Vor fünzig Jahren erchien bei Reclam Leipzig von Anna Seghers der Essayband “Glauben an Irdisches” Aus Anlass dieses kleinen Jubiläums möchte ich an den titelgebenden Text “Glauben an Irdisches” und seine bleibende und wiedergewonne Aktualität erinnern.
Der Text trägt das Datum 1948 und hat auf den ersten Blick die Frage des Friedens und des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg zum Thema. Ebenfalls auf den ersten Blick scheint der Text etwas überkonstruiert. Er mäandert zwischen Ost und West, genauer zwischen Paris und Warschau, nimmt andeutungsvoll verschiedenste Motive in Dienst und setzt ein geradezu aus der Luft geholtes Leitmotiv ein, das immer wieder kommt. Es ist die Sainte Chapelle in Paris, die von Ludwig dem Heiligen erbaut wurde, eines der ersten gotischen Bauwerke überhaupt und deren Hunderte bunte Glasfenster in beiden Weltkriegen zum Schutz demontiert und in alle Landesteile verschickt worden sind, um sie nach Friedensschluss in mühsamer und langwieriger Sorgfalt wieder einzeln einzusetzen.
Auf den ersten Blick ist der Essay ebenfalls sehr zeitbedingt, denn die historischen Ereignisse, die verhandelt werden, werden nur in andeutungsvollen Halbsätzen genannt. Zum Beispiel die gescheiterte Londonerkonferenz von 1947, wo der letzte Versuch der vier Besatzungsmächte, eine gemeinsame politische Perspektive für Deutschland zu erreichen, im Eklat geendet hatte, die Friedenskonferenz von Wrozlaw in Polen oder der grosse Eisenbahnerstreik von 1947 in Frankreich usw.
Aber die zentrale Aussage, worin sich der westliche und der östliche Antifaschismus der ersten Nachkriegsjahre in der offiziellen Rhetorik, aber auch real unterscheiden, sitzt auch heute noch messerscharf: „Ein Widerstand gegen den äusseren Feind entpuppt sich bald als Widerstand gegen innen, gegen alle Kräfte, die vorwärts streben. In der Chambre de Députeés sitzen die Kommunisten mit den anderen Parteien. Ihr Anteil am Widerstand ihres Volkes gegen die Nazibesetzung war so gewaltig gewesen, dass es schwer schien, das Spiel wieder zu beginnen, das vor dem Krieg misslungen und vor der Befreiung unmöglich gewesen war: sie von ihrem Volk zu isolieren und abzuschütteln. Die junge Volksrepublik, die sich im Osten nach der Befreiung durch die Rote Armee gebildet hat, zog ihre Kraft gerade aus den Menschen, die Rückhaltlos den Faschismus bekämpft hatten. Sie waren, verfolgt und versteckt, der Kern ihres Volkes gewesen, sie sind jetzt offen der Staat. Die kommunistischen Minister in Paris werden im Mai 1947 durch Dekret aus der Regierung entfernt.“
Aber der Blick auf den Osten wirkt hier auch wie ein undifferenzierter Seitenblick, das Schwergewicht der Analyse gilt den Verhältnissen in Frankreich, oder wahlweise Italien, wo die Geschichte der kommunistischen Partei eine ähnliche oder eine noch tragischere Rolle spielt. Die Gründe freilich, warum der Antifaschismus in den ehemaligen realsozialistischen Ländern genauso wenig nachhaltig war, lässt sich selbstredend bei Seghers noch in keiner Art und Weise erahnen.
Ich möchte nun zwei Motiven in diesem Essay nachgehen, erstens um zu zeigen wie kunstvoll dieser Essay in seinem Aufbau ist und zweitens um an ihnen zwei typische Momente des Segherschen Denkens zu zeigen. Es sind dies:
1. Das Leitmotiv Ost und West: Das naive und schwärmerische Moment im Realismus von Anna Seghers.
2. Das Leitmotiv Sainte Chapelle von Paris: Seghers Verhältnis zu den «feinen» (Walter Benjamin) Dingen.
1. Zum Realismusbegriff bei Anna Seghers
Historisches Hauptstück der wie gesagt seltsam unstimmigen und konstruierten Parallelisierung von Ost und West ist die drohende Trennung am Anfang des Kalten Kriegs. Anlass dazu ist der Weltfriedenskongress in Wroclaw, dem ehemaligen Breslau, der bereits ganz im Zeichen des Kalten Kriegs stand und daher in Ost und West nicht unterschiedlicher hätte aufgenommen werden können.
