Die Niederlage für Labour ist vernichtend. Statt Boden gut zu machen und den Konservativen unter Boris Johnson zumindest eine absolute Mehrheit zu verwehren, hat die Partei bei den britischen Wahlen gegenüber 2017 nicht weniger als 8,1 Prozentpunkte und 59 Parlamentssitze verloren. Drei Erklärungen werden angeboten. Jeremy Corbyn hat als Leader versagt. Brexit wars. Die Labour Party hat die Arbeiterklasse in den Midlands und im Nordosten des Landes im Stich gelassen.
Der zögerliche Führer
Jeremy Corbyn ist nicht gut angekommen, das müssen selbst Corbyn-AnhängerInnen zugeben. Dafür wird von ehemaligen Labour-WählerInnen ebenso wie von den MedienkommentatorInnen eine Reihe von Gründen angegeben. Sie wirken wie auf eine Person zugespitzte Symptome von tieferliegenden gesellschaftlichen Verwerfungen. Erstens: Corbyn sei ein starrsinniger, spröder Dogmatiker. Sicher, mit dem opportunistischen Populismus eines Boris Johnson kann er sich nicht messen. Aber seine gradlinige, prinzipienfeste Art wurde nach den Wahlen 2017, bei denen er überraschend gut abgeschnitten hatte, gerade noch gelobt. Zweitens: Der langjährige Pazifist hätte das mächtige Grossbritannien auf dem internationalen Parkett nicht angemessen repräsentieren können. Dem kalkulierenden Hanswurst Johnson traut man das hingegen zu, der nach seiner kurzen Amtszeit 2018 bereits als einer der schlechtesten britischen Aussenminister in die Annalen eingegangen ist. Drittens habe Corbyn den Antisemitismus in der Partei nicht in den Griff gekriegt. Dies im Angesicht eines konservativen Premierministers, der islamophobe Witze reisst; zudem ist das, mit Verlaub, nicht das dringendste Anliegen der WählerInnen im Nordosten. Viertens entstamme das von ihm verantwortete Wahlprogramm einem «Sozialismus aus den siebziger Jahren» (Boris Johnson) beziehungsweise der «marxistischen Mottenkiste» (Christoph Münger im «Tages-Anzeiger»). Nun, es war ein solides linkskeynesianisches Investitionsprogramm, und die Renationalisierungen von Eisenbahn und andern Grundversorgungsbereichen stossen bei einer knappen Mehrheit der Bevölkerung auf Zustimmung. Bleibt, fünftens, der Hauptvorwurf, er habe bezüglich des Brexit laviert und gezaudert. Das ist unbestreitbar. Einige der abgewählten Labour-ParlamentarierInnen in den Leave-Gebieten haben sich nach der Niederlage scharf über Corbyn ausgelassen. Um ihre WählerInnen ernst zu nehmen, hätte sich Labour ihres Erachtens deutlich für den Brexit aussprechen müssen. Das wäre jedoch auch keine valable Politik gewesen. Damit wären ziemlich sicher ein paar Sitze im Nordosten gerettet worden, aber dafür wären vermutlich ein paar Sitze in London an die Liberaldemokraten verloren gegangen.
Brexit
Womit wir beim Brexit sind. Brexit hat zweifellos eine zentrale Rolle gespielt, das zeigen die regional unterschiedlichen Resultat: 10 Prozent Verluste für Labour in jenen Wahlkreisen, die für einen Austritt aus der EU gestimmt hatten, 4 Prozent in jenen, die in der EU hatten bleiben wollen. Dabei hat Labour überall verloren, weil die Brexit-Falle zugeschnappt ist. Rechts gingen Stimmen an die Tories, links an die Liberaldemokraten und in Schottland an die Scottish National Party SNP. Corbyn versuchte es, beiden Flügeln recht zu machen – das konnte in der zugespitzten Situation nicht aufgehen.
Umgekehrt lässt sich aus dem Wahlsieg von Johnson kein klares Votum für dessen harten Brexit-Plan ablesen. Johnsons bis zum Brechreiz wiederholtes Mantra «Get brexit done» schloss eben auch ein «Get Brexit out of the way» ein. Selbst wer nicht unbedingt für den Brexit, aber des Gezerres darum überdrüssig war, konnte oder musste die Konservativen wählen, insbesondere nachdem Nigel Farage seine Brexit-Partei aus der direkten Konfrontation mit den Konservativen zurückgezogen hatte. Trotzdem kann man vorrechnen, dass die Remain- und Eher-Remain-Parteien zusammen 50 Prozent der Stimmen erhielten, während die Leaver nur 45 Prozent ausmachen.
Die verratene Arbeiterklasse
Dass Labour traditionelle Hochburgen in den Midlands und im Nordosten verloren hat, dass also der so genannte «Red Wall» zerbröckelt ist, läuft parallel zur Entwicklung im «rust belt» der USA, die Donald Trump den Sieg gebracht hat. Die Diskussion darüber mündet wie in den USA vorschnell in einen Verratsdiskurs.
