Beim Nachdenken darüber, was für einen spezifischen Beitrag PsychoanalytikerInnen in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger zur Erstarkung der Linken leisten könnten, bin ich unlängst auf zwei Themenkreise gestossen (Modena 2012). Zum einen gilt es, dank des fachlichen Wissens über narzisstische Störungen, autoritäre Persönlichkeiten und Massenpsychologie alle demokratischen Kräfte gegen den in Europa galoppierenden Rechtspopulismus und die daraus hervorkeimenden faschistischen Haltungen zu stärken. Zum anderen, dachte ich, könnten die KennerInnen des psychischen Apparates und SpezialistInnen der Traumdeutung Ideen zur Wiedergewinnung einer revolutionären Utopie entwickeln. Der kommunistische Traum ist in der Konkursmasse des Stalinismus und im gegenwärtigen chinesischen Staatskapitalismus untergegangen, jedenfalls für die breite Masse der Bevölkerung, auch wenn sich gelegentlich Einzelne und kleinere Gruppen trotzig daran festzuhalten versuchen. Für mich eher ein Angsttraum, den Miroslav Djilas – Titos Kampfgefährte – schon in den 1950er Jahren analysiert hatte. Der Konzentration von politischer und wirtschaftlicher Macht in den Händen der allein bestimmenden Parteibürokratie stand nicht Lenins demokratisch gedachte «Diktatur des Proletariats» Pate, sie führte vielmehr zu einer neuen, gegen die Völker gerichteten Herrschaft.
Doch wohin sollten sich die antikapitalistischen Kräfte wenden ohne ein aus realistischen Grössenphantasien und glaubwürdigen Identifikationen genährtes Selbstideal? Wie wäre die Zersplitterung der Linken zu überwinden? Eine Utopie ist definitionsgemäss nicht realisierbar, sie ist aber der Orientierungspunkt, welcher die Marschrichtung angibt. Ihr Fehlen realisierte ich besonders schmerzhaft nach der im Arbeitskreis Politische Psychologie und der Stiftung für Psychotherapie und Psychoanalyse 2010 geführten Diskussion über André Gorz‘ politisches Testament «Auswege aus dem Kapitalismus – Beiträge zur politischen Ökologie». In der vom Finanzkapital angeführten Globalisierung sind nicht nur «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» zu Fremdwörtern geworden, sondern es droht darüber hinaus konkret auch die Zerstörung des Planeten. Da stiess ich ähnlich wie die «Empörten», die «Piraten», die «Grillini» und die «Occupy»-Bewegung auf eine erste Schwierigkeit. Was ist heute links, was rechts? Sozialdemokraten und Grüne sind längst zu staatstragenden Säulen des kapitalistischen Gesamtsystems geworden (die man dann trotzdem oft als das kleinere Übel wählt). Kann man denn heute noch, der Definition von Norberto Bobbio folgend, Gerechtigkeit als Kerngedanken der traditionellen Linken umstandslos gegen Sicherheit stellen, dem Credo der Rechten?
Kürzlich sagte mir ein italienischer Arbeiter, der wegen Arbeitslosigkeit gezwungen war, sein Haus zu verkaufen, dass er selbstverständlich dafür sei, die Bootsflüchtlinge vor Lampedusa zu retten, dass er sich aber frage, wo sie denn arbeiten sollten? «Die Europäische Union lässt uns im Stich», meinte er noch. Und ich ertappte mich bei der Frage, wieviel freien Markt und wie viel Planwirtschaft es in einem utopischen neuen Gesellschaftssystem geben sollte. Das Problem der «Ausbeutung des Menschen durch den Menschen» muss auf Grund der Erfahrungen im real existierenden Sozialismus neu überdacht werden. Das Verbot jeglicher Privatinitiative hat überall zu einer Schwächung der Produktion und der Dienstleistungen und zu einer Stärkung der Bürokratie geführt. Wie meine Generation miterlebt hat, sind auch bei uns in der Selbstverwaltungsbewegung ohne innovative Führungspersönlichkeiten mit Entscheidungskompetenzen viele Betriebe bankrottgegangen. Sind also Anstellungsverhältnisse und Hierarchie in gewissen Grenzen zulässig und notwendig? Und in einer breiten Volksfront gegen den Faschismus müssten doch auch kreative und produktive kleine und mittlere Unternehmen weiterfunktionieren können, ohne befürchten zu müssen, später zwangsweise verstaatlicht zu werden.
