Der neue britische Premierminister Boris Johnson bedient sich im Instrumentenkasten des Populismus. Man kennt das Muster solcher Charaktermasken mittlerweile auf der ganzen Welt. Doch anhand von Johnson lassen sich neue Facetten zur Auflösung der herkömmlichen Politik wie auch zum Verlust der bürgerlichen Hegemonie studieren. Die volatile Situation ist umso gefährlicher. Labour versucht dagegen zögerlich, ein Bündnis über die Parteigrenzen hinaus zu schmieden.
1. Ein Bild von einem Mann
Boris Johnson ist ein Kunstprodukt. Die Exzentrizität des neuen britischen Premierministers ist scharf kalkuliert. Er spielt den Tolpatsch ebenso wie den Tabubrecher. Mit Erfolg. Anekdotisch habe ich das 2007 erlebt. Als er sich damals erstmals um das Amt des Londoner Bürgermeisters gegen den bisherigen Amtsinhaber Ken Livingstone vom linken Labourflügel bewarb, meinten ein, zwei jüngere Londoner Kollegen, die ich von einem linken politischen Diskussionszirkel her kannte, sie würden ihn womöglich wählen – er sei ja noch ganz lustig und bringe etwas anarchischen Wind in die Politik. Darin steckte diese angeblich typisch englische Ironie, diese (mittelständische) Nachsicht, ja Liebe fürs Skurrile.
In seiner kürzlich erschienenen, von Fachleuten scharf kritisierten Biografie über Winston Churchill verkündet Johnson unverdrossen die Bedeutung des grossen Einzelnen für den Lauf der Weltgeschichte und stellt sich schamlos in eine solche Reihe.
Ist das lächerliche Selbstüberhebung? Nicht ganz. Immerhin war er 2016 für etliche Konservative der wichtigste Grund, ein Ja für einen EU-Austritt einzulegen, und mit einigen so gewonnenen Prozentteilen mag er womöglich den Ausschlag für den Brexit gegeben haben. Zudem bündelt er gegenwärtig die abstrusen Erwartungen einer lautstarken radikalen Minderheit in England.
Die linksliberale Wochenzeitschrift «New Statesman» spricht seit einiger Zeit von einer «Verengung des konservativen Geistes». Eine fundamentalistische Mehrheit in der Konservativen Partei ist mittlerweile bereit, fast alle Eckpunkte jahrhundertealter konservativer Politik zu opfern: das Bündnis mit den führenden Wirtschaftskreisen; den Anspruch, die ganze Nation in eine bessere – natürlich konservativ geprägte – Zukunft zu führen; die Einheit der eigenen Partei im Dienste der Machterhaltung zu bewahren; in Meinungsumfragen spricht sich eine klare Mehrheit der Tories dafür aus, selbst die britische Union von England und Schottland preiszugeben, ja, sogar Nordirland der irischen Republik auszuliefern, wenn nur der Brexit kommt, der dann im Wortsinn ein englischer Exit wäre.
Dieser Mehrheit der Tories scheint nur Johnson eine Garantie dafür zu sein, sie in das gelobte Land der splendid isolation zu führen und zugleich das erwartbare Chaos mit ein paar Witzchen und Durchhalteparolen zu verzuckern. Rationale Interessenspolitik ist durch einen Personenkult ersetzt.
Dabei sind Johnsons Qualitäten indiskutabel. Die Liste von Fehlleistungen, Peinlichkeiten und Entgleisungen nimmt kein Ende. Ja, Boris Johnson ist ein Prahlhans und ein Clown, ein Sexist und ein Lügner. Was ihn für seine Fans gerade attraktiv macht. Seine Fehler werden als Stärken verklärt. Noch kaum je ist ein neuer britischer Premierminister von vornherein so polarisiert wahrgenommen worden.
2. Polarisierung
Vorausgegangen ist natürlich in den USA Donald Trump. Dessen persönlicher Narzissmus, ideologische Lagermentalität und Politik im Interesse spezifischer Klientel haben die USA tief gespalten. So wie die republikanische Partei ihren einstigen Anspruch, die ganze Nation zu repräsentieren, endgültig aufgegeben und die Moderaten marginalisiert hat, so haben jetzt die Brexiteers das Konzept der One-Nation-Tories zerstört.
