«Fürchtet euch nicht!» Erzengel Gabriel
Vorbemerkung
Dieser Essay erörtert die Grundlagen der existentiellen Angst der Menschen in konkurrenzgetriebenen Gesellschaften; verursacht durch die im Kapitalismus an alle Menschen herangetragene masslose Forderung nach Leistung vor Anerkennung.
Die Ängste ernst nehmen?
Nicht selten liest man bei politischen Analysten Sätze wie: Ängste werden instrumentalisiert und geschürt oder es wurde aus den Ängsten Kapital geschlagen usw. Gekontert werden diese üblicherweise mit dem Satz: Man müsse eben die Ängste der Leute ernst nehmen, was Ersteren wiederum gerade als Beweis für die Instrumentalisierung der Ängste erscheint. So wichtig es ist, die Kritik der politischen Instrumentalisierung der Gefühle immer neu und vehement zu führen, so unverzichtbar ist das Augenmerk auf das, was die Instrumentalisierung erst ermöglicht, und das bedeutet, dass man die Ängste, wo sie auftreten, trotz allem zuallererst ernst nimmt. Ich gehe von folgender Prämisse aus: Wo keine Ängste sind, kann nichts instrumentalisiert werden. Und nur wo sich gute Gründe (bzw. Abgründe) finden für Ängste, kann nachhaltig verängstigt werden.
Die Ängste ernst zu nehmen bedingt einen realistischen Begriff von Angst. Aber meist ist dieser in der Alltags- oder Schulbuchpsychologie einerseits funktionalistisch verkürzt und andererseits werden im politischen Diskurs Ängste oft nur in ihrer phantasierten Ableitungen wahrgenommen. Denn genauso wie wir heute davon ausgehen, dass wer Schmerz empfindet, auch Schmerzen hat und daher Schmerz im umfassenden Sinn – bis und mit Fussballer Neymar als äusserstem Grenzfall – nicht simuliert werden kann, müssen wir davon ausgehen, dass Ängste, selbst sogenannt phantasierte, sich letztlich auf reale Ursachen beziehen. Und genauso wie es zwar ihre ständige Versuchung, aber nicht das Recht der Gesellschaft ist, die Schmerzpatienten für die vermeintlichen Ursachen ihrer Schmerzen zu tadeln, so ist auch das politische Urteil immer versucht, den sich ängstigenden Menschen die Realität der Ursachen abzusprechen anstatt mit ihnen zusammen Formen der Therapie beziehungsweise des befreienden Denkens und Handelns zu entwickeln.
Im politischen Urteil ist der Begriff der Ängste dann ideologisch verengt, wenn diese als reine Massenphänomene verstanden und nur mit den Begriffen der Massenpsychologie zu fassen versucht werden. Fokussiert wird gerne auf die sympathetische und performative Eigenschaft der Ängste. Weil Angst in Gruppen stark ansteckend ist und auch durch Darstellungen und Propaganda erzeugt werden kann, ist die These von der Angstmacherei und der Instrumentalisierung, die sich einer weiteren Analyse der Situation enthebt, schnell zur Hand. Komplementär zur politischen Verengung der Angst verhält sich der bis in die Psychologieschulbücher weit verbreitete evolutionstheoretische Funktionalismus der Ängste, nämlich die Idee, dass Ängste immer einen persönlichen Nutzen haben indem sie reale, äussere Gefahren anzeigen und also wieder verschwinden, sobald sich eine Gefahr verzogen oder als harmlos erwiesen hat. Jedoch selbst wo Angst eine Signal-Funktion erfüllt, was mitnichten immer der Fall ist, bleibt sie im Erleben doch gänzlich dysfunktional.
Problematisch daran ist: Mit diesem doppelt verkürzten Angstbegriff vermindern sich die politischen Optionen angesichts angstbesetzter Haltungen und Handlungen auf die Verurteilung der Angstmacher einerseits und die rationale Aufklärung der Angsthasen andererseits. Oder anders gesagt: Wo immer Angst ein politischer Faktor im gegnerischen Lager ist, wird versucht, die Führer dieses Lagers als Angstmacher und Nutzniesser zu verurteilen und den vermeintlich verängstigten Leuten Argumentarien zu liefern, die zeigen, dass ihre Ängste unbegründet sind. Auch wenn beides im politischen Feld natürlich immer geboten ist, lassen sich Ängste zumal, wo sie bereits in Form von Dämonen und Sündenböcken plakatiert und verkörpert sind, damit nicht *nachhaltig* aus der Welt zu schaffen.
Wer hat Angst warum?
Dem Liberalismus fehlt die Einsicht, dass Argumente im affektiven Bereich im Ernstfall erschreckend wenig nützen, ja keineswegs. Nicht ohne Grund setzen die Verwaltungen des New Public Management gerne auf Konditionierung statt Aufklärung. Aber es ist gerade diese dem liberalen Menschenbild entnommene starke Verkürzung der menschlichen Psyche auf empirisch steuerbare Verhaltenspsychologie, die sich soviel besser eignet für die eilige politische Analyse als psychoanalytische Ansätze, die Affekte nicht bloss als allgemeine, natürliche Funktionen, die von aussen manipuliert werden können, sondern vor allem als spezifische Symptome einzelner Individuen und deren Schicksale deuten. Und das führt dazu, dass Fragen wie die folgenden höchstens individuell, aber kaum je auch politisch-gesellschaftlich beantwortet werden: Wer neigt in welchen Lebenslagen zu welchen Ängsten? Warum, wenn es so einfach ist, Ängste zu entfachen, kann man in der Linken nicht dieselben Ängste schüren wie in der Rechten? Folgt daraus nur, dass die Rechten falsch liegen oder auch, dass sie auf bestimmte vorhandene Ängste eine für viele offenbar durchaus nützliche Antwort bieten? Und wenn es so wäre, dann müsste man fragen, warum diejenigen, die solche Ängste haben, keinen Zugang zur Linken finden? Ist man vielleicht weniger aus ethischen oder rationalen Gründen links, sondern vielmehr, weil man andere oder weniger Ängste hat als andere? Hat man also nicht weniger Angst, weil man links ist, sondern kann man nur links sein, wenn man weniger Angst hat? Wie und wo muss man aufwachsen, damit man weniger Angst hat? Wie muss man arbeiten, damit man weniger Angst hat? Worin unterscheiden sich linke und rechte Angstpolitik?