Um zunächst die Stimmung, die im Westen, namentlich in Westdeutschland im Herbst 1948 als dieser Kongress stattfand herrschte, zu illustrieren und die vielen Bezüge und Anspielungen, die Anna Seghers in ihrem Essay dagegen aufbietet, verständlicher zu machen, möchte ich einige längere Ausschnitte aus einem Text vom Spiegel Nr. 34 von 1948 über die Friedenkonferenz von Wroclaw zitieren. Für mich als Schweizer ist es kaum zu glauben wie viel ungebrochener Revisionismus hier drei Jahre nach dem NS-Staat in diesem Land gedruckt werden konnte. Satz für Satz, ja Wort für Wort trieft hier von der alten nationalsozialistischen Vermischung zwischen ethnischer Verachtung gegenüber den Polen und Angst vor dem Bolschewismus, die im nun beginnenden Kalten Krieg sich bereits wieder gefragt und aufgehoben weiss. Unter dem Titel „Gestank des Verfalls. Auf vorgeschriebenen Wegen“ ist folgendes geradezu höhnisches Pamphlet zu lesen:
„Schlesiens einst so stolze Hauptstadt beherbergte illustre Gäste. Breslau, von seinen derzeitigen Verwaltern Wroclaw genannt, wurde zum Schauplatz des “Weltkongresses der Intellektuellen”.Vor den Trägern vielgedruckter Namen aus der Welt des Geistes öffnete sich selbst der mit polnischem Eisen bewehrte Vorhang an der Grenzstadt Guben. Vor dem englischen UNESCO-Generalsekretär Julian Huxley, der französischen Forscherin Joliot-Curie, Dänemarks Dichter Andersen-Nexö und vielen anderen mehr. Auch vor einigen Ost-Deutschen. (…)
Die Warschauer Regierung, die seit 1945 ein paar hunderttausend Deutsche aus Breslau vertrieben hat, hielt Wroclaw für den geeigneten Tagungsort eines Weltfriedenskongresses. Polen wollte den intellektuellen Augen der Welt seine Aufbau-Ergebnisse in den “wiedergewonnenen Westgebieten” vorführen. Keine Propagandanote blieb ungesungen. (…)
An die fünfhundert Schriftsteller, Künstler und Gelehrte aus 25 Nationen besichtigten vom Hotel “Monopol” aus Hitlertrümmer und polnischen Aufbau. Auf vorgeschriebenen Wegen. (…)
Die historischen Zeugen polnischer Kultur-Jahrtausende waren allerdings erheblich dünner gesät als die soviel mehr in die Augen springenden Bauten aus acht deutschen Jahrhunderten: das gotische Rathaus, ein paar Kirchen aus der gleichen Epoche und die barocke Universität an der Odra (Oder). Jedoch hieß Professor Kostrzewski vom “Wissenschaftlichen Rat für die Westgebiete” die Gäste hoffen. Eine groß angelegte Ausgrabungsaktion sei beabsichtigt. Zur Klärung des wahren Geschichtsbildes dieser Gebiete.
Wroclaws internationale Gäste brachten Verständnis dafür auf, daß im wirtschaftlichen Aufbau Neu-Polens noch bedauerliche Lücken zu verzeichnen sind. Hatten sich doch die Polen in der zu mehr als der Hälfte zerstörten Stadt zunächst auf Improvisationen beschränken müssen. Geraume Zeit war die gesamte Wirtschaftskraft der neuen Herren durch die Bergung und Verwertung des von den Vorbesitzern hinterlassenen Gutes voll in Anspruch genommen. (…)
Ueberall in den Straßen aber waren schon Hunderte von Buden und Kramläden aus dem Boden gewachsen. In Verbindung mit der kürzlich eröffneten Ausstellung des Wiederaufbaus in den Westgebieten waren selbst neue Häuser gebaut worden. Auf der rechten Odraseite allerdings mehr als auf der linken. Offenbar trauten manche Unternehmer dem Bestand des wiedererworbenen Besitzes auf dem linken Ufer nicht recht.