Jede bewusste Polarisierung von rechts bedeutet allerdings eine mehr oder weniger bewusste Preisgabe eines hegemonialen Projekts, das heisst möglichst viele subalterne Klassen und Interessengruppen unter bürgerlicher Führung einzubinden. Der Thatcherismus versuchte dies trotz seiner scharfen Klassenpolitik mit einer Stärkung individueller Aufstiegsmöglichkeiten, und noch der sozialdemokratische Dritte Weg mit seiner Übernahme neoliberaler Eckwerte bei gleichzeitiger sozialer Abfederung anerkannte dieses Modell implizit. In Grossbritannien ist die Situation spätestens mit Brexit volatil geworden, sowohl nach oben wie nach unten. Die Brexiteers haben eine scharfe Abgrenzung von Kreisen der Wirtschaft in Kauf genommen, die einen gemeinsamen, möglichst reibungslosen Freihandelsmarkt mit der EU wünschen. Die wichtigsten IndustrievertreterInnen wie praktisch alle Mainstream-ÖkonomInnen warnen entsprechend vor einem harten Brexit.
Boris Johnson hat den Brexit vor allem als Königsweg zur persönlichen Machteroberung beschritten. Um den Verlust bisheriger politischer Partner zu kompensieren, setzen er und seine Koterie einerseits auf den Personenkult und reagieren andererseits mit einem opportunistischen Populismus. So hat er die von den vorangegangenen konservativen Regierungen bislang als schmerzhaft aber notwendig verkaufte Austeritätspolitik mehr oder weniger offen aufgegeben. Wie schon während der Brexit-Abstimmung mit den berüchtigten 350 Millionen Pfund, die nach einem EU-Austritt pro Woche für den Gesundheitsdienst frei würden, verspricht Johnson wiederum das Blaue vom Himmel herunter und verteilt freigiebig Wahlgeschenke an jene Wählersegmente, die er dringend an sich binden muss. Steuersenkungen sollen mit mehr Investitionen für die Polizei und das Gesundheitswesen einhergehen. Solche Klientelpolitik mag kurzfristig ein paar Stimmen bringen, aber mittelfristig werden die nicht gehaltenen Versprechungen das Misstrauen gegenüber der «Politik» und die zentrifugalen Kräfte verstärken.
3. Hegemonie
Was die Frage nach der hegemonialen Kraft der Borismanie aufwirft. Hegemonie bedeutet ja mehr als blosse Wahl- und Abstimmungssiege. Sie bedeutet die längerfristige Einbindung einer Bevölkerungsmehrheit in ein von oben bestimmtes Projekt, durch das Angebot plausibler Lebensentwürfe und einer lebbaren Alltagsphilosophie, durch offen gehaltene und neu angebotene Handlungsfähigkeiten.
Boris Johnson vermag das nicht zu leisten. Schon jetzt kann er nur mit prekären und wechselnden Koalitionen regieren. Ein Projekt, die Interessen in einem breiten Bündnis zusammenführen könnte, ist das nicht. Vielmehr versucht sich eine Minderheitsfraktion als Allgemeinwille auszugeben.
Der deutsche Philosoph Wolfgang Fritz Haug hat vor über dreissig Jahren am Konzept einer Hegemonie ohne Hegemon herumgedacht und sie als strukturelle Hegemonie bezeichnet. Dies Mitte der achtziger Jahre angesichts einer Situation, in der eine linke Führungskraft nicht mehr sichtbar war. Aber die Überlegungen lassen sich auch nach rechts anwenden. Wenn Johnson kein hegemoniales Projekt anbietet, so halten uns dennoch die herrschenden neoliberalen Verhältnisse und Denkformen weiterhin gefangen, in einer strukturellen Hegemonie eben.