Es sind eher Fragen von solcher Art, aus denen ein politisches Urteil mit realistischem Einbezug der immer von Selbstzerstörung bedrohten Gattungsgeschichte erwachsen kann: Zum Beispiel Immanuel Kants Begriff der subjektiven Allgemeinheit, wie er sie in der Kritik der Urteilskraft formuliert mit der Betonung der Wichtigkeit des mit den Affekten verbundenen Geschmacksurteils gegenüber dem wissenschaftlichen und dem moralischen Urteil oder Walter Benjamins Begriff der faschistischen Bewegung als ästhetische und affektive Bewegung oder Hannah Arendts und Franz Neumanns Analyse des Faschismus als Bewegung des Staatszerfalls bzw. als Aufhebung des Gesellschaftsvertrags im Hobbeschen Sinne durch von Angst und Schrecken geformte
, Angst und Schrecken verbreitende Rackets oder schliesslich Klaus Heinrichs Faschismusanalyse als eine Ängste lustvoll evozierende und zugleich bannende Sog-Bewegung. Denn letztlich geht es darum, inwiefern ein differenzierter Angstbegriff eine Hilfe ist, die radikale Rechte einzudämmen und welche der bisherigen Strategien – angefangen bei der larmoyanten Ignoranz des Bürgertums bis zum vulgären Antifaschismus – entsprechend zu kritisieren wären, wenn sie wider besseres historisches Wissen suggerieren, der Faschismus sei reine Demagogie, Befall des Bösen von aussen und stelle nicht ein durch existentielle Ängste gespiesenes immer vorhandenes Potential aller kapitalistisch-technizistischen Gesellschaften dar.
Der innere Argumenteschmied
Zu erinnern ist zunächst an die mythologisch-theologisch-psychoanalytische Binsenweisheit der wechselseitigen Beeinflussung von Denken und Fühlen, die beispielsweise Freud im Ersten Weltkrieg – zutiefst erschreckt durch die schiere Plötzlichkeit der Ersetzung rationaler Vernünftigkeit durch nationale Raserei in seinem engsten Umfeld – entwickelte: das Denken leitet das Fühlen, das Fühlen bindet das Denken. Das bedeutet, nur jenes Denken, das affektiv verankert wird, ist in aussergewöhnlichen Situationen in der Lage, die Gefühle zu leiten, zu mässigen, zu regulieren bzw. sie zu intensivieren.
Ängste, wo sie wirklich manifest werden, setzen zwar automatisch auch das Denken als eine Art Praxis der Linderung in Gang, gedacht wird in solchen Situationen aber, was durch Gewohnheit affektiv gebunden und vorgebildet ist. Simone Weil nannte es den inneren Argumenteschmied. Und dieser schmiedet das Eisen nur zu einem kleineren Teil mit Ideen an sich (wenn es anders wäre, würde jegliche Propaganda verfangen, was bei weitem nicht der Fall ist), sondern nur mit jenen, die affektiv gebunden werden können, also mit solchen, die ein Mensch für sich als nützlich ansieht. Nützlich ist angesichts der Angst aber nur, was einerseits die Berechtigung der Ängste rechtfertigt und andererseits eine Lösung verspricht, die eine gewisse Kontinuität garantiert und keine grosse Veränderung abverlangt.
Es fordert aber die kapitalistische, konkurrenzgetriebene Gesellschaft permanent gerade Letzteres von allen. Aber auch die Linke tut dies dort, wo sie sich dem Mantra der stetigen Verpflichtung zur Neuerfindung der Menschen verschreibt – mit dem Unterschied, dass sie sich aus dem liberalen Dogma, dass man nämlich die Menschen nur durch harte Konkurrenz zu Veränderung und Innovation bringen kann, elegant herausstiehlt, indem sie einfach davon ausgeht, dass stetige Neugier und Lernwille die Menschen von innen dazu drängt, immer alles Alte aufzugeben und zu neuen Ufern aufzubrechen und dass sie, wo das nicht der Fall ist, böswillig in die Irre geführt worden sind. In den Lehr- und Lerntheorien der letzten 50 Jahre fehlt es nicht an entsprechenden Überlegungen. Exemplarisch sei hier aber eine Passage von Gilles Deleuze zitiert, die sehr präzise und antizipierend das Problem der neuen Linken ausdrückt, das sich aus ihrem, die Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz missachtenden Fortschrittsbegriff ergibt: «Aber welcher revolutionäre Weg? Ist überhaupt einer vorhanden? – Sich wie Samir Amin es den Ländern der Dritten Welt rät, vom Weltmarkt zurückzuziehen, in einer eigentümlichen Wiederaufnahme der ‘faschistischen ökonomischen Lösung’? Oder den umgekehrten Weg einschlagen? Das heisst mit noch mehr Verve in die Bewegung des Marktes, der Decodierung und der Deterritorialisierung stürzen? Denn vielleicht sind die Ströme aus der Perspektive einer Theorie und Praxis der zutiefst schizophrenen Ströme noch zu wenig decodiert und deterritorialisiert? Nicht vom Prozess sich abwenden, sondern unaufhaltsam weiter gehen, ‘den Prozess beschleunigen’, wie Nietzsche sagte: wahrlich in dieser Sache haben wir noch zu wenig gesehen.» Das Fatale an der hier polemisch-zynisch vorgeschlagen Lösung ist, dass sie die Gefahr des Faschismus genauso in sich trägt wie der «Rückzug vom Weltmarkt». Der Sprung in die unaufhaltsame Bewegung des reissenden Stromes bedeutet ja nichts anderes als die auf Selbstauslöschung zielende Lust an der Teilhabe eines übermächtigen Ganzen. Nicht umsonst nannte sich der Nationalsozialismus gerne einfach «die Bewegung». Es ist das Umschlagen einer positiven Zukunftserwartung in eine in sich leerlaufende Bewegung an sich – ein Merkmal jeder Sucht wie auch des Wachstumsautomatismus der kapitalistischen Ökonomie.
Beide Menschenbilder, das negative des ökonomischen Liberalismus und das positive des Linksliberalismus, missachten die widerstrebenden Grundlagen der menschlichen Existenz und bilden so einen guten Nährboden für die Angst. Das Menschenbild der Rechten hingegen ist das Resultat dieser Angst.