Schon stosse ich auf den nächsten, kaum lösbaren Widerspruch. Grundsätzlich sind die innovativen Kräfte der Zukunft friedliebend und wenden Gewalt nur als Gegengewalt an, zur Selbstverteidigung. Aber eine nüchterne Betrachtung der gegen Diktatoren gerichteten Massenbewegungen, wie z.B. derjenigen des arabischen Frühlings (aber auch Mandelas Weg zur Überwindung der Apartheid in Südafrika oder Gandhis Kampf gegen die englische Kolonialmacht in Indien) zeigt, dass diese nirgendwo zur Überwindung des feudalen und/oder kapitalistischen Herrschaftssystems geführt haben. Und: Darf man neben der überall auf der Welt gegen revoltierende Massen angewandten offenen Gewalt die strukturelle Gewalt vergessen, welche durch Armut, Hunger und Krankheit jährlich Millionen von Opfern dahinrafft? Gilt sinngemäss immer noch Maos Diktum, dass die Macht aus den Gewehrläufen kommt?
Revolutionär gesinnte Menschen, die sich nicht damit begnügen wollen, ein Plätzchen im parlamentarischen System europäisch-amerikanischer Prägung zu ergattern, sollten die Gewaltfrage vorurteilslos beurteilen: Friedlich bleiben, gewaltfrei – solange die Gegenseite dies zulässt – jedoch bereit sein, sich mit allen Mitteln zu verteidigen, wenn man mit brutaler Waffengewalt angegriffen wird. Noch nie ist eine herrschende Klasse freiwillig oder durch einen parlamentarischen Mehrheitsbeschluss gestürzt worden. Wenn das Volk jedoch zu einem Bürgerkrieg gezwungen wird und sich bewaffnen muss, braucht es eine Organisation und eine militärische Führung, will man nicht elendiglich niedergemetzelt werden. Die Geschichte ist voll von Massakern, von der Pariser Kommune bis zu den kriegerischen Auseinandersetzungen der Gegenwart. Andererseits: Wo immer eine Revolution erfolgreich verlaufen ist, nicht nur die Oktoberrevolution, hat sich in wenigen Jahren aus der zunächst im Interesse des Volkes uneigennützig handelnden Avantgarde eine neue Herrschaft herausgebildet, die die Macht an sich gerissen und oft die schrecklichsten Verbrechen verübt hat, von Stalins Gulag bis zum millionenfachen Terror der Roten Khmer.
Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es ein sozialpsychologisches Gesetz gibt, wonach Menschen mit einer narzisstischen Störung (einem labilen Selbstwertgefühl) und gleichzeitig vielen Begabungen zu Führungskadern prädestiniert sind, die jedoch, dank der Machtergreifung innerpsychisch stabilisiert, zusehends keine Mittel mehr scheuen, sich skrupellos an der Macht zu halten und dafür jedwede ideologische Rechtfertigung erfinden (psychoanalytisch ausgedrückt: ihre persönlichen Machtbedürfnisse rationalisieren). In diesem Punkt hat wohl Bakunin gegen Marx recht behalten: Jeglicher Staat wird über kurz oder lang zum Konkursverwalter von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». Ein in der Debatte anarchistischer Pyrrhussieg allerdings, denn ohne ein Minimum an sozialer und politischer Organisation kann keine Zivilgesellschaft Auswege aus dem Kapitalismus finden und aufrechterhalten. Ein Teufelskreis?