Die intellektuellen Kongreßler sahen neben Automobilen zahlreiche Bauernwagen durch die Straßen rollen. Sie kamen vom Markt auf den Rynek (Ring). Auf manchen Plätzen weideten Pferde, auch Kühe. Zigeuner ließen Bären tanzen. In kurzen drei Jahren, seit die ersten Siedler auf dem Tauentzienplatz ihre Pferde tränkten und staunend die Ueberreste westlicher Zivilisation erblickten, hat sich bereits der ganze Zauber einer ostpolnischen Bezirkshauptstadt entwickelt.
Einige zerlumpte Gestalten, die scheuen Blickes an Häusern und Ruinen entlang huschten, konnten das harmonische Bild nicht stören. Sie gehörten zu den wenigen Hundert aus der deutschen Zeit Uebriggebliebenen. Gegenüber weit mehr als 200 000 Polen sind sie in hoffnungsloser Minderheit, während früher rund 600 000 Deutsche einigen hundert Polen gegenüberstanden. Die polnischen Gastgeber der Welt-Intellektuellen sprachen von der ausgleichenden Gerechtigkeit der Geschichte. (…)
Auch in der ländlichen Umgebung von Wroclaw, wo ein Teil der Kongreßteilnehmer Unterkunft gefunden hatte, war der Aufbau unverkennbar. Schon 1946 hatte nach amtlichen polnischen Angaben die Ernte in den Westgebieten volle 10 Prozent der Erträge von 1937 erreicht. Im folgenden Jahr, als die Mehrzahl der deutschen Bauern ausgewiesen war, ging sie allerdings wieder etwas zurück. Doch man hofft für dieses Jahr auf ein erneutes Ansteigen. Die größte Schwierigkeit liegt im Mangel an Menschen. An polnischen Menschen.
Aber selbstverständlich hat auf diesem Kongress die stalinistische UdSSR auch nicht geschlafen: Gleich nach der Eröffnung der glanzvollen Versammlung am 25. August durch Polens Außenminister Modzelewski ergriff der Schriftsteller Alexander Fadejew als Führer der Sowjetdelegation das ihm gebührende Wort. Erwartungsgemäß rangierte die Sowjetunion in seiner Werteskala als Nr. 1.
“Sowjetrußland”, so sagte er, “trägt die Menschheit auf seinen Schultern. Das menschliche Glück steht unter seinem Schutz. Wir leben in einer Zeit, in der alle Wege zum Kommunismus führen.” Die Amerikaner seien die Anstifter eines neuen Krieges. Ihre Kultur atme den “Gestank des Verfalls”. Dasselbe tue die britische Dekadenz.
Die Gegenargumente der Angegriffenen hatten längst nicht die durchschlagend beleidigende Kraft Fadejews. Dieser hatte Dichter wie Sartre, Dos Passos, O’Neill und Eliot mit den Worten charakterisiert: “Wenn Hyänen maschineschreiben und Schakale einen Füllhalter gebrauchen könnten, würden sie so schreiben wie jene!”
371 dem Geiste Fadejews gleichgeschaltete Intellekte unterzeichneten am Ende des vierten durchdiskutierten Tages die Schlußresolution. Der Westen beschwöre eine neue Kriegsgefahr herauf, war deren Quintessenz.
Als UNESCO-Huxley den neupolnischen Staub von den Füßen geschüttelt hatte und wieder Pariser Luft atmete, war es sein erstes, seine Teilnahme in Breslau zu entschuldigen. Die Organisatoren des Kongresses hätten ihre Zusicherung, sich nur mit intellektuellen und kulturellen Fragen zu beschäftigen, bedauerlicherweise nicht eingehalten. Eine “Versöhnung der östlichen und westlichen Ansichten” habe nicht stattgefunden. Er bedauere aufrichtig, daß dies nicht geschah.“
Soweit der Spiegelbericht.
Anna Seghers, die vom Standort Paris aus die östlichen Ansichten vertritt, berichtet die Episode etwas anders, etwas naiver und streng bemüht, den Kalten Krieg und die endgültige Trennung der Menschen in Ost und West zu verhindern, Zitat: „Die westlichen Teilnehmer des Weltfriedenskongress von Wroclaw sind in Paris gelandet. Die französischen Delegierten, die ihre Stimme geschlossen der Resolution des Kongresses gaben, sie gaben auch mit der Marseillaise geschlossen dem Kongress seinen Abschluss.“ Und sie setzt euphorisch hinzu, dass dieser Abschluss, der Auftakt von allem sei, was aus dem Kongress hervorgehen werde.
