Die gesellschaftlichen Effekte der Verbreitung des Coronavirus haben einen apokalyptischen, offenbarenden Charakter. Die Aussage, die immer wieder fällt, ist nüchtern zu handhaben: Apokalyptisch ist eine Situation, in der zum einen offenbar wird, inwiefern die gegebenen Verhältnisse – zumindest für Viele – schon immer die Katastrophe bedeutet haben und in der zum anderen die radikale Frage nach dem, was der Mensch in einer Gesellschaft ist, gestellt wird.
Was in der „Coronakrise“ offenbar wird, ist nämlich nicht nur, dass sonst verachtete und unterbezahlte Berufe „systemrelevant“ sind, dass das Gesundheitssystem „kaputtgespart“ wurde, dass es einen Widerspruch zwischen Produktion und Reproduktion gibt oder dass Kapitalismus dadurch des Irrationalismus überführt ist
, weil er keine bewusste Planung zulässt.
Was letztlich in dieser Krise offenbar wird ist die Reduktion des Lebens freier Individuen aufs Überleben allein, etwas was im Kapitalismus für viele Menschen schon immer real war. Denn der Kapitalismus reproduziert sich durch die Gewalt dieses erpresserischen Tauschs: vollständiges Mitmachen gegen nacktes Überleben. Als Maßstab des Menschlichen gilt gegen Autonomie und Vernunft, das reine biologische Überleben. So trifft Agamben in seiner sonst eher problematischen Intervention doch einen Punkt mit der Frage: „Was ist eine Gesellschaft, in der es keinen anderen Wert gibt als das Überleben“? (Die Frage ist freilich zynisch, wenn sie den Kampf gegen das Absterben von Menschen banalisiert).
1. Überleben als Minimalkonsens. Auf Selbsterhalt reduzierend, zum „nackten Leben“ hindrängend
Vorweg: Gerade als Angriff auf das biologische Leben, konfrontiert Corona diese Gesellschaft mit der Tatsache, dass in ihr die Bewahrung von Leben doch zum Minimalkonsens gehören muss – zumindest in ihren Kernländern. (Für diejenigen, die außerhalb der Rechnung fallen oder genau als „minderwertig“ in die Rechnung hineinkommen, steht das Leben schon immer zur Disposition: Es sind die „Unterdrückten“ der VIII These über den Begriff der Geschichte Benjamins. Es wird aber auch deutlich, wie schmal die Trennlinie auch bei uns zu dem, was doch immer droht, ist: Dass das Leben zur Disposition steht, dort wo kapitale Vergesellschaftung überhaupt erst möglich wird: in der Erzeugung und im Kauf und Verkauf der sui generis-Ware „Arbeitskraftvermögen“, Kernmoment des Prozesses der Selbstverwertung des Wertes.
Zum einen bestimmt sich der Wert der Ware Arbeitskraft durch die Frage nach dem, was zu den Bedürfnissen zählt, deren Befriedigung der Lohn ermöglichen soll, mit dem Ziel, die Reproduktion der Arbeitskraft zu ermöglichen. An dieser Stelle vollzieht sich die tendenzielle Reduktion des Menschen auf bloßen Selbsterhalt als Arbeitskraft und Konsument/Warentauscher. Das heißt aber: was eigentlich individuell und selbstbestimmt wäre und darin ein Unbestimmtes als Maßstab hätte, wird durch einen Durchschnittswert bestimmt, in dem Individuen nur als überlebende Behälter des Arbeitskraftvermögens vorkommen. Diese Bestimmung vollzieht sich unter dem Druck der Tendenz des Kapitals, den Wert der Ware Arbeitskraft auf Null zu reduzieren, die das Kapital selbst – mit Hilfe des Staates einerseits aufrecht erhält und andererseits nur durch den Gegendruck der Arbeiter*innen, der wiederum in staatliche Massnahmen einfliesst, abschwächt. Die Bestimmung der Bedürfnisse als Bedürfnisse des biologischen Lebens ist dabei schon das Unvernünftige schlechthin: Heteronomie und Zwang, die damit einhergehen, dass als Norm die biologischen vorgegebenen Gesetze übernommen werden. Der Widerspruch zum Tod, den humanes Leben immer bedeuten muss, wird nur bedingt erbracht. Der Widerstand gegen den Tod, der im Arbeitslohn ausgedrückt ist, der bloss die Reproduktion und den Konsum decken soll, schliesst nur ein Überleben und keinen positiven Wert des Menschen mit ein, da sich dieser nicht verwerten lässt.