Oder sind dank den neuen Kommunikationstechnologien des Internets auf der ganzen Welt Tausende von kleinen revolutionären Gruppen denkbar, die prinzipiell autonom handeln, sich aber bei Bedarf in kürzester Zeit am richtigen Ort mit der richtigen Zielsetzung und entsprechender Ausrüstung zusammenfinden? Gewissermassen eine Demokratie mit den Füssen vollführend, denn der Aufruf zum Handeln kann von jeder einzelnen Gruppe ausgehen? Er wird dann zum Erfolg führen, wenn die vielen anderen mit den zentralen Zielen einverstanden sind und sich unter einer provisorischen Führung vereinigen, sich aber nicht in einer einheitlichen Organisation auflösen und nach der Aktion wieder in ihre Anonymität als Kleingruppen zurückziehen. Nur: Eine Vielzahl, gar Tausende von revolutionär gesinnten Gruppen werden notwendigerweise in sehr vielen Punkten verschieden denken und fühlen. Könnte man viele verschiedene religiöse Vorstellungen gelten lassen und akzeptieren, dass dabei der Atheismus nur eine Variante unter anderen wäre? Aber auch in der Alltagspraxis wird es jede Menge Widersprüche geben: über die richtige Ernährung, über Wohn- und Beziehungsformen, über sexuelle Orientierungen, über Fragen der Mobilität, des guten Geschmacks, ja über Fragen der Ökonomie und Politik. Mit anderen Worten: ein ganzer Regenbogen verschiedener Überzeugungen und Einstellungen! Womit ich zur vorläufig letzten Schwierigkeit komme: Wie soll sich ein derart bunter Haufen selbst regulieren, zugleich autonom denken und solidarisch handeln?
Es bräuchte gemeinsame Grundideen, die stark genug sein müssten, um sich gegen alle Nebenwidersprüche durchzusetzen. Doch die Geschichte lehrt, dass keinerlei Ideale über längere Zeit die Kraft hatten, sich rein zu erhalten. Sie werden zwar als Lippenbekenntnisse oft weiter beschworen, in der Praxis aber tausendfach verwässert. Bei einer vorurteilslosen Betrachtung der Geschichte hatten nur tiefe religiöse Überzeugungen über die Jahrhunderte Bestand. Wäre das ein Ausweg? Religiosität ist eine anthropologische Konstante, die auf das kleinkindliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit zurückgeht. Das ist der affektive Kitt, der zu einer Zeit wirksam wird, da die heranwachsenden Individuen noch nicht über die kognitiven Fähigkeiten verfügen, die ihnen vermittelten Glaubensinhalte zu hinterfragen. So gesehen gilt der Satz «Man kann nicht nicht glauben» (Modena 2011). Auf dieser Grundlage bilden die verschiedenen Religionen ihre Dogmen, die zeitlebens in liturgischen Riten immer wieder eingeübt werden. Sollten Revolutionäre nicht ihrerseits auf dem Boden der Religiosität eine eigene Ideologie erfinden und diese solange einüben, bis sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist?
Dabei spielt der Gottesglaube keine Rolle, in dieser Hinsicht soll jede und jeder nach seiner eigenen Façon selig werden. Grundlegend wären hingegen andere Dogmen. An erster Stelle zu nennen wäre das Dogma der Toleranz: Alle Wege führen nach Rom, man kann selbst in allen Belangen abweichend zum Rest der Welt denken und handeln, wie man will – es darf darüber aber keinen Streit geben. Dieses Dogma fände seine Grenze einzig beim zweiten Dogma des Kategorischen Imperativs (Kant): Füge niemand anderem etwas zu, was du nicht willst, dass man dir selbst zufüge. Das dritte Dogma wäre die Ehrfurcht vor der Natur. Das natürliche Habitat zu schützen wäre für alle absolute Pflicht, wenn nötig unter Einsatz des eigenen Lebens. Ebenso das vierte Dogma, die Solidarität: Man teilt, was man hat und hilft sich gegenseitig, es gibt dabei keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern und zwischen Weiss, Schwarz, Rot oder Gelb. Das fünfte Dogma übernehme ich von der Zürcher Jugendbewegung: Keine Macht für niemand. Sobald führende Leute beginnen, sich autoritär zu gebärden und herrisch zu werden, müssen sie zurückgestutzt werden. Personenkult ist auf allen Ebenen verboten. Andererseits gilt, sechstens, der Kampf gegen das herrschende System nach dem Motto «Macht kaputt, was euch kaputt macht!». Die Aggression ist wie die Liebe/Sexualität eine grundlegende Lebenskraft. Die beiden Grundtriebe müssten aber in einer gegebenen gesellschaftlichen Situation im richtigen Mischungsverhältnis, in der richtigen «Legierung» (Freud) zur Anwendung kommen.