Der vernichtende Ton, den der Spiegel anschlägt und die Hoffnung, die Anna Seghers in diesen Kongress legt, könnten nicht weiter auseinanderliegen. Und aus heutiger Sicht erscheint Seghers Haltung auch nur noch naiv und ohne jeden Realitätssinn. Und doch nicht ganz, hören wir uns an, in welcher Differenziertheit sie im Essay die beginnende Dichotomie des Kalten Kriegs zwischen Ost und West unterläuft, indem sie einerseits zeigt, dass gerade diese Trennung ein direktes Erbe des Hitlerfaschismus ist, das nur in der Tradition des Antifaschismus aufgebrochen werden kann und indem sie folgerichtig die Trennlinie zwischen Ost und West durch die Relativität der Perspektive in unterschiedlichen Zeiten dekonstruiert. Die entsprechenden Stellen lauten folgendermassen:
1. Die unterschiedlichen Kriegserfahrungen
„Das erste Kriegsjahr hatte für Polen keinen „drôle de Guerre“ gebracht wie in Frankreich, sondern einen grausamen Überfall. Hitler spreizte den freien Fuss nach dem Westen. Seine Soldaten brachten für den Westen andere Gebrauchsanweisungen mit als für den Osten.“
2. Die Universalität des antifaschistischen Widerstands
„Was aus diesen beiden Teilen der Festung Hitlers zueinander drang, der Widerstand im Westen, aus Polen solche Ereignisse wie der Warschauer Aufstand und der Aufstand im Warschauer Ghetto, das hat den Menschen gezeigt, was der Faschismus auch wenn er die Macht hat, nicht kann.“
3. Die Symbolik der Völkerverbindung nach dem Krieg
„Auf dem Getto von Warschau ist im Frühjahr das Denkmal des französischen Bildhauers Rappaport eingeweiht worden.“
4. Die historische Relativierung von Ost und West
„Östlich begann im zwölften Jahrhundert von Paris aus gesehen schon am Rhein.“
„Weil Frankreich zweifellos im Westen Europas liegt, vergisst man wie beängstigend östlich Paris erscheint, wenn man es von Amerika aus betrachtet.“
Die Feststellung der Naivität ist aber trotzdem in gewisser Hinsicht richtig für Anna Seghers. Allerdings muss man sich diese Naivität oder diese manchmal «mädchenhafte Schwärmerei», wie sie auch etwa genannt wurde, etwas näher ansehen. Denn es ist eine Naivität mit Methode, eine Art zweite Naivität, eine Weigerung, die Intuition oder die ersten frischen Impulse, die man von einer Sache oder einem Verhältnis hat, von Rationalisierungserfordernissen überfluten zu lassen. Im Essay „Glauben an Irdisches“ weigert sich Seghers, die Möglichkeit der Verständigung zwischen Ost und West bereits 1948 preis zu geben, obwohl nichts mehr darauf hindeutet. Anna Seghers demonstriert mit dieser bewusst durchgehaltenen Naivität eigentlich nichts anderes als eine Position, die sie im berühmten sogenannten Expressionismusstreit in Briefen gegenüber Georg Lukacs vertreten hat. Diese Debatte findet in den späten 30er Jahren statt. Es geht um das, was man sozialistischen Realismus nennt und vor allem um das, was dem entgegensteht – und darin vor allem um die Frage, ob denn eine Kunstrichtung wie der Expressionismus nicht eigentlich direkt in den Faschismus münde.
