Mit ihrem Wahl-Manifest «It’s time for real change» versucht die britische Labour Party den Befreiungsschlag aus der Brexit-Falle. Mit einem ökonomischen Investitions- und Regenerationsprogramm sollen die sozialen Verheerungen der Austeritätspolitik und des Neoliberalismus korrigiert werden. Zugleich wird damit versucht, die Debatte vor den Wahlen vom 12. Dezember vom ewigen Brexit-Streit wegzuführen.
Es ist eine riskante Strategie – vielleicht werden bislang gemässigte WählerInnen durch einige der radikaleren Ideen abgeschreckt. Aber es ist der Partei wohl nichts anderes übriggeblieben. Bislang drohte, dass Labour wegen seiner unentschiedenen – oder differenzierten – Haltung gegenüber dem Brexit zwischen den Austrittsbefürwortern von Tories und Brexit-Partei und den -gegnern von Liberaldemokraten und schottischen Nationalisten zerrieben werde. Entsprechend konzertiert reagierten die Konservativen und die grossmehrheitlich konservative Presse auf Labours Versuch, die Wahlkampfdebatte auf ein anderes Terrain zu verlagern. Das sei Sozialismus und eine Rückkehr in die bösen siebziger Jahre, wetterten Premierminister Boris Johnson und das konservative Kommentariat.
Ein radikal-gemässigtes Programm
Mit der Rückkehr in die siebziger Jahre haben sie ja nicht ganz Unrecht. Labour verspricht (Wieder-)Verstaatlichungen, Reichtumssteuern, mehr Geld fürs Gesundheitswesen, ein grosses kommunales Wohnbauprogramm, insgesamt eine Erhöhung des Staatsanteils an der Gesamtwirtschaft. Damit sollen die Armut bekämpft, die soziale Kluft geschlossen und der Reibach in den vor rund dreissig Jahren privatisierten Grundversorgungsbereichen Eisenbahn, Elektrizität und Wasser gestoppt werden. So radikal ist das freilich nicht. Mit den angehobenen Steuern und der Verstärkung des Staatssektors würde Grossbritannien wieder auf kontinentaleuropäisches Niveau zurückkehren, das es als neoliberale Zugmaschine deutlich unterschritten hat. Insofern ist das Manifest ironischerweise eine deutliche pro-europäische Stellungnahme von Labour.
Verknüpft wird das mit einem durchgängigen Investitionsprogramm. Die britische Wirtschaft soll fitter werden – angesichts stagnierender Produktivitätszuwächse in den letzten Jahren nicht unvernünftig. Auch grünen Anliegen wird ein wenig Tribut gezollt. Mit dem Versprechen, allen BewohnerInnen einen kostenlosen Zugang zu einem nationalen Glasfasernetz zu ermöglichen, hat Labour sogar versucht, sich als Hightech-Partei zu etablieren.
Dabei gibt sich man sich regierungsbereit und verantwortungsvoll und behauptet, alles durchgerechnet zu haben: Die Steuererhöhungen für Superreiche und Grossunternehmen würden die Neuausgaben finanzieren. Allerlei scheinbar unabhängige Thinktanks bezweifeln das und blähen die angeblich notwendigen Investitionssummen ins Unermessliche auf. Dagegen bleiben die konservativen Wahlversprechen weitgehend unhinterfragt. Der Populist Johnson ist ja wie der Igel immer vor dem Hasen vor Ort. Jeden Tag wirft er mit einer neuen Wahlbestechung um sich, ohne sich um die entsprechenden Kosten zu kümmern: Da vierzig neue Spitäler in zehn Jahren, dort ein paar Milliarden für die Polizei oder die Schulen, und auch der Mindestlohn soll angehoben werden. Dass er jahrelange Vernachlässigungen der konservativen Regierung nachholen muss, unterschlägt er geflissentlich. Immerhin zeigt sich, dass sich in der öffentlichen Debatte einige Parameter verschoben haben. Johnson hat sich offiziell von der Austeritätspolitik verabschiedet, eine Senkung der Gewinnsteuern ist ausgesetzt worden, man verspricht mehr Investitionen in den Gesundheitsdienst und ein Moratorium fürs Fracking. Ob diese Versprechen nach einem Wahlsieg gehalten werden, darf bezweifelt werden – Johnson zieht ja eine Menge gebrochener Versprechen hinter sich her. Und der angestrebte ziemlich harte Brexit wird zu einer weiteren Aushöhlung von Rechten für ArbeiterInnen und KonsumentInnen führen.
Ein bisschen Wahlarithmetik
Wobei Johnson weiterhin mit den Meinungsumfragen im Rücken surft. Die sind für Labour bislang katastrophal, die Partei weist im Durchschnitt zwölf Prozentpunkte Rückstand auf die Tories auf. Der konservative Aufschwung von 32 auf weit über 40 Prozent WählerInnenanteil hängt zum kleineren Teil mit der trotz – oder wegen – aller Eskapaden anscheinend immer noch attraktiven Person von Boris Johnson zusammen. Zum grösseren Teil resultiert er aus dem Absacken der Brexit-Partei. Deren Chef Nigel Farage hatte zu Beginn des Wahlkampfs grossmundig verkündet, man werde in allen 633 Wahlkreisen auf dem britischen Festland antreten, da Johnsons Brexit-Deal grauenhaft schlecht sei. Ein paar Tage später war das heisse Luft von gestern. Jetzt tritt die Brexit-Partei nur noch in Wahlkreisen an, wo Labour Erfolgschancen hat. Angesichts der Klassenfrage findet sich auch ein populistischer Rebell wie Farage schnell auf der Seite der Herrschenden ein. Auf der anderen Seite haben auch die Liberaldemokraten, die sich klar für einen Verbleib in der EU einsetzen, in letzter Zeit wieder ein paar Prozentpunkte an Labour verloren.