Ein Ausweg aus dieser Zwickmühle wäre der Realismus der psychoanalytischen Theoriebildung und jener der kognitiven Entwicklungstheorie wie sie etwa der Schweizer Jean Piaget entwickelt hat. Beide betonen die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Organismus und bewerten sie grundsätzlich positiv, aber sie schätzen sie trotzdem nüchtern ein als eine immer wieder mit grosser Mühe anzupackende Überwindungsleistung gegenläufiger Strebungen. Sollen nicht Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und Angst daraus resultieren, muss das Ziel eine prekäre Balance zwischen Beharren und Anpassen sein oder auch zwischen Regressionswunsch und Progressionsforderung. Denn die Schwäche der Aufklärung, die sich angesichts der aktuellen Angstpolitik und des Scheiterns von wirksamen Gegenstrategien offenbart, muss nicht als Fehler der Vernunft begriffen werden, sondern als Problem einer Anthropologie, die weder mit der Schwäche der menschlichen Vernunft, noch mit ihrer kontrapunktischen Verfassung rechnet. Um aber Vorschläge machen zu können für die politische Kunst, den Menschen angesichts ihrer Gefühlslagen nicht nur die richtigen Gedanken zu zeigen, sondern ihnen vielmehr beizustehen, wenn sie sich ängstigen und vor allem bevor sie sich ängstigen, möchte ich einen Blick auf die spezifischen Ängste und ihre Bewirtschaftung in der kapitalistischen Gegenwart werfen.
Die Ängste im Kapitalismus
Im Buch «Eure Heimat ist unser Alptraum» schreibt die Herausgeberin Fatma Aydemir über den sprichwörtlichen Fleiss ihrer als Migrantenkinder nach Deutschland gekommenen Eltern: «Fleiss wird uns schon in der Grundschule als positive Eigenschaft gelehrt. Doch diese positive Konnotation verschleiert die häufigste Ursache, die aus ArbeiterInnen, fleissige ArbeiterInnen macht: Existenzangst. Sie ist immer da, auch wenn sie irgendwann nicht mehr rational begründet ist. Alle Arbeiterfamilien kennen das. (…) Doch womit deutsche KollegInnen nicht leben müssen, sind rassistische Anfeindungen, strukturelle Diskriminierungen und den Verlust des Aufenthaltsstatus beziehungsweise die permanente Angst davor.» (Aydemir 2019, 27)
In einer Spiegelkolumne zum Buch schreibt Aydemir: «Ich will nicht die Jobs, die für mich vorgesehen sind, sondern die, die Deutschen für sich reservieren wollen – mit der gleichen Bezahlung, den gleichen Konditionen und den gleichen Aufstiegschancen. Mein German Dream ist, dass wir uns alle endlich das nehmen können, was uns zusteht – und zwar ohne, dass wir daran zugrunde gehen.»
Vielleicht mehr als von der Autorin beabsichtigt, geben diese beiden kurzen Ausschnitte, zuerst explizit und dann implizit, einen präzisen Einblick in das Problem der Ängste in unseren westlichen kapitalistischen Gesellschaften. Erstens die Existenzangst, die im Prekariat Alltag ist und einerseits in der Gesellschaft in Form von Mitleid und bezahlten Unterstützungsangeboten offiziell anerkannt und andererseits in Form von strukturellen Diskriminierungen wieder bestritten wird. Von dorther greift sie diskursiv um sich in die etwas sichereren Berufe, weil diese stets von Restrukturierungsmassnahmen betroffen sein können und wo obendrein jeder weiss, dass es die Älteren und schlechter Ausgebildeten sind, die es schneller trifft, bis hin zu jenen auch in sogenannt sicheren Berufen verbreiteten Ängsten vor Kündigung oder anderen Nachteilen, die selbst, wenn sie von aussen völlig irrational erscheinen, noch so wirksam sind, dass sie so viele daran hindern, sich am Arbeitsplatz auch nur für die kleinsten Dinge zu wehren. Kommen hinzu die spezifischen Ängste, denen sich spezifische Gruppen, vor allem MigrantInnen, ausgesetzt sehen und die einmal personelle, einmal strukturelle Ursachen haben können und vor denen sie auf keiner gesellschaftlichen Stufe ganz gefeit sind. Das heisst, man kann sagen, die Angst besteht in kapitalistischen Arbeitssystemen darin, dass man plötzlich nicht mehr leben kann von dem, was man kann oder dass das, was man kann, nirgends gefragt ist oder man es nicht ausüben darf.
Ironisch zwar, aber zugleich ambitioniert-kämpferisch bringt Aydemir im zweiten Zitat die einzige wirkliche Massnahme zur Sprache, die die liberale Gesellschaft diesen Ängsten entgegenzusetzen weiss: die Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit. Sie besteht darin, die bestehende Gesellschaft so einzurichten, dass alle dürfen, was sie können. Aber versprochen werden damit keine realen Güter, sondern nur Chancen, was eine Doublette von tiefsitzenden Ängsten nach sich zieht. Da ist erstens die Angst, die Kierkegaard schon bei Adam im Paradies analysiert hat, die Unschuld zu verlieren angesichts der plötzlich auftauchenden Möglichkeiten. Wird die Angst, beim Übertreten eines Verbots in der Regel noch durch das Gefühl der Befreiung kompensiert, sitzt einem beim Nichtergreifen einer sich bietenden Möglichkeit die Angst vor Gefühlen der Feigheit, des Fatalismus, des unwiederbringlichen Verlusts usw. stark im Nacken. Zwar von aussen besehen harmlos, aber für die Konstruktion des eigenen Selbstbildes nicht zu unterschätzen sind im Leben von Jugendlichen jene zahlreichen Momente, in denen ihnen klar wird, dass der Zug, einmal Fussball- oder Filmstar zu werden, bereits unerbittlich abgefahren ist. Die zweite Angst ist noch schwieriger zu bewältigen. Ihre Ursache besteht kurz gesagt in der Erfahrung, dass man darf, aber nicht kann. Zunächst gehört diese Erfahrung zusammen mit dem Lernprozess, einen Umgang mit dem eigenen Unvermögen zu finden, einfach zum Aufwachsen dazu. Sie ist bei Sigmund Freud, Melanie Klein u.a. beschrieben als ein spannungs- und schmerzvolles Wechselspiel zwischen Eltern und Kind in dem Verbot, Entsagung und Trauer einerseits und Solidarität und Versprechen andererseits erfahren werden müssen. Jedoch bekommt dieser an sich schon schwierige Lernprozess eine beängstigende Zuspitzung in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, deren Ideologie, der Liberalismus, letztlich keine anderen Indikatoren für Wertschätzung, Sicherheit und Anerkennung als die sogenannte eigene Leistung gelten lassen will. Denn die Gesellschaft, so Adorno in seinem berühmten Vortrag Erziehung nach Auschwitz, «beruht nicht, wie seit Aristoteles ideologisch unterstellt wurde, auf Anziehung, auf Attraktion, sondern auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen. Das hat im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein sich niedergeschlagen. Was dem widerspricht, der Herdentrieb der sogenannten lonely crowd, der einsamen Menge, ist eine Reaktion darauf, ein Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können. Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zuwenig geliebt, weil jeder zuwenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können.»