Anna Seghers wehrt sich dagegen mit bis heute wichtigen Argumenten. Sie ruft unter anderem Tolstoi zum Zeugen. Der künstlerische Schaffensprozess nach Tolstoi sei zunächst ein zweistufiger. Es gehe zuerst darum, die Dinge so zu sehen, als hätte sie vorher noch nie jemand gesehen und zweitens, das, was man also nur intuitiv und gleichsam unbewusst eingesogen hat, sich wieder bewusst zu machen. Aber, und das ist dann der Punkt, mit dem sie Lukacs widerspricht, es käme eben nicht darauf an, nur die zweite Ebene zu entwickeln. Auch wenn es Zitat: „unendlich wichtig ist, über diese erste Stufe der primären Reaktion hinauszukommen, so ist es nicht minder wichtig, nie zu vergessen, dass eben jene primäre Reaktion die Vorbedingung ist, die Voraussetzung des künstlerischen Schaffens, ohne die man ebenso wenig zu einer Synthese kommt, wie ohne Methode.“ Anna Seghers polemisiert in diesem Streit mit harten Worten gegen jene, die ihrer Meinung nach den Realismus wie ihn Lukacs vertritt mechanistisch umsetzen: „In den letzten fünf Jahren sind öfters Genossen zu mir gekommen, begabte, wenig begabte und unbegabte, im Vollbesitz der Methode des Realismus, Gestalter, nicht Beschreiber, so glaubten sie wenigstens. Was mit dem „Zauberlehrling“ passierte war noch eine Idylle, gemessen an dem, was diese Freunde anrichteten. Sie hatten es fertig gebracht die Welt ganz zu entzaubern. Bei ihnen war jene primäre Reaktion ganz verschüttet.“
Wenn für Lukacs der Realismus eine strenge Methode ist, so ist er für Anna Seghers beinahe das Gegenteil. Zumindest darf der realistische Blick den Zauber der ersten Wahrnehmung nicht austreiben, ja realistisch ist eine Kunst wohl erst, wie wir noch sehen werden, wenn sie gestützt wird durch die feinen Dinge, wie Benjamin sagen würde. Oder aber es geht ihr auch darum, wie sie einmal in Bezug auf Schiller schreibt, darum die „Achtung vor den Träumen“ der Jugend zu erhalten.
Den „Essay Glauben an Irdisches“ schreibt Seghers zehn Jahre später. Ein Weltkrieg liegt dazwischen, aber nun ist auch mit den sozialistischen Staaten und der damit verbundenen Aufhebung der von Marx postulierten prinzipiellen Feindschaft zwischen Kapitalismus und Kunst, plötzlich eine ganz andere Relevanz des Streits um eine realistische Kunst da. Dieser Streit ist jetzt nicht mehr hypothetisch wie noch 1937, wo sie ihn mit Lukacs führte, sondern quasi staatlich entschieden im Programm des sozialistischen Realismus.
Und wohl hat, so möchte ich einmal ohne falsches Pathos behaupten, abgesehen vielleicht noch von Hermann Kant oder Peter Hacks nur Anna Seghers von denen, die an diesen sozialistischen Realismus geglaubt hatten, ihn wirklich umsetzen können. Nämlich so, dass die verlangte Parteilichkeit nicht (fast nicht) nach Parteipropaganda roch. Geschafft hat sie dies vor allem dank ihrer konsequenten und streng durchgeführten Naivität, die wir in unserem Essay als streng durchgehaltene scheinbar naive Parallelisierung zwischen Ost und West wiederfinden. Und damit zurück zum Text:
Anna Seghers schreibt nüchtern und historisch genau zur Situation von 1948: „Nach der Londoner Konferenz geht der Trennungsstrich zwischen Ost und West.“ Und: „Das Misstrauen gegen den Völkerbund wird nach und nach auf die UNO übertragen. Der eiserne Vorhang, die Front des eisernen Blocks im Westen wird immer zäher, je mehr Eisen dort in den realen Fabriken geschmiedet wird.“ Das heisst, dem westlichen Sprechen vom östlichen eisernen Vorhang setzt sie einfach das westliche Schmieden des Eisens in der sich bereits abzeichnenden Montanunion im Ruhrgebiet entgegen, Eisen, das auch damals bereits zur Aufrüstung verwendet wird.
