350 Millionen Pfund wöchentlich würden für das britische Gesundheitswesen frei, versprachen die Brexiteers, wenn Grossbritannien aus der EU austreten werde. Die Schlagzeile, die auf einem Bus durchs Land gekarrt wurde, ist zum Symbol für die schamlose Propaganda der Anti-EU-Kampagne geworden. Jetzt ist die damalige Volksabstimmung vom Juni 2016 wegen solcher eklatanter Fehlinformationen für ungültig erklärt worden.
Ach nein, ungültig erklärt worden ist ja eine Volksabstimmung in der Schweiz. Die beiden selbst ernannten Musterländer der Demokratie stossen gegenwärtig auf Schwächen des jeweiligen politischen Systems. In der Schweiz mit ihrer plebiszitären Tradition werden neue Mechanismen wie eine gerichtliche Beurteilung von Abstimmungspropaganda erprobt. In Grossbritannien gehen die Lügen vorerst weiter.
Der «Daily Telegraph» hat soeben einen Artikel von Ex-Aussenminister Boris Johnson von der Website genommen, weil der darin behauptet hatte, in aktuellen Meinungsumfragen sei ein Austritt aus der EU ohne einen Deal die am häufigsten vertretene Position. Das stimme so nicht, räumte die Zeitung ein. Um beizufügen, niemand habe den Artikel von Johnson ernsthaft «als eine seriöse, tiefgründige Analyse» lesen können. Na, dann ist ja gut. Wenns nicht ernsthaft ist, darf schon mal gelogen werden. Auch im Parlament ist Johnson soeben gerügt worden, weil er im Register, in dem die ParlamentarierInnen ihre Vermögensverhältnisse und Interessensbindungen deklarieren müssen, einen Besitzanteil an einem Haus nicht angegeben hatte. Bereits im letzten November war er wegen eines gleich gelagerten Vergehens gerügt worden. «Wir stellen beunruhigt fest, dass diese beiden rasch aufeinander folgenden Fälle ein Verhaltenmuster bei Mister Johnson zeigen», hält das entsprechende Aufsichtsgremium fest, nämlich «eine allzu nachlässige Haltung gegenüber den Regeln des Parlaments».
Die EU einigte sich am Gipfeltreffen am Mittwoch intern auf einen Kompromiss und räumte Grossbritannien eine neue Austrittsfrist bis Ende Oktober ein. Premierministerin Theresa May geht immer noch davon aus, dass sie diese Frist nicht brauchen, sondern vorher einen Durchbruch erzielen wird. Nachdem sie vom Parlament am Montag in einem historischen Schritt gezwungen worden war, bei der EU um einen Aufschub nachzusuchen, hatte sie am Dienstag einen entsprechenden Antrag eingereicht, der mit 420 gegen 110 Stimmen angenommen wurde. Einmalig: Weniger als ein Drittel der Stimmen für die Regierungsvorlage stammte von den regierenden Konservativen. Grossbritannien erlernt das Regieren mit wechselnden Mehrheitskoalitionen. Und es lernt allmählich erste Kosten des Brexit: Mehrere tausend Beamte, die für den Fall eines Brexits ohne Deal notfallmässig auf Pikett gestellt wurden, hat die Regierung wieder an ihre normale Arbeitsstellen zurückgeschickt, 4500 temporär Eingestellte sind entlassen worden. Geschätzte Kosten: 1,5 Milliarden Pfund, die dann, anders als die fiktiven Einsparungen bei einem EU-Austritt, im Staatshaushalt real fehlen werden.
Trotz störrischem Optimismus von Regierungsseite über einen früheren Austritt wird immer wahrscheinlicher, dass Grossbritannien Ende Mai an den Wahlen zum EU-Parlament teilnehmen wird. In deren Vorfeld kriechen wieder die alten Figuren aus dem Gebälk. Etwa der ehemalige Ukip-Chef Nigel Farage. Nachdem er den Parteivorsitz abgegeben, wieder angenommen und erneut abgegeben hatte, um sich ganz aus der Politik zurückzuziehen, setzt er sich jetzt mit einer neuen Brexit-Partei nochmals in Szene. Dafür hat er Annunziata Rees-Mogg, eine Schwester des Erz-Brexiteers Jacob Rees-Moog, als Kandidatin gewinnen können. Die erzählt stolz, sie sei schon als Fünfjährige der konservativen Partei beigetreten und habe als Achtjährige im Wahlkampf deren blaue Rosette getragen. Seit fünfzehn Jahren kämpft sie vor allem gegen die EU, unter anderem als Journalistin beim EU-feindlichen «Daily Telegraph». 2005 und 2010 kandidierte sie zweimal erfolglos als Konservative für einen Parlamentssitz. Jetzt erhofft sie sich, wie Farage selbst, mittels der Brexit-Partei durch die verhasste EU eine Sinekure in Brüssel. Finanziert wird die neue Partei unter anderem von Richard Tice, einem Immobilientycoon, der schon «Leave.EU» finanziert hatte; jene Propagandaorganisation, die gebüsst worden ist, weil sie den Einsatz von Spendengeldern ungenügend dokumentierte.