Die ultimative Drohung
Gerade die auch von der Linken oft genug mitgetragene Reduzierung der Gleichheitsforderung auf die Chancengleichheit trägt nicht nur zur allmählichen Schwächung anderer, umfassender Gerechtigkeitsforderungen bei, sondern sie betreibt auch die Rückkehr von Wille und Begabung als herausragende Mittel zur Daseinsberechtigung. Nietzsches Wille zur Macht ist der Chancengesellschaft jedenfalls näher als Lessings Lehre von der Erziehung des Menschengeschlechts. Und gleicht die reine Chancengesellschaft nicht auch jener beklemmenden Festgesellschaft aus dem Matthäusevangelium, auf der der König zum Exempel denjenigen, der ohne festliches Kleid zugegen war, fesseln und in die äusserste Finsternis werfen liess, ausrichtend, dass zwar viele berufen, aber nur wenige auserwählt seien? Das ist nämlich die ultimative Drohung vor der man sich ängstigen muss im Kapitalismus, dass man selber schuld zu sein hat an einem Schicksal, das objektiv unvermeidlich ist.
Nun ist die Situation dessen, der darf wie alle, aber fühlt, dass er eigentlich nicht kann wie die anderen, ziemlich verschieden von dem der fühlt, dass er könnte wie die anderen, wenn er nur dürfte. Meist ist jener materiell und sozial bessergestellt als dieser, was jedoch die Angst betrifft liegen die Verhältnisse komplizierter. Die Gefühle derjenigen, denen die Teilhabe aufgrund ihres Soseins verweigert wird, sind oft von Wut und erlittenem Unrecht geprägt. Sie haben aber, wenn auch oft nicht das Recht, so doch die Gerechtigkeit auf ihrer Seite. Es ist daher einfacher im Kampf gegen die Unmöglichkeit des Vermögens ein positives Selbstbild zu stabilisieren, als im Kampf gegen die Möglichkeit des Unvermögens, dem in der Leistungsgesellschaft schlicht die Legitimität fehlt.
Auch wenn der Einsatz für eigene Rechte und Zugänge ebenfalls in Angst vor Sinnlosigkeit, Scheitern und Frustration umschlagen kann, so sind dies doch eher potentielle als manifeste Ängste. Denn dieses haben der Liberalismus als Kapitalismus und die Linke gemeinsam, dass es ihnen ihre enge Bindung an den Fortschrittsautomatismus bzw. das Erneuerungspathos erlaubt, sich von Wunsch, Hoffnung und Erwartung leiten zu lassen , während die reaktionäre Rechte im Prinzip auf der Basis von bereits in Ängste umgeschlagenen Hoffnungen und Wünschen agiert.
Für diese Art Ängste sind freilich jene, die in der Veränderung Erfolg erfahren haben, nicht anfällig. Daher laufen das Fortschrittsmantra der sogenannten Eliten und die affektiven Bedürfnisse der potentiellen Globalisierungsverlierer derart stark auseinander. Denn wie Sigrun Anselm in ihrem wegweisenden Buch «Angst und Solidarität» (Anselm 1985) in der kritischen Auseinandersetzung mit Sigmund Freud und Melanie Klein herausarbeitet, besteht bei den meisten Ängsten ein starker Zusammenhang zu unerfüllten bzw. abgewürgten Wünschen. Wenn das versagte bzw. unerfüllte Wunschobjekt nicht als Widerspruch im eigenen Innern gehalten werden kann, indem man zum Beispiel, was man nicht haben kann, weiterhin positiv besetzt, was eine bestimmte Ich-Stärke voraussetzen würde, spaltet man es von sich ab, verlagert es als etwas rein Negatives nach aussen, projiziert es in andere hinein, von wo es einem im Extremfall als dämonisch-verfolgendes Objekt wieder heimsucht.
Antikapitalismus und Hass auf die Linke
Das Problem der Dämonisierungen in der Gesellschaft kann von daher in Analogie zur Individualpsychologie verstanden werden als etwas, das entsteht, wenn das, was ängstigt, nicht in mitten der Gesellschaft gehalten werden kann bzw. in der Öffentlichkeit nicht angemessen diskutiert oder nicht in seiner Zweideutigkeit von gleichzeitig Gut und Böse symbolisiert werden kann. Der Harmonieglaube des liberalen Bürgertums und der Purismus der Vernünftigkeit einer verengten Aufklärung können die Zweideutigkeiten ihrer Fundamente nicht vermitteln. Letzterer muss mit Bruch und Spaltung, Ersterer in der Verdrängung die Erhaltung ihres auf Reinheit erpichten Prinzips betreiben. Das bedeutet, dass weder das Bürgertum noch die Lehre der reinen Vernunft dialektische Begriffe des Fortschritts, der Angst, des Liberalismus usw. auf Dauer entwickeln können.
Und darin liegt auch der psychologische Grund, weshalb sich Antikapitalismus und Hass auf die Linke in der Rechten – im Nationalsozialismus genauso wie in den rechtspopulistischen Parteien – immer vermischen und doch im entscheidenden Augenblick wieder auseinandergehen. Denn den Pakt mit der Kapitalistenklasse schliesst die populistische Rechte weniger aus rationaler Erwägung, sondern vielmehr, weil es dem Wunsch der sich Ängstigenden entspricht, sich an die Starken zu lehnen und mit dem Sieger zu rufen. Die Angst vor der im kommunistischen Manifest benannten «fortwährenden Umwälzung der Produktion» wird daher im Pakt mit den Kapitalisten gewissermassen als Kompensationsleistung für die Siegkraft, die man von ihnen zu bekommen glaubt, verdrängt. Hingegen rückt die Angst vor «der ununterbrochenen Erschütterung aller gesellschaftlicher Zustände, der ewigen Unsicherheit und Bewegung sowie das Verdampfen alles Ständischen und Heiligen» wie es im Kommunistischen Manifest weiter heisst umso mehr in den Fokus und wird den als «Kulturmarxisten» diffamierten Linken, den Intellektuellen oder einfach der Elite, angelastet. Es ist schliesslich gerade diese doppelte Praxis von Verdrängung und Projektion, die verrät, woraus jene grosse Angst der Rechten, die sich als Aggression gegen andere richtet, kommt: aus dem Verrat am eigenen Wunsch nach versöhnter Existenzsicherung, die im Pakt mit dem Kapital nicht sein kann und daher auch nicht sein darf. Noch wo die Rechte quasi antikapitalistisch agiert, etwa in einer bestimmten Art und Weise, wie sie den Kampf gegen Welthandel und nationale wie individuelle Souveränitätsverluste führt, fordert das verinnerlichte Sieger- und Konkurrenzprinzip seinen Tribut.