Und dann sagt sie den Satz: „Der Marshall Plan hat so viel und so wenig mit der Kapelle des Heiligen Ludwig zu tun wie die Glasfenster mit der Schwerindustrie.“ Dieser Satz hat es in sich. Er ist im Kontext einer sozialistischen Wirklichkeitsauffassung äusserst mehrdeutig. Denn die Schwerindustrie ist im Osten alles, Baustile wie der gotische gelten als dekadent sind viel zu viel l’art pour l’art und viel zu wenig funktional. Denn vergessen wir nicht, genauso wie der nationalsozialistische Diskurs von den slawischen Untermenschen und dem unterentwickelten Osten sich im Antikommunismus des Kalten Kriegs nahtlos fortsetzte, so vom Ostblock aus gesehen, die faschistische Diffamierung des Westens als dekadent und verweichlicht. Mit diesem so viel und so wenig zeigt sie: gelebter Antifaschismus heisst vor allem auch gegen die Trennungen, die der Kalte Krieg mit sich bringt anzukämpfen, weil dieser die Wertigkeiten und Spaltungen des Faschismus einfach mit anderen Mitteln fortsetzt. Etwas, was uns heute nicht mehr bewusst ist, nämlich wie sehr der Faschismus im Kalten Krieg seinen späten Sieg errungen hat, ist Anna Seghers damals schon sehr bewusst. Und man ist dabei an Walter Benjamin erinnert, der in der achten These schreibt, dass es die grosse Chance des Faschismus sei, dass seine Gegner den Fehler machten, ihn als historisches Phänomen zu betrachten, dessen Zeit irgendwann automatisch vorbei sei. Diese messerscharfe Entlarvung des Kalten Krieges als Fortleben der faschistischen Ideologie mit anderen Mitteln ist auch hinsichtlich der Frage, die Anna Seghers in vielen Werken umtreibt sehr wichtig, ob denn der Faschismus angesichts seiner Stärke und Zerstörungskraft überhaupt einmal vernichtend geschlagen werden kann.
Aus diesem Grund versucht Seghers mit diesen ständigen und bemühenden Gleichsetzungen und Parallelisierungen das faschistische Erbe bis in seine Ritzen zu unterlaufen, indem sie statt auf Spaltung auf Vermischung setzt. – So viel und so wenig heisst aber auch, dass der Marshall Plan genauso die symbolische Implementierung einer Herrschaft ist wie die Sainte Chapelle zur Zeit Ludwigs des Heiligen, dass die Konsumgüter, die er schafft für viele genauso unerreichbar sein werden wie die Oberkappelle damals für das Volk geschlossen war, aber auch dass der Konsumismus, der sich mit dem Marshallplan anbahnt, den Sinn für das Schöne, Leichte und Zweckfreie, das sich in der Sainte Chapelle den heutigen Besuchern zeigt, sinnlos wird. So viel und so wenig heisst einerseits, dass die Schwerindustrie und die Glasfenster durch die Arbeit der Menschen entsteht und andererseits, dass der Sozialismus gut daran täte, die Glasfenster gleich zu achten wie die Schwerindustrie usw.
Kommen wir also zum zweiten Leitmotiv in diesem Text und damit zur Stellung Anna Seghers’ zu den feinen Dingen:
2. Das Leitmotiv der Sainte-Chapelle.
Es gibt auf Wikipedia einen Abschnitt über die Sainte Chapelle von Paris, der sich in seiner Wortwahl quasi eng an die Deutung von Anna Seghers anlehnt:
„Die Kapelle wurde zwischen 1244 und 1248 auf Wunsch Ludwigs IX. des Heiligen vermutlich von Pierre de Montreuil erbaut, um die kostbaren Passionsreliquien („Christi Dornenkrone“ und Teile des „Wahren Kreuzes“) aufzunehmen. Am 26. April 1248 wurde die Kapelle der Heiligen Jungfrau Maria geweiht.
Es handelt sich um eine zweistöckige Palastkapelle mit einer niedrigen Unterkapelle und einer hohen Oberkapelle. Die Oberkapelle war Aufbewahrungsort der Reliquien und blieb dem einfachen Volk verschlossen. Der größte Teil ihrer Wände wird von kostbaren Buntglasfenstern eingenommen, wodurch der hohe Raum von unirdisch wirkendem Licht durchflutet wird.
Die Fensterlanzetten sind 12 Meter hoch. Die Fenster erstrecken sich auf 600 m² Fläche, ⅔ von ihnen stammen noch aus dem 13. Jahrhundert, ⅓ sind Erneuerungen des 19. Jahrhunderts.
Hier lässt sich auch demonstrieren, dass die Tendenz der Gotik, den ehemaligen Steinraum in einen farbigen Glasschrein aufzulösen und die Wände fast vollkommen in mehrbahnige Maßwerkfenster zu verwandeln, nicht dazu führt, dass der Innenraum wesentlich heller wird. Stattdessen war die ergreifende Wirkung des farbigen Lichts, die leuchtende Wand, das Ziel, das Aufgehen der irdischen Existenz in einem mystischen Farbraum. Die Besonderheit dieses Raumes im Hinblick auf seine farbige Gesamtwirkung kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden.
