Herbert Rünzis umfangreiches Werk wendet sich an Leserinnen und Leser, die an der marxschen Kapitalanalyse interessiert und gleichzeitig offen sind, Neues zu lernen. Es ist kein Werk, das die politische Agitation bzw. den politischen Kampf unmittelbar befördern will. Beabsichtigt ist vielmehr eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der marxschen Analyse. Anhand genauer Lektüre und mit rigoroser intellektueller Schärfe nimmt Rünzi „Das Kapital“ auseinander. Was dabei herauskommt, erstaunt ein ums andere Mal. Im Lager der „Marx-Orthodoxie“ wird Rünzi wohl als Häretiker und „Nestbeschmutzer“ abgetan werden, zu häufig weist der Autor Marx logische Unzulänglichkeiten und argumentative Mängel nach.
Radikale Neuinterpretation der drei Bände
Rünzi behandelt in seiner Kritik die gesamten drei Bände von „Das Kapital“; wohlwissend, dass Marx nur den ersten Band für die Publikation selbst fertiggestellt hatte, während Band zwei und drei jeweils von Friedrich Engels herausgegeben wurde, der dabei die mehr als undankbare Aufgabe bewältigen musste, aus einem beachtlichen Berg an Manuskripten eine lesbare und stringente Theorie zu erstellen. Auch wenn immer wieder Kritiken an Engels editorischer Arbeit laut werden, fundamentale Fehler sind ihm bislang nicht nachgewiesen worden. Rünzi tut somit gut daran, die drei Bände als Einheit zu betrachten und als Ganzes der kritischen Lektüre zu unterwerfen.
Sein Buch gliedert sich in neunzehn Kapitel, die jeweils mit einer Zusammenfassung bzw. einer Bewertung enden. Besprochen werden, beginnend mit der Warenanalyse und endend mit den Revenuequellen, die wichtigsten Inhalte der drei „blauen Bände“. Dieser Hauptteil (540 Seiten) wird ergänzt um ausführliche Endnoten, in denen der Autor Bezug nimmt auf einige wichtige Marx-Interpreten. Insbesondere sind dies M. Heinrich und W.F. Haug. Diese Endnoten stellen eigentlich ein eigenständiges „Buch im Buch“ dar, denn Rünzi zeigt sehr detailliert und mit spitzer Feder, zu welch abweichenden (in seinen Augen fehlerhaften) Interpretationen die genannten Interpreten gelangen. Da dies am jeweiligen Marx-Zitat dargelegt wird, sind die Endnoten sehr umfangreich geraten, teilweise repetitiv und für „Nicht-Eingeweihte“ nicht immer zugänglich und in ihrer Pointierung wohl verstörend. Zu Recht weist Rünzi im Vorwort darauf hin, dass diese Endnoten bei der Lektüre auch ausgespart werden könnten. Ein Rat, dem man durchaus Folge leisten kann.
Auch wenn die gesamten drei Kapital-Bände analysiert werden, liegt das Schwergewicht der Rekonstruktionsbemühungen auf Band eins und insbesondere auf den ersten Kapiteln, in denen Marx mit der Warenanalyse anfängt und dann die Kategorien Wert, abstrakte Arbeit, Geld und Kapital entwickelt. Für eine wissenschaftliche Theorie, die systematisch und mit logischer Notwendigkeit vorgeht, kommt dem Anfang eine eigentümliche Stellung zu. Der Marxsche Anfang mit der Ware, wenngleich dieser zunächst unbegründet erscheint, ist als solcher zu akzeptieren, insofern es Marx gelingt, aus dem Konkretum der Ware die folgenden Kategorien wie Wert, abstrakte Arbeit und Geld abzuleiten.
Der falsche Anfang – Wert und Mehrwert
Im Unterschied zur gegenwärtigen „Neuen Marx-Lektüre“, die den Wert verflüssigt, ent-substanzialisiert bzw. ins Reich der Gedanken verflüchtigt (Reichelt), hält Rünzi am Wert als Resultat von gesellschaftlich notwendiger Durchschnittsarbeit fest. Während die monetäre Werttheorie (z.B. Heinrich) die Differenz zwischen Wert und Tauschwert in Richtung Tauschwert auflöst und damit gar keinen Grund für den Preis mehr benennen kann, arbeitet Rünzi die wesentliche Differenz zwischen Wert und Tauschwert heraus. Behauptet wird, dass der Wert bei Marx nur als vermittelter Grund der Produktionspreise fungiert (vgl. S.109) und nicht als direkter Grund der Austauschverhältnisse abgeleitet werden kann. Da Marx zu Beginn seiner Waren- und Wertanalyse genau diesen Eindruck erweckt, steckt seine Analyse in einem nicht aufzulösenden Widerspruch. Die sehr detaillierte und auf Hegelsche Begrifflichkeiten bezugnehmende Kritik Rünzis an den ersten Kapiteln von „Das Kapital“ begründet sein Urteil, dass ein grundlegender Fehler von Marx am Beginn der Warenanalyse liegt. Aus den einzelnen empirischen Austauschverhältnissen lässt sich der Wert weder logisch überzeugend ableiten noch empirisch zutreffend aufgreifen, da die Tauschwerte in der Wirklichkeit um ihre Produktionspreise oszillieren.
