsten ausgearbeitete Etappe des Essays, ebenso quellenstark wie stringent formuliert. Dabei sind es oft die vergessenen Details, die akzentuiert werden: so etwa der Ausschluss des Ständemehrs bei Referendumsabstimmungen – im Gegensatz zur Initiative –, vor 150 Jahren durch Stichentscheid des Parlamentspräsidenten eingesetzt.
In Schlaglichtern auf die Kämpfe um die Ausgestaltung kantonaler Verfassungen, im Ringen um Volks- versus beziehungsweise Volks- und Bürgerrechte in der demokratischen Bewegung in Zürich, im Baselland und im antisemitischen Backlash im Aargau gelingt es Lang, die Ideengeschichte der Aufklärung in die verfassungs- und Politikgeschichte am Übergang der Alten Eidgenossenschaft zum „mechanisch-liberalen Bundesstaat“ so nachvollziehbar wie möglich und trotzdem so zugänglich wie nötig einem Publikum näherzubringen, das weniger den Ideen, vielmehr den sozialen und staatlichen Strukturen des 19. Jahrhunderts und dessen politischem Vokabular, fernsteht. Wie divers die „freisinnige Grossfamilie“ war, aber auch wie nachwirkend die konfessionellen Trennlinien blieben, wird durch Langs Schwerpunktsetzungen ebenso augenscheinlich wie die konstitutive Ausgrenzung der Juden aus dem sich herausbildenden nationalstaatlichen Denken, dessen trennendes Moment Liberale und Konservative ab den 1870er Jahren im Kampf gegen die erstarkende Arbeiterbewegung schnell wieder vergassen.
So macht der Essay durchsichtig, wie sich in der historischen Periode der 1860er Jahre ein Fenster geöffnet hat, um die ansonsten in der jüngeren Schweizer Geschichte prägenden Dominanten „fest gefügter Einordnung“ (in der Landsgemeindedemokratie und den patrizischen Stadtrepubliken), ihrem eingespielten Aushandeln und starker Ausgrenzung von Recht- und Besitzlosen (Hintersassen und Frauen) innerhalb der wiederum selbst konfliktreichen konfessionellen Spaltung in katholische und protestantische Gebiete, ein Stückweit zugunsten vergrösserter Freiheitsräume und Bürgerrechte (auch für die Juden) ein wenig zu verschieben. Diese Phase mündet in die Transformation jenes Bürgertums, das die revolutionären Erfolge (und auch die damit in die Welt gebrachten Verheissungen allgemeiner Gleichheit, inklusive jener der Frauen und der Ortsfremden) schnell verdrängt überwindet und sich gegen die Arbeiterschaft neu in Stellung bringt. Vergessene Debatten wie jene um das nie realisierte Schweizerbürgerrecht vor dem 1. Weltkrieg vergegenwärtigen die Ambivalenz eines schwachen Nationalstaats
, der zugleich ab den 1860er Jahren ideologisch immer stärker von einer antisemitischen, und später, insbesondere ab den 1930er Jahren, auch zugespitzt frauenfeindlichen männlich-maskulinen Ideologie getragen wird. Der Landesstreik sei auch eine Antwort auf die Hauptschwächen der Verfassung von 1874 gewesen: ihre Ausgrenzung der Frauen und die fehlenden sozialpolitischen Rechte.