Diese Restaurierung stellt einen Wendepunkt in den öffentlichen Vorstellungen über mittelalterliche Kirchenräume dar, denn man war bis dahin eher schlichte weiß gestrichene Räume gewohnt. Jetzt wurde man mit ganz anderen Farben konfrontiert, und die öffentliche Reaktion war auch dementsprechend empört. Man meinte in weiten Kreisen, das sei alles viel zu bunt, so könne es im Mittelalter nicht gewesen sein – und so ähnlich sind die öffentlichen Ansichten heute noch, sie sind jedoch falsch.“
Soweit Wikipedia.
Zunächst ein kurzer Satz zur Farbigkeit: Anna Seghers schreibt einmal: „Erzählen, was mich heute erregt und die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint und wusste nicht wie:“ Und in einem Brief an Lukacs äussert sie die Sorge, dass durch seinen methodischen Rigorismus „die Fülle und Farbigkeit“ der Literatur verloren geht.
Beginnen wir aber bei der Weigerung der Leute, die bisher angenommene Kargheit und Farblosigkeit der mittelalterliche Baukunst für wahr und stattdessen die Farbigkeit, die bei der Restaurierung rekonstruiert wird, für falsch zu halten. Beginnen wir also beim falschen Bild, das man sich mangels Anschauung und ich würde ergänzen, mangels Einbildungskraft von einer Epoche oder von einem Sachverhalt macht.
Anna Seghers weiss um die Trägheit der menschlichen Einbildung. Im bereits erwähnten Briefwechsel mit Lukacs zur sogenannten Expressionismusdebatte schreibt sie: „Denn der Mensch gleicht heute sehr oft die Realität dem Abbild an als umgekehrt. Er sagt: Ein Sonnenaufgang wie auf einem Bild. Ein Gesicht wie von Rembrandt.“ Und nicht umgekehrt.
Und daher, so führt sie diesen Gedankengang an vielen Stellen ihres essayistischen Werks aus, erscheint den Menschen vieles, was für sie neu ist als unrealistisch und daher unwahr oder bezogen auf die Debatte mit Lukacs gesagt, als surrealistisch oder als abstrakt. Seghers knüpft explizit an diese Debatte an, indem sie Essay schreibt: „Man konnte in den kalten und kahlen Gewölben verstehen, was vor ein paar Hundert Jahren die östlichen Erzbischöfe und Kirchenbaumeister an den neuartigen, seltsamen Plänen bestürzt hatte, an dieser kühnen Konzeption, die man jetzt gotisch nennt. Vielleicht erschien damals kurz nach Zwölfhundert, manchem ein solches Gebäude, an dem nicht die Mauern, sondern die Fenster das Wichtigste waren, nicht die Steine, sondern die Gläser, beinahe surrealistisch, beinahe abstrakt.“ Wagnis des Sehens! Kühnheit des Sehens! Ein wichtiges Thema bei Seghers. Sie schreibt 1938 an Lukacs: „El Greco hat manche Wirkungen auf Maler unserer Zeit gehabt. Im vorigen Sommer erst, als ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Spanien kam, ist mir klar geworden, in welchem Mass dieser auf viele nur unrealistisch wirkende Maler Realist war. Seine Farben waren keine Visionen, sondern die Farben seines Landes. Seine Proportionen sind den Proportionen seiner Menschen angeglichen, nur hat er das alles zu sehen gewagt.“ Diese Überlegungen erinnern auch an die Ausführungen Antonio Gramscis zum Alltgasverstand und wie die Intellektuellen damit umgehen sollten. Der Alltagsverstand, so Antonio Gramsci in seiner Analyse, ist „auf bornierte Weise neuerungsfeindlich und konservativ“, aber „es geschafft zu haben, eine neue Wahrheit in ihn eindringen zu lassen, ist Beweis, dass diese Wahrheit eine beachtliche Kraft der Expansion und Evidenz hat.“ Das heisst bezogen auf die Aufgabe der Schriftstellerin, wie sie Anna Seghers versteht, dass jede neue Sicht auf die Realität mit der Kraft einer Vision auftreten muss, die sich natürlich nur insofern sie überhaupt einer Realität entspricht, sich später von alleine dem allgemeinen Alltagsverstand als realistisch zeigen wird.