Zudem kann Arbeitskraftvermögen nur dann zur Ware werden, wenn Menschen dazu gebracht werden, das von ihnen als lebendige Individuen untrennbare Arbeitskraftvermögen als etwas Trennbares zu behandeln, um es als Ware zu veräußerlichen. Das passiert dadurch, dass sie mit einem Moment des „nackten Lebens“, der Vogelfreiheit, konfrontiert sind: Lassen sie sich nicht zu Behältern der Ware Arbeitskraft zurichten, steht ihr Leben faktisch zur Disposition.
Diese Grundkalkulation ist auch im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Verbreitung von Covid-19 wirksam. Es geht um die Entscheidung, wessen Leben zur Disposition steht oder nicht: Risikogruppen stehen auf der Schwelle zum nackten Leben; Migrant*innen und Obdachlose sind raus. Es geht auch um die Frage, was denn ausser dem Überleben zum Leben gehören darf: Jedenfalls ist eine der Folgen der Einschränkungen des kulturellen und sozialen Lebens, dass man sich als Körper fast überall als Hindernis und Gefahr, als fehl am Platz, betrachten muss. Dass die eigene Präsenz im öffentlichen Raum nur zu Reproduktionszwecken und zu systemrelevanten Arbeiten geduldet wird, verweist wiederum darauf, dass alles, was Leben sonst ausmacht, nicht zum Regime des Überlebens zählt.
Auch dass auf die Krise im Modus des Ausnahmezustands geantwortet wird, zeigt die dünne Trennlinie zum „nackten Leben“. Dass die gegenwärtigen Maßnahmen eine temporäre Suspendierung von vielem, was den bürgerlichen Rechtsstaat ausmacht, bedeuten, deutet allerdings nicht auf eine nahtlose Kontinuität zwischen liberaler Gesellschaft und Faschismus. Vielmehr zeigt sich die eigene konstitutive Ambivalenz des bürgerlichen Rechtes: Es affirmiert real eine gewisse Autonomie der Einzelnen und beruft sich auf Allgemeine Prinzipien, die vor Willkür bewahren, aber es setzt auch immer eine Gewalt voraus, die „aufgespeichert“, „aufgeschoben“, „zerkleinert“ und als möglicher Ausnahmezustand immer anwesend ist. An bestimmten Stellen der Gesellschaft und in bestimmten Situationen bricht diese Gewalt spürbar heraus und kann Versuche regressiver Überwindungen bürgerlicher Gesellschaft einleiten (Scheit).
2. Widerspruch zum negativen Universalismus und zur Spaltung der Gattung
In all dem zeigt die Corona-Krise das, was man die negative Universalität kapitalistischer Vergesellschaftung nennen könnte: sie setzt als das Universale das Erhalten der biologischen „Gattung“ durch antagonistische Prozesse ein. Sie ist dabei eine widersprüchliche Totalität, die nicht trotz, sondern gerade durch Widersprüche vermittelt und in Gang gehalten wird – zuletzt durch den Widerspruch zum humanen Leben.
Dieser Widerspruch ist einmal qualitativer Natur, sofern sie Autonomie, Selbstbestimmung, Menschsein als „nichtidentische“ Individuen verletzt. Einmal quantitativer Art, sofern sie eine reale „Spaltung der Menschheit“ einführt: zwischen denen, die etwas mehr als überleben dürfen, denen, die (auf Abruf) überleben dürfen, und denen, deren Überleben nicht gesichert zu werden braucht. Auch das ist ein Aspekt des schlechthin Unvernünftigen, die Umkehrung des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem: Das Allgemeine wird mit dem animalischen des Überlebens und des Sterben-Könnens identifiziert statt mit Selbstbestimmung und Bewusstsein nichtidentischer Individuen; das Besondere hingegen wird mit der Partikularität antagonistischer Zwangskollektive und nicht mit der individuellen Unreduzierbarkeit identifiziert. Diese Widersprüche spitzen sich jetzt angesichts einer äußeren Störung zu und treten offener zu Tage.