Im Gegensatz zum zwar genauso zweideutigen Globalisierungsnarrativ des Linksliberalismus, wo immerhin der illusionäre Wunsch nach universaler Vermittlung und Versöhnung noch aufrecht erhalten werden kann, hat ein solcher in der rechten Souveränitätsidee als Autonomiewahn von Anfang an keinen Platz, insofern eine solche Souveränität ohne Feindschaft gegen Abhängigkeiten und deren vermeintliche Verursacher – die sogenannten Schwachen und Verlierer – nicht gedacht werden kann. Nicht zufällig wird die emphatische Aufladung des Identitätsbegriffs in der Rechten gewissermassen zum Versöhnungsersatz; erlaubt dieser doch den fundamentalen Bruch des autonomen Subjekts zwischen sich und der Welt im unbedingten Anschluss an eine Gruppe aufzuheben – freilich wiederum nur um den Preis der Bekämpfung und Abdichtung gegen alles andere. (Dagegen nun einfach das Nicht-Identische aufzubieten und damit die Lücke, die hinter dem Wunsch nach Identität klafft, zu ignorieren, ist genauso problematisch, liegt doch die Aufgabe der Individuation gerade in der Balancierung der Spannung zwischen Identitätswunsch und Nicht-Identitätsanerkennung.) Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die jeder Vernunft spottende und in den USA und in Brasilien am krassesten zu beobachtende Allianz von fundamentalistischen AbtreibungsgegnerInnen mit den Ultraliberalen. Tritt hier nicht auch die dogmatische Verabsolutierung des Lebens als die notwendige, weil entschuldende Kompensation zur fundamentalen Aufhebung aller Existenzrechte im Ultraliberalismus auf den Plan?
Grössenwahn und Selbstgerechtigkeit
Die heutige Nähe von Teilen der Linken zu einer Politik der Angst wie sie sich etwa in den Klima- und Rechtspopulismusdebatten zeigt, legt ihren uneingestandenen Verrat an der Erwartung einer versöhnten Existenz bloss, an einem Leben in dem die Befreiung aus den Abhängigkeiten von Herkunft, Familie und Geschlecht noch anders als durch Unabhängigkeit qua Erfolg und Vermögen (Ausstieg nur durch Aufstieg) gedacht werden kann. Aber sind nicht die schwarzmalerischsten Analysen und Drohungen der Linken letztlich von derselben Lust nach der befreienden Kraft des Bösen getrieben wie die Tiraden der Rechten? Wo die internationale Rechte in der Tradition des Marquis de Sade dem bösen Buben Trump in einer Ekstase der moralbefreiten Selbstrechtfertigung zuruft: «Nur, weil du böse bist, kann ich dich lieben!» fühlt sich eine sich radikal gebende Linke, je böser sie über seine Anhänger spricht, vom schlechten Gewissen befreit, das sich normalerweise bei der Verachtung des Kleinbürgertums meldet. Und es sind ja mehrheitlich Kleinbürger, die die Rechtpopulisten wählen. Trump zum Beispiel ist, wie die NZZ nach seiner Wahl feststellte, der «König der Provinz». Die Provinziellen sehen in Trump sich wirklich repräsentiert, weil er im Weissen Haus das tut, was sie sonst nur in ihren zwar an der Welt angeschlossenen, aber doch so isolierten und mit hohen Hypotheken belasteten Häusern tun können: Zu allem eine Meinung haben und es/ES irgendwie den anderen zeigen. Jeden Tag übers Netz mit der grossen Welt zu kommunizieren, neben Obama und Putin, beim IS und an der Wallstreet zu sitzen und zu spüren, dass man diesen Welten in keiner Weise entspricht und ihr nichts als die eigene Meinung entgegensetzen kann, ist schwer erträglich. Trumps Slogan «Make America great again» hört sich zwar für kosmopolitische Städter nur an wie ein Rückruf in den kleinlichen Nationalismus, den grössenwahnsinnigen Imperialismus oder wie die Zerstörung der Weltgemeinschaft. Doch wo täglich die Globalisierung mit der Begrenzung des eigenen Horizonts durch Zerfall der staatlichen Infrastruktur, des öffentlichen Lebens und des Bildungssystems zusammenfällt, klingt «Make America great again» nicht nur fremdenfeindlich oder engstirnig, sondern als die einzige zur Verfügung stehende Vision zur Vergrösserung der eigenen, klein gewordenen Welt.
Ihr Hass auf die sogenannte Elite meint vielleicht auch nicht wirklich die Elite, sondern vor allem diejenigen, die man noch an ihren eigenen moralischen und theoretischen Ansprüchen messen kann: die sozialistische Linke und traditionelle Religionsgemeinschaften. Er kann gelesen werden als enttäuschter und daher in Ablehnung umgeschlagener Schrei nach Anerkennung, nach geliebt werden von denen, die das Gute repräsentieren. Das Gefühl der verweigerten Anerkennung, das selbstverständlich auch immer eine durch Kränkungs- und Erniedrigungserfahrungen aus der frühen Kindheit beförderte Imagination darstellt, findet seine strukturelle Nahrung auch in der stetigen Entindustrialisierung, Entinstitutionalisierung und Entkulturalisierung der Täler und Provinzen, seine psychologische aber vor allem in der moralischen Unnachgiebigkeit dieser Eliten gegen das Beharren der Leute auf ihren alten Gewohnheiten und kleinen Bösartigkeiten, die als Abwehrreflex zuerst automatisch und allmählich trotzig als identitätsstiftend wahrgenommen werden. Es ist und war an bestimmten symbolischen Scheidewegen immer das Elend der «Aufgeklärten», dass ihnen das eigene Schuldbewusstsein fehlte, um der Schuld der Aufzuklärenden mit Geduld und Nachsicht zu begegnen. Denn fast vergessen ist jenes christliche Prinzip, das es als Erbe zu verteidigen gälte, dass niemand gut sein kann, der in seiner Schwäche keine Gnade erfährt. Am sogenannten «moralischen Versagen der liberalen Eliten» ist, wo es denn vorläge, selten die Moral und ihre Forderungen schuld, vielmehr die Selbstgerechtigkeit ihrer Repräsentanten oder anders gesagt die Missachtung der Zweideutigkeiten auf der sie stehen und auf die sie treffen. Darum wird der elitäre, stinkreiche Trump im Reflex der Enttäuschung angerufen, weil er wie kein anderer eine zerstörte Moral repräsentiert und es, indem er von den negativ besetzten Forderungen befreit, vermeintlich ehrlich meinen muss.