Diese Einschätzung wirft die Frage auf, ob es sich bei den gegenwärtigen Politiken in den USA und in Grossbritannien tatsächlich um eine weiter reichende Strategie, gar eine neue Epoche handelt. Der Publizist Paul Mason (Autor von «Postkapitalismus») hat das kürzlich in einem Interview mit dem Onlinemagazin «Republik» bejaht. Für ihn ist der Neoliberalismus mit der Finanzkrise 2008 «zusammengebrochen» und bedeutet Trump einen «definitiven Epochenwechsel». Die US-Elite, oder die herrschende Klasse, habe sich gespalten, und eine neue plutokratische Klasse sei an die Macht gekommen. So weit ist das plausibel. Aber die weiteren Auskünfte dazu sind im Detail nicht immer konsequent. Mason unterstellt Trump und den von ihm vertretenen Kapitalfraktionen ein kohärentes Projekt. Einerseits sagt er: «Trumps Botschaft lautet: ich werde den amerikanischen Neoliberalismus am Leben erhalten, auch wenn das bedeutet, dass ich anderen Ländern den Wirtschaftskrieg erklären muss. Trump predigt eine Grossmachtsversion des Neoliberalismus.» Andererseits redet Mason von einer «Nationalisierung des Neoliberalismus» durch Trump. Aber wirtschaftliche Grossmachtpolitik und Nationalismus sind doch tendenziell zwei verschiedene Dinge? «America first» arbeitet zwar mit knallharter Interessenspolitik, mit Protektionismus und Aushöhlung multilateraler Strukturen. Das mag die transnationalen Wirtschaftsbeziehungen zwar stören, aber es nationalisiert sie noch nicht. Viel eher liesse sich von einer Gleichzeitigkeit auf verschiedenen Ebenen sprechen. Was die Reibungsverluste erhöht.
4. Old Etonians
In Grossbritannien bedeutet die Person von Boris Johnson Symptom einer anderen sozialen Verschiebung, die dem Aufstieg von Trump in manchem parallel läuft, in anderem gerade widerspricht. In der «London Review of Books» zeichnet James Wood, selbst ein ehemaliger Absolvent der Eliteschule Eton, nach, wie deren Absolventen, die Old Etonians wieder an die Macht drängen und welches Weltbild in ihnen steckt: Sie verbinden eine plutokratische Gesellschafts- mit einer neoliberalen Wirtschaftsauffassung und einer Nostalgie fürs entschwundene Empire. Zentral allerdings ist der selbstverständliche Führungsanspruch, an die Schalthebel von Geld und Macht zu gehören. Dieses Grundverständnis ist eher ein Instinkt denn eine ausgeprägte Ideologie. Sachgerecht, technokratisch gesehen ist die Politikfähigkeit der herrschenden Klasse in England schwer beschädigt. Man muss sich nur die Abfolge der letzten konservativen Premiers anschauen: von der schrecklich tatkräftigen Margaret Thatcher über den aufrechten, blassen John Major zum aalglatten, inhaltsleeren David Cameron und zur starrsinnig unfähigen Theresa May bis zum Witzbold Boris Johnson. Unter der Regierung von Theresa May wurde eine Rekordzahl von MinisterInnen verschlissen, die nichts zustande gebracht haben. Die Brexit-Verhandlungen wurden von britischer Seite her dilettantisch geführt (mit partieller Beteiligung von Johnson); die seit zwei Jahren immer wieder propagierten neuen grossartigen Freihandelsverträge sind jämmerlich verschlampt worden. Das ursprüngliche Feld der NachfolgekandidatInnen für Theresa May war ein Gruselkabinett an Untoten, Unfähigen und Unbekannten.
5. Angriff der Hedge Funds
Bei Johnson könnte man geradezu von einer Auflösung der Ideologie und des Politischen sprechen, theoretisch wie praktisch. Sein jetziges Regierungsprogramm, mit dem er bereits Wahlkampf betreibt, umfasst drei Punkt: den Brexit zu liefern, mehr Geld für die Sicherheit und die Bekämpfung der Kriminalität sowie fürs Gesundheitswesen bereitzustellen. Alle drei Punkte sind populistisch durch Meinungsumfragen gesteuert – wobei er das letztere Thema Labour streitig zu machen versucht.
