Über tausend Protestierende sind in der letzten Woche in London verhaftet worden. Die Extinction Rebellion hatte im Zeichen des Klimanotstands mehrere Tage lang Plätze in der Londoner Innenstadt lahmlegen können, und Greta Thunberg begeisterte die mehrheitlich jugendlichen Massen mit mehreren Auftritten. Die Taktik der Extinction Rebellion hat eine lange, erfolgreiche Tradition in Grossbritannien, eine Mischung von Radikalität und disziplinierter Organisation. Schon die Suffragetten verbanden originelle Propagandaideen mit radikalen Aktivitäten. Die Kämpfe gegen Strassenbauprojekte in den neunziger Jahren knüpften in den Baumbesetzungen wie in den Symbolen an die Volkslegende Robin Hood an; ab 2010 machte UK Uncut mit spektakulären Aktionen in Banken auf die Steuerhinterziehung aufmerksam. Die Proteste von Extinction Rebellion sind im Vergleich mit den gilets jaunes in Frankreich fokussierter und disziplinierter, dafür weniger anarchisch und spontaneistisch. Schwieriger wird es bei der längerfristigen Mobilisierung: Die Grüne Partei spielt in Grossbritannien nur lokal eine sehr beschränkte Rolle; Umweltschutz ist weiterhin vorwiegend Tierschutz.
Foto: Lola Perrin
Immerhin hatte die Umweltbewegung für ein paar Tage ein anderes Thema als Brexit in den Vordergrund gerückt. Jetzt kehrt er zurück, im Stupor. Ende letzter Woche erklärte Labour die Gespräche mit der Regierung praktisch für gescheitert; übers Wochenende gab es gezielte Indiskretionen, man stehe womöglich, vielleicht vor einem Durchbruch, oder auch nicht. Die Erschiessung der Journalistin Lyra McKee in Nordirland durch die gewaltbereite Splittergruppe New IRA hat zugleich gezeigt, wie fragil die dortige Situation ist; und das Argument, ein Brexit könnte den Friedensprozess weiter gefährden, hat dadurch an Gewicht gewonnen.
Was lässt sich von links noch Neues zu Brexit sagen? Kaum je sind Taktik und Strategie so auseinandergefallen wie im Moment. Taktisch hält Jeremy Corbyn die beiden Labour-Flügel – die urbanen Remainer und die de-industralisierten Brexiteer – erstaunlich erfolgreich zusammen. Das ist durchaus eine Leistung. Erkauft ist sie mit einem weit gehenden Verzicht auf eine Strategie in Bezug auf die internationale Einbindung von Labour und der Nation.
Die renommierte Sozial- und Politikwissenschaftlerin Mary Kaldor, Professorin für Global Governance an der London School of Economics, analysiert im blog der Theoriezeitschrift «Soundings» die aktuellen Möglichkeiten für Labour und charakterisiert die verschiedenen Fraktionen innerhalb der Partei. Sie selbst geht von der Einschätzung aus, man müsse Brexit als rechtes Projekt bekämpfen und dürfe keinem der entsprechenden Argumente einen Fussbreit nachgeben. Das spreche gegenwärtig für ein zweites Referendum. Dahinter stehen für sie zwei gewichtigere Entwicklungen: Durch die Wahl von Jeremy Corbyn zum Parteichef habe sich die Veränderung der Klassenbasis von Labour weiter akzentuiert, und zugleich bilde sich eine neue Partei- und Politikform heraus. Labour sei mittlerweile eine Koalition der Angestellten im öffentlichen Dienst, der neuen Hightech-ArbeiterInnen sowie der unterbezahlten Angestellten in der Gig-Ökonomie; das umfasse Frauen wie Männer, britische StaatsbürgerInnen ebenso wie Menschen aus der ganzen Welt. So wichtig diese Betonung einer neuen Regenbogenkoalition ist, steht die Einschätzung von Kaldor doch in Gefahr, die traditionelle (männliche, weisse) Arbeiterklasse gänzlich aufzugeben. Was die neue Politikform betrifft, stärker basisorientiert und inklusiv, so sei Corbyn, wie Kaldor betont, als deren Repräsentant gewählt worden: Er müsse sie fortführen, oder er habe sein Mandat verspielt.