Wann ist eine Unterschriftensammlung, wann eine Strassenblockade, wann eine Massendemonstration, wann die Besetzung einer Bank sinnvoll und wirksam? Wenn es keine Parteiführung und kein allmächtiges Zentralkomitee mehr gibt, müssen alle Revolutionäre mitdenken und Initiativen ergreifen. Da der Austausch im Wesentlichen über das Internet erfolgen wird, werden allerdings auch die Kräfte der Repression über die Strategien des Regenbogenvolkes informiert sein – ein weiterer Widerspruch, der seiner Auflösung harrt. Utopiker können dem allenfalls entgegenhalten, dass dort, wo eine breite Masse bereit ist, auf die Barrikaden zu gehen, dies ohnehin allgemein bekannt sein würde. Aber haben nicht jeweils gerade zu einem solchen Zeitpunkt die Herrschenden das Militär eingesetzt (wie damals in Lateinamerika oder der Türkei) und hat es nicht als Steigbügelhalter für faschistische Regimes funktioniert (wie bei Mussolini oder Hitler)?
Das ist die Hauptschwierigkeit: Jeder Versuch einer Antwort erzeugt neue Fragen, die niemand schlüssig beantworten kann, weil letztlich allein die Praxis über richtig und falsch entscheidet. So fühle ich mich beim Versuch, eine revolutionäre Utopie zu entwerfen, gegenwärtig stark verunsichert. Immerhin erscheint mir die Schaffung und Einübung eines neuen diesseitigen Glaubens an die sechs Dogmen – Toleranz, Kategorischer Imperativ, Ehrfurcht vor der Natur, Solidarität, keine Macht für niemand und vorurteilsfreie Aggression als positive Lebenskraft gegen das herrschende System – als ein Schritt in die richtige Richtung. Ich nenne die zahlreichen Subjekte und Gruppen auf der ganzen Welt 615-544-7289 , die mit aller Kraft Auswege aus dem Kapitalismus suchen, das «Regenbogenvolk», weil es darauf verzichtet, um die Hegemonie einer einzelnen Farbe zu kämpfen. Toleranz – das erste Gebot – bedeutet ja gerade das Zulassen und solidarische Akzeptieren aller Farben, wenn sich diese auch die anderen ideologischen Eckpfeiler des gemeinsamen Glaubens zu eigen machen. Das Bild des Regenbogens symbolisiert die Einheit in der Verschiedenheit. Als Naturphänomen erscheint der Regenbogen nach dem Regen und kündet die Wiederkehr der Sonne an, was ich als Hoffnungspotential verstehe. Und es gibt dazu auch eine historische Reminiszenz: Die Regenbogenfahne war einst das Zeichen der breiten internationalen Bewegung gegen den Irakkrieg.
Bobbio, N. (2004): Destra e sinistra, Rom (Donzelli editore), vierte Auflage. Deutsch: Rechts und Links: Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Wagenbach Berlin 1994.
Djilas, M. (1957): Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München (Kindler Verlag).Titel des serbischen Originalmanuskripts: Nova klasa. Kritika savremenog komunizma. – Originalausgabe: The new class. An analysis of the communist system.New York 1957.
Gorz, A. (2009): Auswege aus dem Kapitalismus – Beiträge zur politischen Ökologie, Rotpunktverlag Zürich.
Modena, E. (2011): Religiosität und Gemeinschaftsgefühl. Thesen zur Weiterführung einer materialistischen Religionskritik, in: Schülein J.A. & Wirth H.-J. [Hg.] Analytische Sozialpsychologie, Psychosozial-Verlag Giessen.
Modena, E. (2012): Krise und Sozialabbau: Der Psychoanalytiker/die Psychoanalytikerin als «Bourgeois(e)» und als «Citoyen(ne)». In: Bruder K.-J. et alt. [Hg]: Macht – Kontrolle – Evidenz, Psychosozial-Verlag Giessen.
* Diese Skizze beruht auf einem Text, den ich zum 30. Jubiläum der Salzburger fortschrittlichen psychoanalytischen Zeitschrift «Werkblatt» verfasst habe. Die vorliegende Fassung weicht in verschiedenen Abschnitten vom ursprünglichen Text ab und versteht sich als «work in progress».