Meinungsumfragen können sich irren, das ist mittlerweile bekannt – es ist aber leider nicht garantiert, dass sie sich, so wie bei den letzten Wahlen 2017, auf die richtige Seite irren. Paradoxerweise mehr Hoffnung für Labour verspricht das undemokratische britische Majorzsystem, in dem der nationale Trend in regionalen Gemengelagen nicht immer genau umgesetzt wird. Die Tories mögen angesichts der ausbleibenden Konkurrenz durch die Brexit-Partei ihre Mehrheiten in traditionellen Hochburgen ausbauen. Aber sie werden gemässigte Mitglieder an die Liberaldemokraten verlieren – was nicht nur deren Kontingent im Parlament verstärken wird, sondern in einigen Sitzen auch Labour sozusagen als Mittepartei eine Chance gibt. Selbst die gegen Labour gerichteten Kandidaturen der Brexit-Partei könnten sich für die Konservativen als Schuss ins Ofenrohr erweisen. Bisherige Labour-Wähler, die sich für den Brexit ausgesprochen haben, mögen noch immer vor einem Kreuz auf einem konservativen Wahlzettel zurückschrecken, aber bereit sein, die Brexit-Partei zu wählen – was das rechte Lager spaltet und Labour womöglich erlaubt, gefährdete Sitze zu behaupten. Umgekehrt werden die Konservativen sicherlich Sitze in Schottland verlieren, und es gibt interessante lokale Konstellationen durch taktische Absprachen, etwa in Wales oder in Nordirland. Dort hat sich Sinn Fein – deren Abgeordnete im britischen Parlament ja nie abstimmen – in drei Wahlkreisen zugunsten der SozialdemokratInnen zurückgezogen, um das Anti-Brexit-Lager nicht zu spalten.
Zweifellos werden die Konservativen nach dem 12. Dezember die grösste Partei bleiben. Dennoch ist die Lage nicht ganz hoffnungslos. Denn Johnson braucht eine absolute Mehrheit von rund 320 Sitzen. Wenn er die nicht erreicht, könnte Labour bereits mit mindestens 270 Sitzen eine halbwegs funktionierende Minderheitsregierung oder gar eine Koalition bilden.
Tja, Brexit
Und Brexit? Tja, Brexit. Johnson leiert sein Mantra runter, er werde den Austritt aus der EU durchführen, um den Volkswillen zu erfüllen und sich dann wichtigeren Dingen zuwenden zu können. Labour hat ihre Position mittlerweile klargemacht: Aushandeln eines neuen Vertrags mit der EU innerhalb von drei Monaten und dann eine Volksabstimmung über den Vertrag, mit dem Verbleib in der EU als Option. Das ist nicht ganz so illusionär, wie man angesichts des dreijährigen bisherigen Trauerspiels um einen Vertrag meinen könnte. Labour will ja an einer Zollunion mit der EU festhalten, was dieser entgegenkäme – weshalb man sich womöglich schnell einigen könnte. Dass Corbyn persönlich soeben erklärt hat, er würde sich in dieser Abstimmung neutral verhalten, wird ihm aber erneut als Zaudern und Entscheidungsschwäche ausgelegt.
Das grösste Hindernis für ein gutes Abschneiden von Labour scheint tatsächlich deren Chef Jeremy Corbyn. Boris Johnsons Ansehen steht in den Umfragen bei plus minus Null, die Resultate für Corbyn sind unterirdisch schlecht. Das hat immer noch historische Gründe. Seine Wahl vor vier Jahren war ein Schock, fürs rechte wie fürs linke Establishment. Die Angriffe der konservativen Medien waren voraussehbar. Doch auch innerhalb der eigenen Partei haben ihm die meisten ParlamentarierInnen nicht verziehen, dass er gegen ihren Willen von der Parteibasis gewählt worden ist. Das reicht von Misstrauen bis zu offener Feindseligkeit. Die taktische Flexibilität, mit der er die beiden Labour-Flügel in der Brexit-Frage zusammengehalten hat, ist von Beginn an als Schwäche interpretiert worden. Obwohl er sich mittlerweile in öffentlichen Auftritten durchaus gewieft und konziliant gibt, hängt ihm das Image des unverantwortlichen Linksaussen zäh an. Ob seine AnhängerInnen, die Labour ansatzweise zu einer neuen Bewegungspartei umgebaut haben, wie 2017 ihre Energie im Wahlkampf 2019 erneut fruchtbar machen können, muss sich jetzt zeigen. Labour hat noch zweieinhalb Wochen Zeit, um das Schlimmste zu verhindern.