Ein Artikel im «Guardian» hat noch vor den Wahlen darauf hingewiesen, dass die Arbeiterklasse längst disparater geworden sei. Wenn man davon spreche, dass Labour «die Arbeiterklasse» aufgegeben habe, halte man an einem veralteten Begriff der Arbeiterklasse fest, unterschlage die Jungen, die Nicht-Weissen im Prekariat der Dienstleistungsindustrie. Richtig. Darauf ist eingewandt worden, der Befund ändere nichts daran, dass die (weisse) Kernarbeiterschaft in den ehemaligen Schwerindustriegebieten verloren gegangen sei. Auch richtig.
Aber selbst diese Kernarbeiterschaft muss differenziert werden. Einige der ehemaligen Industriegebiete im Nordosten sind stark mit dem Militär verflochten, sei es durch Rüstungsbetriebe, sei es als Reservoir für Armeeangehörige. Da konnte Corbyn als langjähriger Pazifist natürlich nicht punkten. Sogar dass er als Republikaner nicht «God save the Queen» singen will, haben ehemnalige Labour-WählerInnen gegen ihn ins Feld geführt. Das darf aber kein unlösbares Problem sein. Man muss diese Familien ja nicht zum Pazifismus bekehren, sondern man muss ihnen valable Alternativen zur Arbeit beim Militär anbieten. Mitglieder einer Bewegung, die einst auf Solidarität gebaut war, scheinen es andererseits nicht mehr über sich zu bringen, bei punktuell unterschiedlichen Positionen ein grundsätzliches Gefühl des gegenseitigen Vertrauens aufzubauen.
Eine undemokratische Gesellschaft
Hinter den Wahlresultaten liegen auch strukturelle Probleme. Grossbritannien ist in manchem eine undemokratische Gesellschaft. Dies bereits auf der institutionellen Ebene. Am offensichtlichsten ist das beim Majorz-Wahlsystem. Der gloriose Wahlsieger Boris Johnson hat 2019 gerade mal 360´000 Stimmen und einen guten Prozentpunkt mehr erzielt als die viel gescholtene Wahlverliererin Theresa May 2017, doch damit 47 mehr Sitze bekommen. Die Liberaldemokraten mit ihren 3.696 Millionen Stimmen oder 11.6 Prozent Wählerstimmen haben 13 Mandate errungen, oder 2 Prozent aller Sitze. Dass sie gegenüber 2017 um 4.2 Prozentpunkte zugelegt haben, hat sie unter dem Strich – einen Sitz gekostet. Und die Grünen kriegen mit 865´000 Stimmen und einem um 1.1 auf 2.7 Prozentpunkte gestiegenen Wähleranteil einen einzigen Sitz im Parlament.
Selbst die Labour-Schlappe ist durch das Majorzsystem verstärkt worden. Corbyn hat nämlich 950´000 Stimmen und beinahe 2 Prozentpunkte mehr erzielt als einst Ed Milliband vor vier Jahren, aber 29 weniger Sitze errungen. Umgekehrt ist die SNP bei einem Stimmenanteil von 45 Prozent mit 48 von 59 schottischen Parlamentssitzen massiv überrepräsentiert und kann aus ihrem überwältigenden Wahlsieg keineswegs die Gewissheit ableiten, bei einem neuen Unabhängigkeitsreferendum für Schottland eine Mehrheit zu bekommen. Da das Wahlsystem die führenden Parteien bevorzugt, hat sich auch Labour, als man an der Macht war, um eine Wahlreform gedrückt, weil man jahrzehntelang gerade in Schottland vom Majorzsystem profitiert hatte.
Dem entspricht ein Präsidialsystem, das der/dem FührerIn der grössten Partei unverhältnismässig viel Macht einräumt. Beim Kampf um den Brexit im Parlament während des ganzen Jahrs 2018 ging es auch darum, dass das Parlament versuchte, die Macht des Premierministers zu beschneiden und damit das Präsidialsystem ein wenig umzubauen. Zu den institutionellen Defiziten gehört im Übrigen, dass die zweite Parlamentskammer nach keinerlei demokratietheoretischen Kriterien zusammengesetzt ist, die in der balance of power als Ergänzung oder Korrektur zur ersten Kammer konzipiert sind.