Lang erinnert an die verpassten Chancen linksliberaler Bündnisse wie jenes um die heute vergessene Richtlinienbewegung der 1930er Jahre, deren sozialpolitische Reformvorschläge interessanterweise sehr viel mehr Stimmen auf sich vereinigten als die von Konservativen und Frontisten getragene demokratiefeindliche Bewegung für eine Totalrevision der Bundesverfassung. Das „28-Prozent-Fiasko“ der Totalrevision der Bundesverfassung zeige, so Lang, dass „die Errungenschaften der Verfassung von 1874 unter den Bürgern tiefer verankert gewesen seien als unter den Politikern, von denen nicht zuletzt einige Bundesräte der autoritären Versuchung anheimgefallen waren. Dass autoritäre Versuchungen im ausgebauten direktdemokratischen Instrumentarium in der Schweiz besonders ‚innovativ‘ angewendet wurden – so etwa mit der allerersten Verfassungsinitiative, in der 1892 das antisemitisch motivierte Schächtverbot angenommen wurde –, führt Lang historisch überzeugend auf die starken Ausgrenzungsmechanismen des „organizistischen“ Landsgemeindedenkens zurück, mit denen zugleich Kollektivfreiheiten aufgrund tradierter Zugehörigkeiten und soziale wie politische Rechtlosigkeit bzw. Entrechtung in die nationalstaatlich verfasste demokratische Ordnung überführt werden konnten. Auf dieser Welle reiten, hundert Jahre später, am Ausgang des 20. Jahrhunderts, die Nationalkonservativen von Christoph Blochers SVP besonders erfolgreich: in Langs historischer Lesart ist der Aufstieg der SVP das ideologische Produkt der spät doch noch erfolgten Überwindung des Konfessionalismus (da sie erstmals protestantische und katholische Konservative zusammenführen konnten) sowie einer männlich-maskulinen Ideologie der Geistigen Landesverteidigung, die durch die anderen bürgerlichen Parteien nach 1989 aufgegeben worden sei. Weil Lang mit einer gefestigten Diktion historisch-politischer Geschichte arbeitet, lässt er dabei das Konzept des ,Populismus‘ ausser Acht, das sich ebenso angeboten hätte.
Besonders gespannt war der Lesende natürlich auf Langs Beschreibung der Nachkriegszeit mit Kaltem Krieg und der Schweizer Identitätskrise der 1980er und 1990er Jahre. Lang war einer der Protagonisten der Aufweichung der Schweizer Militärstaatsideologie (Bundesrat 1989: „Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee.“) Mit dem allgemeinen Forschungskonsens markiert er keinen Bruch 1945, sondern zieht eine „autoritäre Phase“ von 1914 bis 1968, die von „vitaler Opposition“ insbesondere bis zu Beginn der 1950er Jahre geprägt gewesen sei. Die anschliessenden zwei Jahrzehnte seien die „bewegungsärmsten“ der Schweizer Demokratie der letzten 200 Jahre überhaupt geworden und die Schweiz damit zu einem der konservativsten Länder überhaupt. Diesen zwei Jahrzehnten sei ein Aufbruch in den 1970er und 1980er Jahren gefolgt, in denen es „Zehntausende politische Gefangene“ gab – gemeint sind insbesondere Militärdienstverweigerer, aber auch verhaftete Jugendliche bei Unruhen in den Städten –, und in der eine „Dialektik“ zwischen neuer und alter Frauenbewegung das Frauenstimmrecht errungen habe.
Weil er nicht der „üblichen Konkordanztheologie“ folgen wolle, liest Lang den Arbeitsfrieden und die Zauberformel als „Kinder des Kalten Kriegs“. Der damit gesteckte transnationale Rahmen, der für die die Geschichte des schweizerischen nation building im 18. und 19. Jahrhundert geschmeidig eingearbeitet ist, verliert sich in den letzten Kapiteln über das ausgehende 20. Jahrhundert leider etwas. Zuweilen bleibt es in diesem letzten Drittel des Buchs bei summarischen Auflistungen wichtiger Abstimmungsresultate und politischer Ereignisse – wobei der rote Faden der sozialen Bewegungen im Klima der langen Geistigen Landesverteidigung „1949-1992“ ja auch tatsächlich schwächer geworden ist; für die späten 1950er und frühen 1960er Jahre beschränkt sich die Opposition auf ein Häuflein Nonkonformisten und Friedensaktivistinnen. Besondere Beachtung schenkt Lang dem Verhalten der Sozialdemokratie, der er in den 1930er eine verpasste Chance auf stärkere soziale und politische Erfolge attestiert, als sie die Bündnisse mit Jungbauern und religiös gesinnten Arbeitern zugunsten eines zweiten Bundesratssitzes und der damit erfolgten „Anpassung“ aufgegeben habe. Man ist geneigt zu vermuten, Lang erhoffe sich eine erneutes Aufleben der Debatte, ob eine Bundesratsbeteiligung der Linken Sinn mache oder nicht. Für die jüngste Politikgeschichte der Schweiz stellt er fest: „Das Geld der SVP ist nicht alles.“ Obwohl sie in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ebensoviel Geld eingesetzt habe wie alle anderen politischen Kräfte zusammen, habe sie nur dann Abstimmungen gewonnen, wenn Linke und Liberale – wie oft bei der Frage über das ,Fremde‘ – versagt hätten (er nennt die Minarett-Initiative und die Ausschaffungsinitiative 2009 und 2010).