So verweisen alle Fragen, die gerade im Zusammenhang mit der Corona-Krise stehen (Stärkung des Gesundheitssystems, Bedürfnisorientierung der Produktion, Wohnraum für alle, Einkommen jenseits von Arbeit) auf die eine Frage, was gesellschaftlich zum Leben des Menschen gezählt werden soll. Das aber ist das eigentliche Anliegen von dem, was „Klassenkampf“ genannt wurde. Dabei geht es nicht darum, das eine oder andere zusätzlich zum Überleben-Dürfen abzuverlangen, sondern um die Sprengung der Rechnung und die Aufhebung der Positionierung. Maßstab des Klassenkampfes ist dann eher das operaistische „wir wollen alles!“, die „Selbstbestimmung der Bedürfnisse“ (Marcuse), die „Unmäßigkeit“ als Maßstab (Virno), Fishers „Red Plenty, […] die kollektive Fähigkeit zu erzeugen, sich gegenseitig zu kümmern, zu genießen“. In diesem Sinne wäre auch einem Badiou recht zu geben: Es geht darum, sich von der letztlich nihilistischen Reduktion auf animalisches Leben zu befreien und sich als „Subjekte der Wahrheit(en)“ artikulieren zu können – Subjekte der Liebe, Politik, Kunst.
Oder: es geht darum, Foucaults Subjekt der Überschreitung zu ermöglichen, dem es nicht darum geht „eine verlorene Identität widerherzustellen, unsere gefangen gehaltene Natur“, sondern „sich auf etwas komplett anderes hinzubewegen […] etwas hervorbringen, dass noch nicht existiert und von dem wir nicht wissen können, wie und was es sein wird“. Diese Wortmeldungen stimmen, wenn sie in einer praktischen Kritik gesellschaftlicher Totalität verortet werden und nicht zum Ersatzprogramm verkommen: aktivistischer Ergriffenheit oder Selbstexperiment als Kompensation von gesellschaftlicher Ohnmacht. Und: wenn dabei nicht vergessen wird, dass gerade das Leid des „quälbaren Leibes“ der Einzelnen die Voraussetzung schlechthin ist, um die Widersprüchlickeit einer durch Gewalt erzeugten negativen Totalität zum Gegenstand der Kritik zu machen (Scheit).
Angesichts des negativen Universalismus des Kapitals wird auch deutlich, dass emanzipatorische Kämpfe – fern ab davon, untereinander in Konkurrenz zu stehen – sich aber weder einfach addieren, noch sich alle irgendwie unter Arbeitskämpfe subsumieren lassen. Vielmehr wirken sie immer gemeinsam gegen die Reduktion auf Überleben oder die Verdrängung ins nackte Leben – auch ohne direkten Bezug zu Arbeit. Gerade unter Corona-Bedingungen ist das Zusammenspiel der Kämpfe gegen die Verdrängung ins „nackte Leben“ (Migrant*innen) für die Befreiung von Kunst oder Wissenschaft von den Maßstäben der Verwertung, für Lebensformen in radikaler Nichtidentität zusammen mit den unmittelbaren sozialen Kämpfe für Lohn, Wohnen, Gesundheit, Reproduktion zu denken. Das ginge aber nicht ohne die Frage nach dem Hervorkommen politischer Subjekte zu stellen: Subjekte, die auf eine andere mögliche Verfassung der Welt, als jene deren Grundrechnung um die Unterscheidung Überleben-Nacktes Leben kreist, ausgreifen.
Es ginge um den Widerspruch gegen Nihilismus und Fatalismus, die dazu führen, die Katastrophe, die sich im Alltag, in den Körpern und Psychen reproduziert, als Gegebenes anzunehmen. In guter apokalyptischer Manier.
G. Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002.
G. Agamben: Jenseits der Menschenrechte. In: ‚Subtropen‘ Beilage zur Jungle World Nr. 28/01.
G. Agamben: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2004.
W. Benjamin: Gesammelte Werke. Hrsg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Bd.I/2, Frankfurt am Main 1991.
M. Dahlman: Einheit in der Trennung, [https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/dahlmann-einheit-trennung/]
M. Fisher: K-Punk, Berlin 2020
M. Foucault: Gespräch mit Ducio Trombadori, in: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV: 1980-1988, Frankfurt am Main 1005.
H. Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Siegmund Freud. Frankfurt am Main 1978.
G. Scheit: Abstraktion und Gewalt. Einige Thesen über die Realität von Kapital und Staat, [https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/scheit-abstraktion-gewalt/]
G. Scheit: Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno, Freiburg 2011.
G. Scheit: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg 2004
Th. Seibert, Humanismus nach dem Tod des Menschen. Flucht und Rückkehr des subjektiven Faktors der Geschichte, PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft, 42(167).
P. Virno, Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, Berlin 2005.