Rechts vom Opportunisten Johnson stehen allerdings die Ideologen Nigel Farage und Jacob Rees-Mogg bereit. James Meek hat ebenfalls in der «London Review of Books» deren Hintergrund analysiert. Beide gehören sie zum Finanzkapital. Die Zeitschrift «Private Eye» hat dokumentiert, wie viele Hedge-Fund-Manager auf Johnson gesetzt haben, indem sie seine Kandidatur finanzierten, zugleich angesichts der erwarteten Turbulenzen auf eine Schwächung des Pfunds setzten. Farage und Rees-Mogg handeln global und sind zugleich nationalistisch gesinnt. Das scheint ein Widerspruch. Aber es ist ein Widerspruch, den sie durchaus profitabel leben. Der finanzgetriebene globale Neoliberalismus steht für sie strukturell ausser Frage. Auf der individuellen Ebene kann man problemlos davon abweichen.
Und es ist ein Widerspruch, den sie offensiv vertreten. Der klassische Neoliberalismus hält ideologisch noch an einer Meritokratie fest. Das verleiht ihm eine gewisse egalitäre Faszination (obwohl diese real nicht eingelöst werden kann). Selbst Silicon Valley kann sich in dieses Konzept einfügen, mit gesellschaftspolitisch liberalen Vorstellungen. Der neoliberale Rechtskonservatismus hingegen will die wirtschaftlichen Gewinne strikt klassenspezifisch verteilen. Zum Zug kommt ein Patronage-System. Kulturell und gesellschaftspolitisch gesehen haben sich Rees-Mogg und Farange zugleich zu den absurdesten Vorstellungen verstiegen: etwa eine Stärkung der Monarchie oder eine Rückkehr zum imperialen Masssystem.
Diese Mischung kann kurzfristig, in einer bestimmten Konstellation mehrheitsfähig werden, in England im Falle von Brexit. Brexit hat das ganze politische Koordinatensystem verschoben. Aber auf der strukturellen Ebene gilt nach wie vor: Wir leben und handeln in der kapitalistischen Schuld- und Zins-Wirtschaft, sind etwa auf die Verzinsung unserer Pensionsgelder angewiesen. Deshalb skandalisieren die schamlos im Selbstinteresse erfolgenden wirtschaftlichen Taten der Brexiteers nicht so stark wie man das erwarten (erhoffen) könnte, etwa wenn der englische Erznationalist Rees-Mogg den Sitz seines Hedge Funds nach Irland verschiebt.
Das ist gegenwärtig deprimierend erfolgreich und nicht zu unterschätzen. So wie die Clowns weltweit nicht zu unterschätzen sind. Doch brauchen sie die ständige Erregung – was kommt nach dem Brexit? Die Schürung des Chaos bleibt jederzeit volatil und kann nicht hegemonial wirken. Damit stellen sich für eine erfolgreiche Gegenpolitik andere Aufgaben.
6. Das politische Vakuum
Dabei zeigt die «älteste Demokratie der Welt» im Angesicht des Brexit ihre demokratischen Defizite. 160’000 Parteimitglieder der Konservativen haben bestimmt, wer der nächste britische Premierminister wird, ohne weiteres Volksmandat. Die angebliche Wiedergewinnung der nationalen Souveränität durch die Abkoppelung von der EU ist von Premier Johnson bereits bei der ersten Intervention von US-Präsident Trump wegen eines unbotmässigen Botschafters mit einem Kniefall konterkariert worden, und eine Teilnahme am Begleitschutz im Persischen Golf wird als stolze heroische Tat verkauft, die ans Empire anknüpfe. Die wüsten Beleidigungen gegenüber der EU und vor allem Irlands erinnern an die Kolonialherrschaft, werden aber durch bedingungslose Vasallentreue zu den Trump’schen USA kompensiert.
Umgekehrt sucht das Parlament verzweifelt seine Verfügungsmacht durch arkane Verfahren zu sichern. Im Wahlkampf wie auch nach seiner Wahl hat sich Boris Johnson nicht von der Idee distanziert, er könne, um einen Austritt aus der EU auf den 31. Oktober durchzusetzen, das Parlament kurzzeitig suspendieren – was einem kalten Staatsstreich gleichkäme. Dagegen wehrten sich Unter- wie Oberhaus, indem sie ein Gesetz verabschiedeten, wonach die Regierung zweiwöchentlich über die Fortschritte bei der Aufrechterhaltung des Friedensprozesses in Nordirland berichten muss – womit das Parlament nicht beliebig suspendiert werden kann. Soeben hat auch Parlamentspräsident John Bercow verkündet, dass er sich einer Suspendierung mit allen Mitteln entgegenstemmen wolle.