Mit seiner neuen Partei will Farage auch Distanz zu Ukip markieren, die immer wieder durch islamophobe Mitglieder auffällt. Die Distanzierung erfolgt jeweils nicht so sehr aus inhaltlichen Gründen, sondern weil die jetzige Ukip-Führungsriege so vulgär sei. Dumm nur, dass die erste Vorsitzende der neuen Brexit-Partei nach ein paar Wochen auch zurücktreten musste, wegen islamophober Tweets. Vor kurzem folgte ihr der Finanzchef wegen antisemitischer und homophober Äusserungen. Dennoch verspricht Farage mit seiner Partei nichts weniger als eine «demokratische Revolution», und Annunziata Rees-Mogg sekundiert, die neue Partei müsse «die Demokratie retten». Dabei hat dieser Populismus von oben immer autoritäre Züge. Zur Rettung auserkoren zu sein, ist das selbstverständliche Privileg der Reichen.
Tatsächlich kommen gegenwärtig Haltungen in der britischen Gesellschaft zum Vorschein, die man nicht so gerne wahrhaben wollte. Eine Umfrage der Hansard Society, die seit 2003 jährlich durchgeführt wird, hat soeben ein rekordhohes Missbehagen mit dem parlamentarischen System dokumentiert. Dass 77 Prozent eine Verbesserung des Regierungssystems angesichts des Brexit-Desasters für nötig halten, kann nicht wirklich überraschen. Beunruhigender die Tatsache, dass autoritäre Massnahmen auf mehr Zustimmung stossen. 42 Prozent meinten, das Regieren wäre einfacher, wenn die Regierung nicht so stark aufs Parlament Rücksicht nehmen müsste. Gar 54 Prozent bejahten die Frage, ob Grossbritannien «einen starken Führer, der bereit ist, die Regeln zu brechen», brauche, und nur 23 Prozent verneinten sie. Interessanterweise hat gleichzeitig die Unterstützung für Referenda und Volksabstimmungen deutlich abgenommen.
Mehr als anekdotisch passt zu diesen Resultaten, dass der Rassismus im englischen Fussball wieder zunimmt. Die Fussballbehörden haben gemeint, das Problem ins Ausland auslagern zu können. Tatsächlich waren schwarze englische Nationalspieler Ende März beim EM-Ausscheidungsspiel in Montenegro massiv beschimpft worden. Doch jetzt haben einige von ihnen bekannt gemacht, dass sich solche Vorfälle auch in England wieder häufen. In Tottenham wurde eine Banane gegen einen dunkelhäutigen Arsenal-Stürmer geworfen, in Arsenal ein schwarzer Napoli-Spieler verbal beleidigt, in West Ham Liverpools Stürmer Mo Salah als «terrorist cunt» apostrophiert und in Chelsea Manchester-City-Angreifer Raheem Sterling heftig beschimpft. Sterling hat in einer Reaktion darauf hingewiesen, dass schwarze Fussballer in manchen Medien noch immer negativer dargestellt werden als weisse. Die verantwortlichen Instanzen belassen es mit Lippenbekenntnissen. Ein erst jetzt bekannter Vorfall aus dem Herbst vermag das zu illustrieren. In einem Spiel auf Amateurstufe hatte ein Team das Spielfeld aus Protest verlassen, nachdem der Torhüter rassistisch beleidigt worden war. Für die Beleidigungen erhielt der verantwortliche Club eine Busse von 160 Pfund; das Team, das dagegen protestierte, wurde wegen Verlassens des Spielfelds ebenfalls für unsportliches Verhalten gebüsst – mit 165 Pfund.
13.4.19