Was sie sich im Briefwechsel mit Lukacs verkneifen muss, das offene Sprechen von einer Vision beim künstlerischen Vorgang, davon spricht Christa Wolf im Nachwort zum Erzählband „Die Kraft der Schwachen“ über Anna Seghers: „Die Vision, von der ein Autor lebt, verwandelt das Material, das ja nicht nur ihm bekannt und zugänglich ist, in Dichtung, die nur er machen konnte. Ein sehr merkwürdiger, nicht genug bestaunter Vorgang.“ Und Christa Wolf schliesst ihr Nachwort mit folgenden wunderschönen Sätzen über die grosse Kraft der Anna Seghers: „Die Nachlässigkeit der Resignation hat Anna Seghers sich nie erlaubt. Jede ihrer Geschichten ist ein Zeugnis für ihre strikte Meinung, die sie oft ausgesprochen hat: der, dem ein Talent gegeben ist, hat eine höhere Verantwortung als irgendein anderer dafür, die produktive Sehnsucht seiner Mitmenschen zu teilen, sie auszudrücken, ihr auch in schweren Zeiten treu zu bleiben und sie um keinen Preis der Welt zu verraten.“
Von Vision zu sprechen ist sicher nicht falsch, wenn man über Anna Seghers spricht. Der Notwendigkeit der kollektiven Einbildungskraft, aber auch der machtpolitischen Versuchung, die darin liegt, ist sich Anna Seghers sehr wohl bewusst. Sie schreibt in ihrem Essay: „Ludwig der Heilige liess die Kapelle errichten, die er nach Frankreich von den Kreuzzügen mitgebracht hatte: darunter war ein Stück vom Kreuz Christi. Das Geheimnis von Tod und Leben. Sein Besitz sicherte ihm und dem ganzen Land ungeheures Ansehen und die Einbildungskraft aller Menschen.“ Und dann setzt sie etwas rätselhaft hinzu: „Wie heute der Besitz einer anderen Art von Geheimnis das Ansehen eines Landes steigert und die Einbildungskraft seiner Menschen.“ Was Seghers mit diesem anderen Geheimnis meint, ob es die Atombombe ist, die die USA bereits haben und die Sowjetunion 1949 zünden wird, weiss man nicht. Aber der Essay ist weit davon entfernt, diese Einbildungskraft nur negativ zu bewerten. Darauf verweist schon der Titel: „Glauben an Irdisches“. Es ist ein Zitat aus einem Gedicht über den spanischen Bürgerkrieg von Pablo Neruda: Es lautet im Zusammenhang: „Mögen die Sterne selbst und alle Ähren Kastiliens/euren Namen bewahren, weil ihr wieder erweckt habt/- in den flüchtigen Seelen – den Glauben an das Irdische.“
Aber, so wie Anna Seghers in der Realismusdebatte gezeigt hat, dass erst das Wagnis der Vision und Einbildungskraft zu einem lebendigen Realismus führt, so führt bzw. stützt auch der Glaube an Unirdisches zum Glauben an Irdisches. Zumindest lässt der Aufbau des Essays diese Vermutung zu. Es ist als würde Anna Seghers mit der Reflexion auf die unirdische Wirkung der gotischen Sainte Chapelle daran erinnern, dass Hegels Satz: „Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen“, den Walter Benjamin über seine vierte These gesetzt hat, auch nur gilt in der dialektischen Bewegung, die das Trachten nach dem Reiche Gottes und sei es nur jenes vergangener Epochen, bei der Suche nach Nahrung und Kleidung nicht ganz aus den Augen verliert. Hören wir nochmals Anna Seghers mit den entsprechenden Stellen:
„Wenn Ludwig der Heilige noch an seinem vor dem Gefolge verborgenen Platz in der Mauer rechts vor der Kanzel sässe, dann könnte er im Herbst 1947 die langsam aber sicher fortschreitende Arbeit verfolgen. Wie zauberhaft, einmal beendet, sein Glasfenstermärchen wirkt, fern von der Schwere und Schärfe von Menschengedanken, erst recht von dem Staub und Schmutz menschlicher Arbeit.“
Und zum Schluss noch die schönste Stelle, in der am deutlichsten aufscheint, was ich den gotischen Realismus von Anna Seghers nennen möchte: „Das Glanzstück der Kapelle, das die meiste Mühe kostet, wird zuletzt eingesetzt. Solange die Rose noch fehlt, dringt das Tageslicht herein, so hart und so scharf wie seit acht Jahren. Der Friede ist solange noch unwirklich.“