Auch in «Renewal», einer weiteren linken Theoriezeitschrift für «soziale Demokratie», wird ein Ausweg für Labour gesucht. James Stafford und Florence Sutcliffe-Braithwaite richten sich gegen den herrschenden Ökonomismus innerhalb von Labour und der Gewerkschaften. Die Ambivalenz von Labour bezüglich des Brexit habe zu einer weiteren Abkoppelung von der kontinentaleuropäischen linken Diskussion geführt. Die konkreten Forderungen der Labour-Führung für einen «besseren Brexit», insbesondere die Teilnahme an einer Zollunion, sei eine bloss nationalistische, keine sozialistische Politik. Es sei an der Zeit, dass die Linke die Globalisierung genauer verstehe. Globalisierung sei keine wirtschaftliche Naturgewalt, deren Verteufelung sei das blosse Spiegelbild zu ihrer Verherrlichung. Vielmehr müsse man das Verhältnis von Politik und Wirtschaft genauer einschätzen, die politischen Eingriffsmöglichkeiten neu bestimmen. Das heisst auch, sich aktiv und kreativ mit den internationalen Institutionen einlassen. Ein Artikel in der gleichen «Renewal»-Nummer geht dafür sogar in die 1950er- und 1960er-Jahre zurück, um die ursprünglichen sozialdemokratischen und sozialistischen Hoffnungen und Vorstellungen einer sozial verantwortlichen EU zu rekonstruieren.
Was die taktischen Niederungen nicht überspringen kann. Der stellvertretende Labour-Parteichef Tom Watson hat letzte Woche schon beinahe ultimativ gefordert, Labour müsse jetzt ohne Wenn und Aber ein zweites Referendum fordern, auch und gerade wenn die Verhandlungen mit der Regierung zu einem Ergebnis führen sollten. Das ist am Sonntag von rund 90 Labour-ParlamentarierInnen unterstützt worden. Der Parteivorstand will am Dienstag darüber entscheiden.
Gemäss der ersten Meinungsumfrage zu den EU-Wahlen von Ende Mai hat die neue Brexit-Partei unter Nigel Farage dessen ehemalige Ukip schon fast vollkommen auf- und abgelöst. Mit 28 Prozent möglicher Stimmen liegt sie Kopf-an-Kopf mit Labour, während die Konservativen, von denen einzelne Sektionen aus Protest gegen die eigene Premierministerin keine Abstimmungspropaganda machen werden, auf 14 Prozent abgesackt sind. Die neue EU-freundliche Abspaltung von Labour, Change UK, kommt auf 7 Prozent, ebenso wie die EU-freundlichen Liberaldemokraten. Wenn man die Grünen mit 6 und die Scottish National Party mit 5 Prozent berücksichtigt und den Vorbehalt anbringt, dass es in Labour Brexiteers und unter den Konservativen Remainer gibt, dann spricht sich gegenwärtig eine Mehrheit der Wählenden für Remain-Parteien aus.
Zuvor finden allerdings am Donnerstag noch Lokalwahlen statt. Die in ihren Kompetenzen eh schon beschränkten Lokalbehörden sind in den letzten Jahren finanziell ausgehungert worden; so haben sie verglichen mit 2009 im Durchschnitt pro Haushalt 23 Prozent weniger Geld zur Verfügung und entsprechend Leistungen abgebaut. Dennoch wird die Stimmbeteiligung auf historischen Tiefstwerten verharren. Sowohl Konservative wie Labour meiden das Thema Brexit geflissentlich. Labour hat im Vorfeld neue Initiativen im Lokalbereich angekündigt: einen Ausbau lokaler Busverbindungen, Verschärfung der Baugesetze zur Umwandlung von Büros in winzige Wohnungen, sowie mehr Geld zugunsten der Haushaltshilfe für Ältere zuhause. Das ist Teil einer allseitig gewünschten linken Strategie, sich jenseits von Brexit auf lokale soziale Fragen zu konzentrieren. Aber es braucht jenseits von Brexit eben auch die internationalistische Strategie. Und die Extinction Rebellion dazu.