In den früheren Debatten über den Anfang des Kapitals wurde zwar Marx‘ Wertbegriff in vielfältiger Weise hinterfragt, aber der Schluss auf die fehlerhafte Systemarchitektur, den Rünzi mit besten Argumenten vorträgt, ist neu. Den verschiedenen Kapitalinterpretationen (Althusser ausgenommen) galt der Marxsche Anfang als „heilige Kuh“, der unbestritten als Ausgangspunkt für nachfolgende Erörterungen zu dienen hat. Mit den von Rünzi vorgelegten Einwänden ändert sich dieses Bild. Er zeigt minutiös auf, dass die Warenanalyse als Ausgangspunkt für eine Theorie der kapitalistischen Produktionsweise scheitert, weil die folgenden Kategorien nicht zwingend aus ihr entwickelt werden können.
Beim Übergang von der einfachen Warenzirkulation (W-G-W) zum Kapitalkreislauf (G-W-G´) zeigt Rünzi auf, dass es Marx nicht gelingt, aus dem blossen Geldkreislauf (G-W-G) die für das Kapital charakteristische Bewegung der schrankenlosen und perennierenden Kapitalvermehrung stringent abzuleiten. Vielmehr greift Marx diese Bewegung, die uns allen empirisch geläufig ist, nur auf, kann damit aber nicht begründen, woher dieser Impuls für den nicht enden wollenden Zuwachs kommt. Erst die spätere Analyse der Mehrwertproduktion fördert das innerste Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise zutage.
Einen weiteren wichtigen Grund für die aufgezeigten Schwächen sieht Rünzi darin, dass Marx die beiden Argumentationsweisen „per logischer Geltung“ bzw. „per teleologischer Genesis“ nicht auseinanderhalten kann. Während per logischer Geltung auf objektive Aktionen und Gegebenheiten geschlossen wird, die den Akteuren unbewusst sind, steht bei der teleologischen Genesis die zweckbestimmte Handlung bewusster Subjekte im Vordergrund. Bei Marx gehen beide Argumentationsebenen „wild“ durcheinander, so das Resümee von Rünzi. Er kann in der Tat überzeugend vorführen, dass Marx je nach Bedarf die Argumentationsweise wechselt und so inhaltliche Schwächen überspielt.
Alternative Theorie
Nimmt man diese fundamentalen Einwände ernst, so drängt sich der Eindruck auf, dass vom Marxschen Kapital nicht viel übrig bleibt. Dennoch besteht Rünzi darauf, dass sich bei Marx selbst die Bausteine für eine überzeugendere Theorie der bürgerlichen Gesellschaft finden lassen. So identifiziert er als Ausgangs“begriff“ seiner eigenen Theorie den „Heisshunger nach Mehrarbeit“ (ein Ausdruck von Marx). Neu gliedert sich diese alternative Theorie in die Bereiche Wesen, Schein und Erscheinung. Auf der Wesensebene ist der Heisshunger nach Mehrarbeit der Ausgangspunkt, während der Schein die Bewegung der Selbstverwertung beinhaltet (dies ist der Ort, um wichtige Inhalte aus den Kapitalbänden darzustellen). Schliesslich werden die Erscheinungen, in denen das menschliche Streben nach Wohlbefinden der Ausgangspunkt und bestimmende Zweck ist, entwickelt.
Im vorliegenden Buch wird diese alternative Theorie nur kurz skizziert, man darf aber gespannt sein, welche Gestalt sie als ausformulierte annehmen wird. Unbestritten geht dieses Werk weit über Marx hinaus und öffnet den Horizont für eine neuartige Beschäftigung mit dem marxschen Kapital und der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft.
Herbert Rünzi: Mit Marx über Marx hinaus. Zur Kritik und Korrektur von Marx´ Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Hamburg, tredition 2019