Konkurrenzprinzip und Opferlogik
Der Schlüssel, um das Destruktionspotential der Angst zu verstehen, ist die Erfahrung von Ohnmacht und Schwäche. Sie zwingt die Menschen leicht in die Alternative von Selbst- oder Fremdzerstörung, wo man nur noch entweder herrschen oder sterben will. Aber dieses fatale Entweder-oder stellt sich nur ein, wo die Erfahrung der Ohnmacht nicht durch Erfahrungen der Anerkennung oder der Liebe, kurz des fraglosen Angenommenseins kompensiert wird. Wie im Anschluss an Freuds Ödipusmodell gezeigt werden kann, müssen die Eltern dem Kind, das durch die elterlichen Forderungen zur Aufgabe seiner Wünsche gezwungen wird und darob sich aggressiv zur Wehr setzt, in seiner Not solidarisch beistehen um es – ohne die Forderung zurück zunehmen – aus der Aggression heraus in die Phase der Trauer und der Modifizierung der Wünsche hinein zu führen. Wird die Forderung aufgegeben, bleibt dem Kind als Modell nur die Allmachtsvorstellung der eigenen Wünsche und die Aggression, diese durchzusetzen. Wird die elterliche Forderung aber ohne Solidarität mit der Schwäche des Kindes aufrechterhalten, nimmt man ihm die Erfahrung des Angenommenseins bzw. einer unbedingten Existenzberechtigung gerade im Moment der Schwäche und es wird modellhaft in jenes zerstörerische Entweder-oder von Siegen oder Verschwinden, Verdrängung der anderen oder Selbstauslöschung usw. gezwungen. Exakt diese Erfahrung wiederholt sich in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft immer aufs Neue. Je mehr das Konkurrenzprinzip durch die immer vollständigere Landnahme des Kapitals «im Himmel und auf Erden» das Denken und Fühlen regiert, desto ausschliesslicher wirkt seine Forderung der alleinigen Rechtfertigung der eigenen Existenz durch Leistung, präziser gesagt durch bessere Leistung als andere. Der furchtbare Satz, der eigentlich ohne existentielles Grausen nicht auszusprechen ist, «Das Bessere ist der Feind des Guten», ist das alles bestimmende Dogma der Konkurrenzlogik. Wo aber Gutsein nicht genügt, ist nicht nur, platonisch gesprochen, die Grundlage eines allgemeinen Begriffs des Guten entzogen, sondern die Forderung an die Einzelnen wird unendlich, unerfüllbar und gnadenlos. Sie treibt die ihr unterworfenen Menschen in die Opferlogik und damit gattungsgeschichtlich gesehen hinter die Errungenschaft der monotheistischen Religionen, die in der biblischen Forderung «Gesetze und Götzenverbot statt Opfer» zusammengefasst werden kann. Der Zwang sich selber oder andere zu opfern entsteht dort, wo das Schuldgefühl, bedingt durch die menschliche Grundsituation essen zu müssen ohne das Essen selber schaffen zu können bzw. die Unfähigkeit das eigene Leben ohne Gabe von dritten zu erhalten, sich einer unbegrenzten Gegenforderung ausgesetzt sieht und nicht durch angemessene symbolische Gesten, Gesetze oder durch Gnade gelindert und eingegrenzt werden kann. Der Wunsch jedes einzelnen Menschen, sein Dasein angesichts dieser existentiellen Schuld zu rechtfertigen, schlägt dadurch in den angstgetrieben Zwang um, immer das Beste und das Äusserste zu geben, weil man nie wissen kann, wann es genug ist. Und dieses Äusserste, nach dem es nicht mehr weiter geht, ist immer das Opfer, letztlich das Menschenopfer. Die Opferlogik zeigt sich in der Mafia, die ihre Kleinschuldner zwingt, ihre Niere zu verkaufen, aber ebenso im IMF, der die Schulden von den Staaten auch dann noch einfordert, wenn sie dadurch gezwungen sind, die Brotsubventionen für die Ärmsten aufzuheben. Sie zeigt sich ebenso in den Unternehmen, die das Arbeitsziel so hoch ansetzen, dass es nicht zu erreichen ist, wie in jenen, die das Ziel nicht mehr definieren, sondern nur noch die Bedingungen schaffen für die höchste Arbeitseffizienz. Auch die Eltern, die von ihren Kindern stets das Beste fordern, sowie jene, die für die Kinder nur das Beste fordern, betreiben Opferlogik. Arroganz in der Oberschicht, Perfektionismus in der oberen Mittelschicht, Hartherzigkeit in der unteren Mittelschicht, Selbstverstümmelung in der Unterschicht, um nur einige der gängigen Klischees zu nennen, sind Derivate der herrschenden Opferlogik. Und die Gier, Chiffre der Herrschaftsverschleierung in vielen Analysen der Finanzkrise von 2008, repräsentiert exemplarisch das «Es ist nie genug!» der Opferlogik. Das Konkurrenzprinzip schafft Verhältnisse, unter denen niemand leben will und entzieht gleichzeitig allen anderen die Legitimation. So erscheint auch plötzlich der Narzissmus als wünschenswerter Ausweg aus der Konkurrenz, ebenso der freiwillig gewählte Opferstatus.
Bloss weg hier
Das mehr oder weniger heimliche Ziel der Menschen und Unternehmen in der Konkurrenzgesellschaft kann natürlich deswegen nur darin bestehen, sich aus der Konkurrenz herauszunehmen. Sobald man etwas erreicht hat, schafft man um sich herum sichere, das heisst konkurrenzfreie Verhältnisse. Die stetigen Monopolisierungsbestrebungen, das Eigentumsrecht, das Erbrecht, das Steuerrecht usw. sind alles Anstrengungen der Immunisierung der Besitzenden. Auch das Patriarchat ist in den letzten 70 Jahren mehr und mehr zum Verein der Herrschaftssicherung gegen Konkurrenz geschrumpft, dieselbe Tendenz trägt der Mainstreamfeminismus in sich. Die Privatisierungs- und Wettbewerbsgebote sowie die Kartellgesetze in kapitalistischen Ökonomien zeigen an, dass Konkurrenz selbst dort, wo sie propagiert wird, kein sich selbst erhaltender Mechanismus ist. Kein Wunder scheint daher eine erfolgversprechende liberale Strategie des Widerstands dagegen in der Einführung respektive Rückführung aller Akteure ins Konkurrenzverhältnis zu bestehen. Sie trägt damit der Tatsache Rechnung, dass die Kapitalverwertung zwingend Konkurrenz braucht.