„Demokratie in der Schweiz“ vermag über weite Strecken einzulösen, was das Buch verspricht: die Gegenwart demokratischer Zustände aus der lebendigen Schilderung vergangener Konstellationen zu vergegenwärtigen und damit der Verschleierung nicht nur der inzwischen abgehalfterten Nationalmythologie zu entziehen, sondern vielmehr Bewusstsein dafür zu wecken, dass es die Kraft oder das Versagen sozialer Bewegungen waren, die für mehr politische und soziale Gleichheit sorgten. Dass diese aber auch ebenso oft von den Irrtümern ausgrenzender Ordnungsvorstellungen ausgingen, deren ideologische Hinterlassenschaften sich als ebenso langlebig zeigten und zeigen und immer wieder neu reaktiviert werden können (so etwa der antisemitische Mannlisturm als ein Beispiel eines Antisemitismus ohne Juden) wird keineswegs unterschlagen.
In der umsichtigen Zusammenfassung der entsprechenden Forschungsliteratur und der wichtigsten Überblicksdarstellungen gelingt es Lang besonders virtuos, die Regionalgeschichte der Eidgenossenschaft in ihren konfessionellen, ständischen und sozialen Differenzierungen auf die jeweils unterschiedlich gearteten politischen Konflikte hin lesbar zu machen. „Dass Dissens und Konflikte die Demokratie belebt und lange Phasen ohne grundsätzliche Debatten und soziale Bewegungen sie gelähmt haben. Die Tatsache, dass es in der Schweiz nach 1848 selten zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen gekommen ist, bedeutet nicht, dass die Konflikte weniger radikal gewesen wären als in Bürgerkriegs- und Putschstaaten.“ Das Erbe des Flickenteppichs der Alten Eidgenossenschaft mit seinen transeuropäischen Verflechtungen wird für das 19. Jahrhundert dabei überzeugender eingelöst als für das 20., wo die Binnensicht dominiert. Unterbelichtet bleibt dabei nicht zuletzt die Ausgrenzung und Einbettung der Frauen, wo es sozialgeschichtlicher Vertiefung besonders bedurft hätte, um der These des ideologischen Ausschlusses im militärischen Männerstaat der Geistigen Landesverteidigung Gewicht zu verleihen, aber auch die Bruchlinien noch stärker zu verdeutlichen. Die angeführten Beispiele etwa der Zivilschutzabstimmung von 1959 hätten noch ausgeweitet werden können. Man merkt in diesen Abschnitten am deutlichsten, dass Langs Politikgeschichte von ideellen Prämissen ausgeht und deren materielle Effekte untersucht und weniger Gewicht legt auf sozial- und alltagsgeschichtliche Formationen wie etwa dem Beitrag migrierter Frauen an die Entwicklung des Schweizer Sozialstaats und der daraus entstehenden Argumente für Gleichberechtigung, wie sie etwa in Forschungsansätzen aus der Gender- und Migrationsforschung favorisiert werden.
Lang bleibt auch in diesem historischen Essay seinem aktivistischen Grundsatz als Politiker treu. Sein Buch erweckt Lust, sich auf die „Stürme“ und „Händel“, auf die Unruhen und Ideenkonflikte des 18. und 19. Jahrhunderts einzulassen, um daraus zu lernen, mittels welcher politischen Vokabeln heute auf soziale Bruchzonen aufmerksam gemacht werden kann und wie diese in Zukunft zu betonen sind, um das Ruder wieder vermehrt nach links zu werfen.
Josef Lang: Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart, Baden: Hier und Jetzt-Verlag 2020, 272 S.