Fehlende lokale Demokratie
Das wichtigste Defizit freilich, in dem sich andere Motive verdichten, ist die fehlende lokale Demokratie. England ist, wie Frankreich, ein auf ein Zentrum konzentriertes Land. London dominiert politisch wie ökonomisch wie kulturell. Die lokalen Verwaltungen, schon bislang mit beschränkter Kompetenz ausgestattet, sind durch die Austeritätspolitik der letzten zehn Jahre finanziell ausgehungert worden. Das hat vor allem die einstigen Labour-WählerInnen getroffen. In der Brexit-Konstellation aber sind die entsprechenden Folgen vor allem Labour angelastet worden. Zuerst musste im Brexit-Referendum die EU als Sündenbock für die soziale Prekarisierung herhalten; danach wurde, da sich Labour nicht für den Brexit ausgesprochen hatte, der Zorn auf die Partei umgeleitet. Zugleich haben die zumeist Labour-dominierten Lokalverwaltungen die soziale Depravierung nicht stoppen können (und einst, unter New Labour, bestimmte Prozesse wie die Auslagerung von Staatsfunktionen mitgemacht), also trifft die Partei die Enttäuschung und der Zorn gleich doppelt.
Einen berechtigten Kern hat dieser Zorn in der unbestreitbaren Vernachlässigung dieser Regionen durch die Londoner «Parteielite». Aber diese Tendenz war schon unter New Labour vorhanden, ja, sie war damals sogar stärker ausgeprägt als unter Corbyn. Schon dannzumal wurden nördlichen Wahlbezirken KandidatInnen aus London aufgedrängt. Nach 25 Jahren Umorientierung zu einer mittelständischen Klientel im Dienstleistungssektor sind die lokalen Parteisektionen in den ehemaligen Industriegebieten ausgeblutet; der kurzfristige Aufschwung mit Corbyn ab 2016 hat zwar neue Leute rekrutiert, aber vor allem Junge aus den grösseren Städten und den Universitäten. In der jetzigen Situation wird das allein Corbyn angerechnet, mit einem geradezu autoritären Glauben an die Allmacht des Führers, der alles richten könne und für alles verantwortlich sei. Wenn sich die abgewählten ParlamentarierInnen aus dem Nornen jetzt beklagen, Corbyn habe «ihre» Arbeiterklasse verraten, dann darf man ihnen füglich die Frage stellen, was sie selbst denn seit dem Brexit-Referendum getan haben, um ihre WählerInnen womöglich von deren isolationistischer Haltung abzubringen.
Labour hat, unter Corbyn, Fehler gemacht, auch Corbyn selbst hat Fehler gemacht. Dazu gehört, dass sein Strategieteam nicht richtig funktionierte, dass das Wahlmanifest viel zu spät lanciert wurde, dass es viele sinnvolle Ideen und Vorschläge enthält, aber als willkürlich zusammengestelltes Sammelsurium erschien. Doch den Mängeln der jetzigen Wahlkampagne entspricht ein strukturelles Fehlverhalten von Labour, das weit hinter die Corbyn-Jahre zurückgeht. Der «Guardian»-Kolumnist Aditya Chakrabortty hat es treffend zusammengefasst. «Die Kernschmelze der letzten Woche ist der Höhepunkt von Trends, die Jahrzehnte zurückreichen. Corbyn hat sie nicht geschaffen, sondern als vergiftete Erbschaft mitbekommen – aber jeder Parteiführer, der diese Sitze zurückerobern will, muss mit diesen Trends besser umgehen, als es Corbyn getan hat.»
Tatsächlich ist neben und gegen Brexit kein zusammenhängendes Narrativ gegen die Austeritätspolitik der Konservativen entwickelt worden, und man hat in Bezug auf Brexit kein positives Narrativ internationaler Zusammenarbeit entwickeln können. Der schüchtern ins Spiel gebrachte New Green Deal hätte zum Beispiel gerade die Konversion der Rüstungsindustrie mit konkreten Vorschlägen illustrieren müssen.
Nationalismus
In diese Lücken ist ein neuer Nationalismus gestossen. Der Publizist Fintan O´Toole, der als Ire besonders empfindlich für englische Grossmachtfantasien ist, hat dessen Aufschwung detailliert dokumentiert. Es ist ein (weisser) englischer Nationalismus, der bereit ist, die Verbindung mit Schottland und sogar mit Nordirland aufs Spiel zu setzen. Die Konservativen haben, unter dem Druck zuerst von Ukip und dann der Brexit-Partei, in ihrer eigenen Brexit-Strategie pausenlos nationalistische Schalmeienklänge eingesetzt. Boris Johnson verspricht jetzt dem Land in geradezu skurrilen Luftschlössern eine neue wunderbare, wunderbare Zukunft.
Diesen Nationalismus haben auch Teile der (weissen) Kernarbeiterklasse übernommen. Im Votum für den Brexit steckte der Protest gegen die Auswirkungen der Globalisierung und gegen die Vorherrschaft von London, aber es steckte auch ein Jingoismus, eine Fantasie über die Einzigartigkeit Englands drin. Wie weit ist es gekommen, wenn in einem Worker´s Club unter den Bannern der Minenarbeitergewerkschaften und den Bildern der Labour-Parteigründer während des Wahlkampfs Brexit-Parteichef Nigel Farage zu einem Vortrag ansetzen konnte und lauten Beifall erhielt?