Immerhin muss die liberale Konkurrenzgesellschaft um ihres eigenen Fortbestands willen den Schein der vollständigen Offenheit und des uneingeschränkten Inklusionswillens aufrecht erhalten, was wenigstens scheinbar allen Menschen die Möglichkeit eines Aufstiegs zu einem gesicherten Platz offenhält. Während also der Liberalismus gegen die Existenzangst die Formel «Ausstieg durch Aufstieg» aufbietet, setzt der Faschismus auf das Versprechen eines endgültigen Ausstiegs durch Abstammung ohne spezifische Leistung. Die Rudelbildung, die Stammesgesellschaft, die der Faschismus anstrebt, verdrängt das Konkurrenzprinzip aber um den Preis der Individualität der Einzelnen. «Die Idealisierung von Autorität und die Partizipation an Herrschaft mindern Konkurrenzangst und sind das notwendige Pendent zu einem auf Konkurrenz und nicht auf Solidarität bauenden Autonomiebegriff.» (Anselm 1985, 192) Die kollektive Gruppenidentität verhindert den Kampf aller gegen alle und verschiebt ihn auf die äusseren Feinde der künstlichen inneren Harmonie. Während die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft vom Fundament ihrer Opferlogik mit immer neuen Wachstums- und Erfolgsrezepten ablenken kann, ist das Opfer im Faschismus konstitutiv, um die Gemeinschaft zu erhalten. Abstammung aber bindet mitnichten alle Kohäsionskräfte der Moderne. Die faschistische Horde braucht die bindende Schuld der gemeinsam getragenen Wahl, Ausstossung und Opferung des Anderen. Gemeinschaft wird gestiftet durch die gemeinsame Schuldverstrickung in der Opferung. Da der Liberalismus unter den Bedingungen des Kapitalismus und der Faschismus aber von ihrem Prinzip her beide das Opfer als Grundlage haben, neigen sie in ihren inneren Krisen immer einander zu. Anders gesagt, der kapitalistische Liberalismus trägt den Keim des Faschismus, der Faschismus immer auch den Keim des Liberalismus in sich, was es hüben wie drüben so schwierig macht, die Dinge sauber voneinander zu trennen und so leicht, sich gegenseitig immer dessen zu bedienen, was gerade passt.
Der Unterschied von der linken zur rechten Politik kann in Bezug auf die Angst darin gesehen werden, dass sie ihre politischen Erfolge weniger auf Grund von Ängsten, das heisst weniger aus dem Abwehr- und Dämonisierungsgeschäft erzielt, dafür mehr aufgrund von klaren, positiven Forderungen und auch, dass man links und in der Mitte seine Ängste besser kontrollieren kann oder einfach durch Zufall der Geburt weniger hat. Substantiell ist dieser Unterschied aber nicht. Insofern auch linke und liberale Politik, sich im Rahmen von konkurrenzgetriebenen Gesellschaften abspielt, läuft sie immer wieder Gefahr, sich genauso in der Opferlogik zu verfangen und also selber wieder Existenz-Angst zu befeuern.
Zur Dialektik der Solidarität
Angst, wenn sie nicht Dämonen gebären soll, muss lokalisiert werden am versagten und verdrängten Wunsch, aus dem sie entstand. Sigrun Anselm schreibt dazu: «Eine Sozialisation, in der Angst nicht solidarisch und gemeinschaftlich bewältigt wird, muss zu Realitätsverlust und zu Verstümmelungen führen. (Anselm 1985, S 186.) Die Aufbietung von Solidarität als emphatischer Schlüsselbegriff gegen Angst stellt aber die Frage nach ihrer Art. Missverstanden als von der Konkurrenz unbedrohte Gruppensolidarität oder als Solidarität mit denen, die man als Konkurrenten nicht zu fürchten braucht, ist sie nur ein Mittel – freilich eines, das sein kurzfristiges Ziel nicht verfehlt – um sich der Spannungen und falschen Lösungsangebote der Konkurrenzgesellschaft zu entledigen.
Aber die Pointe der solidarischen Position ist das Halten der Spannung. Denn die Angst muss benannt, der verdrängte Wunsch erkannt werden. Solidarität mit und gegen Angst ist da, wo die Spannung zwischen dem wünschenden und sich ängstigenden Subjekt und dem begehrten, aber mit Angst besetzten Objekt als Versuch erkannt werden kann, den Anspruch auf Versöhnung trotz seines Scheiterns nicht aufzugeben. Vielmehr kann das Scheitern als Anlass genommen werden, neue Gesten, Ideen und Bilder der Versöhnung zu suchen oder alte wieder mit gemeinsamer Bedeutung zu besetzen. Solidarisch sein gegen Konkurrenzangst hiesse, sich selber (als Individuum oder als Klasse, der man angehört) im ausgestossenen, angstbesetzten Objekt zu erkennen und Zeichen dieser Erkenntnis gegen aussen zu setzen. Die solidarische Position wehrt sich gegen Spaltung, aber setzt nicht auf Verschmelzung. Sie erkennt sich selber als ängstlich, bedürftig und ungerecht. Sie ist genauso eine mögliche Praxis der Individuen wie der Institutionen. Sie ist verpflichtender und wirksamer auf der Seite der Stärke und der Macht. Solidarisch sein kann je nach Situation heissen: Dazusein, wo Dasein weder erwartet, noch erwünscht ist, verhandeln, wo verhandeln nicht erwartet wird, aber auch auf Schwäche nicht mit Stärke zu reagieren, Rechte nicht um jeden Preis anzustreben und durchzusetzen, auf Ansprüche zu verzichten, letztlich dafür zu sorgen, dass Erniedrigungserfahrungen vermieden werden. In dieser Zuspitzung des Solidaritätsbegriffs zeigt sich seine christliche Substanz, deren negative Konsequenz in den in allen christlichen Milieus bekannten Paternalismus und Klientelismus umschlägt. Zurecht setzt die Linke dagegen den Slogan «Rechte statt Almosen». Aber angesichts der Gewalt der Starken, ist das Recht für die Schwachen kein hinreichender Schutz. Unter der Macht des Konkurrenzprinzips verwandelt es sich oft in Vorrechte und wird tendenziell zurückgenommen zugunsten von Leistung.