Mittlerweile denkt Johnson an einem anderen kalten Staatsstreich herum. So könnte er das Parlament auflösen und während des Wahlkamps als Interimsregierung am 31. Oktober den «Volkswillen» und den Brexit vollziehen. Damit hat er zwar die meisten Verfassungsrechtler gegen sich aufgebracht, aber er befeuert erneut den Gegensatz von «politischer Klasse» und «Volk».
Labour findet immer noch kein Gegen-Narrativ, im Gegenteil. Die Partei bleibt weiterhin in der Defensive. Der Austritt einiger ParlamentarierInnen vom rechten Flügel und die Gründung einer neuen Gruppierung Change UK ist zwar vorläufig verpufft. Doch der von aussen geschürte und innen unzulänglich behandelte Vorwurf, antisemitische Positionen zu dulden, beschädigt das Image weiter.
Das taktische Zugeständnis, gegen einen Deal der Tories eine Volksabstimmung einzufordern und sich dabei für ein Verbleiben in der EU einzusetzen, verschaffte kurzfristig etwas Spielraum. Eine neue programmatische Ausrichtung kann von Labour kurzfristig aber nicht erwartet werden, etwa im Hinblick auf einen neuen solidarischen Internationalismus oder auf eine umweltverträglichere Politik. Da hält Extinction Rebellion den punktuellen radikalen Widerstand aufrecht, während die Grünen bei den EU-Wahlen Fortschritte gemacht haben, ohne dass sich das bislang bewegungsmässig umsetzen liesse.
Es gibt zwar kleine Lichtblicke. In Sheffield ist mit Magid Magid ein somalischer Migrant als EU-Abgeordneter gewählt worden. Bei der jüngsten Nachwahl zum Parlament in Westminster haben die Liberaldemokraten den Konservativen ein Parlamentsmandat abgejagt und Johnsons nominelle Mehrheit auf einen einzigen Sitz reduziert. Aber das Resultat stimmt nur gemässigt optimistisch. Erstens fiel es knapper aus als zu erhoffen war. Wenn die Rechte nicht zwischen Konservativen und Brexit-Partei gespalten gewesen wäre, hätte es für die Opposition nicht gereicht. Labour hat bei den Wahlen keine Rolle gespielt. Zustande kam das Resultat, weil die Grünen und die walisischen Nationalisten auf eine eigene Kandidatur verzichteten. Das ist andererseits strategisch hoffnungsvoll: ein taktischer Zusammenschluss der Remainer.
Tatsächlich versucht Jeremy Corbyn ganz aktuell, im Parlament mit allen Oppositionsparteien und mit gemässigten Konservativen ein Misstrauensvotum gegen Boris Johnson zustande zu bringen. Danach würde er bis zu Neuwahlen eine Interimsregierung anführen; und Labour würde mit dem Versprechen eines zweiten Referendums in diese Wahlen steigen. Nicht weiter diskutiert bleibt allerdings die bisherige Brexit-Strategie, mit der EU einen neuen Austrittsvertrag mit einem Verbleib in einer Zollunion auszuhandeln – was eine ökonomistische Reduktion der Beziehung zu «Europa» darstellt. Nötig wäre vielmehr, meint der Kultur- und Politanalytiker Jeremy Gilbert von der University of East London, eine neue politische Arrondierung mit und über Labour hinaus, eine Koalition progressiver Kräfte. Paul Mason hat im «Guardian» dafür den altertümlichen und eher fragwürdigen Begriff einer Volksfront vorgeschlagen. Labour kann sich dem offiziell nicht anschliessen, aber vielleicht implizit auf lokaler und regionaler Ebene. Wenn der Corbynismus als Bewegung von unten überleben will, dann hat er hier seine Aufgabe und Bewährungsprobe.