Und so bleibt der Ruf nach Solidarität unter den Schwachen mehr als ein blosses Mittel zur Erkämpfung des Rechts. Aber er klingt hohl, wo nicht auf das Moment der Stärke reflektiert wird, das zwingend zur Solidarität gehört. Das Opfer als Opfer kann nicht solidarisch sein. Die «Kraft der Schwachen», wie sie beispielsweise im erzählerischen Werk bei Anna Seghers entfaltet wird, setzt eine «wundersame» Verwandlung in Stärke bzw. eine Überwindung der Schwäche voraus. Das heisst, die Stärke ist genauso Bedingung wie Wirkung der Solidarität. (Es macht die Grösse von Seghers aus, dass diese nicht in der Herstellung des richtigen Bewusstseins aufgeht, sondern immer zusätzlich ein transzendentes bzw. ein unverfügbares Moment aufweist.) Der Akt der Solidarität im Kampf für die Rechte der Ausgebeuteten wie auch im Kampf gegen Spaltung durch Angst ist nur jenen möglich, die in einer bestimmten Situation, und sei es nur für einen kurzen Moment, für sich selber nichts mehr fürchten und daher die Furcht vor dem Anderen ganz in die Sorge für den anderen verwandeln können. (Wie es im Christentum in der Figur des Heiligen festgehalten ist. Das Risiko von Leid und Tod, das er dabei auf sich nimmt, wird gerne als Opfer missverstanden und nicht selten als solches verklärt, so etwa von Lars von Trier in seinem Film Breaking The Waves (1996).)
Solidarität ist daher, anders als linke Romantik oft suggeriert, keine Normalität, sondern sie bleibt Ausnahme, ein momenthafter Akt in einer bestimmten Konstellation. Die Erörterung der Solidarität kann daher ganz im Gegensatz zur Erörterung des Rechts, die die Kontinuität darstellt, in einer politischen Theorie nur als Einmaligkeit erfolgen. Solidarität kann das Recht nur erkämpfen und also erfüllen, wenn die dazu notwendige momenthafte Aufhebung des Rechts im Sinne des Verzichts auf das eigene Recht, ein freiwilliger Akt momentaner Stärke bleibt.
So wie die christliche Caritas nur dann nicht in Willkür umschlägt, wenn sie weniger Praxis, sondern mehr Reflexion auf die im Prinzip unmögliche Notwendigkeit ist, nicht alles der verschuldenden Herrschaft des Äquivalententauschs ohne Äquivalenz, auf die jedes Gesetz notwendig rekurrieren muss, zu überlassen. Die Bergpredigt als «Urwort» christlich geprägter Solidaritätsforderung setzt aber nur dann das Gesetz nicht ausser Kraft, sondern ermöglicht die Reflexion auf sein «weltliches Ungenügen», insofern ihre Forderung nicht selber Gesetz ist. Wenn sie also das jüdische Gesetz am Punkt seiner Schwäche erfüllen hilft und nicht am Punkt seiner Macht aufhebt. Nach dem Jesus-Wort in Matthäus 5,17: «Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.» Daher schlagen linke Projekte, die strukturell auf Solidarität statt auf das Gesetz bauen, regelmässig in Zwangsvergemeinschaftung und Enge aus. (Oder sie befördern gar das antismeitische Ressentiment, das sich oft dort einstellt, wo die Überschätzung der universellen Werte der Menschlichkeit das Pochen auf überkommenes Recht als rückständig denunziiert.)
Aus der Position der Schwäche tendiert Solidarität zur Selbstopferung, aus der Position der Stärke ist sie nur eines: Nicht zu tun, was man tun könnte, situative Aufhebung der Konkurrenz und also Verschonung im Moment. Solidarität ist daher keine Technik und kein Prinzip. Ihr prekärer Charakter verhindert keine Ängste, aber sie ist die Hoffnung auf einen Akt der Verschonung, der ein Aufatmen ermöglicht.
Solidarität gegen Konkurrenzangst hat ein Urbild in den Eltern, die, ohne die moralische Forderung aufzugeben, den Provokationen des aggressiven Kindes mit Nachsicht begegnen und ihren gesellschaftlichen Höhepunkt in der schiessbereiten Armee, die sich von den streikenden Massen Blumen in die Gewehre stecken lässt. Letztlich kann die solidarische Position kontrapunktisch so gegen Konkurrenz begriffen werden, dass diese zwar die allgemeine Forderung nicht aufhebt, aber dem Einzelnen in seiner Schwäche beisteht, während jene keine moralischen Forderungen stellt, aber jeden jederzeit in seiner Schwäche verderben lässt.
Adorno Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, Frankfurt am Main.
Anselm Sigrun, 1985: Angst und Solidarität, Frankfurt am Main.
Aydemir Fatma, Hengameh Yaghoobifarah (Hg.), 2019: Eure Heimat ist unser Alptraum, Berlin.
Deleuze Gilles, Guattari Felix, 1972: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt am Main.
Manfred Dahlmann, Der Wert und die Ideale in: sans phrase Nr. 14/2019
Freud Sigmund, 2012: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt am Main.
Heinrich Klaus, 1997: anfangen mit freud, Frankfurt am Main.
Klein Melanie, 1997: Die Psychoanalyse des Kindes, Stuttgart.
Nussbaum Marta, 2019: Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise, Darmstadt.
Gerhard Scheit, Wertgesetz, Weltmarkt und Judenhass, in: sans phrase Nr. 14/2019.
Dr. Hanna Petersen
Sehr geehrter Herr Dr. Bossart,
mit Genuß und großem Gewinn habe ich Ihre Ausarbeitung zur Angst in konkurrenzgetriebenen Gesellschaften gelesen. Einerseits gelingt es Ihnen, so vielschichtig, anregend und offen zu schreiben und doch verdeutlichen Sie so nachvollziehbar, wie Opferlogik und Existenzangst zusammenhängen. Ganz herzlichen Dank und Ihnen im Winnicottschen Sinne – ich bin Psychoanalytikerin und Sie verstehen diese Sprache – “ausreichend” Zeit für noch viele solche wichtigen Beiträge. Ihre Hanna Petersen
Ursula Walter, Psychoanalytikerin
Lieber Herr Bossart, Danke sehr. Ich habe soeben Sigrun Anselms “Angst und Solidarität” wieder durchgesehen und bin so auch auf Ihren obenstehenden Artikel gestossen. Es ist so wichtig, immer wieder mit Offenheit und Kritik die wichtigen existenziellen Fragen anzugehen. Ob jetzt in der Pandemie, im heute ausgebrochenen Krieg oder in der schwer vorstellbaren Weltzukunft – von den plakativen einfachen Angebote der Angstbewältigung und auch der Resignation wollen “wir” uns nicht vereinnahmen lassen. Dazu brauchen wir andere, die auch daran sind, Trampelpfade zu suchen. Anselm misst unterschiedliche Auswege daran, wie die äussere und die innere Not zwischen Subjekt und Objekt einbezogen werden, Solidarität ist für sie die gemeinsame Suche nach der Balance, welche hilft, die Not nicht auszuklammern, sondern sie zu erkennen und zu ertragen. Sie bringen es hilfreich in geschichtlichen und individuellen Zusammenhang. Danke., Ursula Walter