Die Geschehnisse im britischen Parlament übertrafen am Donnerstag jede komödiantische Erfindung. Zuerst musste die Sitzung im Unterhaus suspendiert werden, weil Wasser durchs Dach in die Pressegalerie und von dort in den Saal tropfte – das Parlamentsgebäude in London ist schon längst ein Sanierungsfall. In der anderen Parlamentskammer hatten Mitglieder des Oberhauses tapfer verlauten lassen, sie würden notfalls bis sechs Uhr morgens ausharren, um das vom Unterhaus am Vortag beschlossene Gesetz ebenfalls zu verabschieden. Die meisten ehrwürdigen Lords und Ladies hatten dann doch nicht genügend Sitzleder und suspendierten die Sitzung am Abend. Jetzt kann das Gesetz frühestens am Montag in Kraft gesetzt werden – fünf Tage vor dem von der EU gewährten zweiten Austrittsdatum vom 12. April.
Mit diesem von der Labour-Abgeordneten Yvette Cooper eingebrachten Antrag soll die Regierung verpflichtet werden, wenn sie im Parlament keine Mehrheit für einen Vorschlag findet, bei der EU um einen weiteren Austrittsaufschub nachzusuchen. So soll die vom Parlament schon zweimal deutlich bekräftigte Absicht garantiert werden, dass unter allen Umständen ein chaotischer, ungeregelter Ausstieg vermieden wird. Das Parlament schreibt dabei der Regierung – unerhörterweise – ein Gesetz vor, statt auf deren Vorlagen zu warten. Das entsprechende demokratische Drama hatte sich am Mittwoch spätabends noch ohne Wasserschäden abgespielt. Eine erste Abstimmung über einen Zusatz zum Gesetz hatte in einem Patt geendet, das der Speaker mit Berufung auf ehrwürdige Präzedenzfälle zugunsten der Neinseite entschied. Dann gewann der Gesetzesvorschlag in der ersten Lesung mit 315 zu 310; nach vierstündiger Beratung reichte es in der zweiten Lesung gerade noch zu einem hauchdünnen 313 zu 312. Eine verderbliche konstitutionelle Revolution, brandmarkte das der Erzkonservative Bill Cash – es gehört zu den üblichen Schamlosigkeiten der Brexiteers, dass er ein paar Jahre zuvor gegen eine Labour-Regierung ein entsprechendes Vorgehen unterstützt hatte.
Der Antrag war als Sicherheitsmassnahme gegen einen konservativen Kamikaze-Ritt gedacht, wurde allerdings am Donnerstag überholt, zumindest propagandistisch in den Schatten gestellt, weil Theresa May die Opposition zu Gesprächen einlud und andeutete, sie werde selbst um eine Verschiebung des Austrittsdatums nachsuchen.
Seither hat sich eine Viererdelegation von Labour zu mehrstündigen Gesprächen mit der Regierung getroffen. Finanzminister Philip Hammond, der zum kleinen Remain-Flügel der Tories gehört, meinte danach, es gebe keine roten Linien – nachdem Theresa May zwei Jahre lang eben gerade solche roten Linien stur verteidigt hatte. Er verbreitete Optimismus, Labour dämpfte sogleich, und am Samstag schienen die Gespräche eingefroren. Von Labour-Seite wurde der Vorwurf wiederholt, May habe in der Sache keinerlei Kompromissbereitschaft gezeigt.
Aber auch Labour kann sich kaum bewegen. Umstritten ist parteiintern vor allem die Frage, ob ein Deal auf alle Fälle nochmals in einem Referendum der Bevölkerung vorgelegt werden soll. Eine Mehrheit der Labour-Abgeordneten und -Mitglieder ist dafür, während der Parteipräsident Ian Lavery und einige Gewerkschaftsführer sich vehement dagegen stemmen. Parteichef Jeremy Corbyn laviert weiterhin. Der Remain-Flügel, ebenso wie die Scottish National Party, warnen ihn eindringlich davon, in dieser Frage einzuknicken. Angesichts der wütenden Angriffe der Brexiteers in der konservativen Partei auf ihre eigene Parteichefin wird von einer Spaltung beider Parteien nicht mehr bloss gemunkelt, sondern die wird schon beinahe als Tatsache gehandelt.
Was vielleicht doch ein bisschen voreilig ist. Ein erster praktischer Test für das angebliche Zerbröckeln des Zweiparteiensystems fand am Donnerstag statt. Wegen des Tods des Labour-Abgeordneten Paul Flynn kam es zu einer Nachwahl im Wahlkreis Newport in Südwales, einer bisher sicheren Labour-Hochburg, die 2016 allerdings für den Brexit gestimmt hatte. Dabei beteiligten sich neue politische Gruppierungen, vor allem aus der Remain-Ecke. Das bemerkenswerteste Resultat war die massiv gesunkene Stimmbeteiligung auf gerade noch 24 Prozent. Die ist allerdings bei Nachwahlen traditionell nicht sehr hoch. Der Brexit wurde im Wahlkampf von beiden Grossparteien bewusst heruntergespielt. Alle KandidatInnen berichteten von Frustration und Zorn bei vielen WählerInnen über das politische Patt in Westminster. Ansonsten aber: Nicht so gar viel Neues. Ruth Jones hielt den Sitz für Labour, bei etlichen Verlusten, relativ deutlich. Die Tories kamen, ebenfalls mit Verlusten, deutlich an zweiter Stelle, die EU- und fremdenfeindliche Ukip an dritter, mit klar unter den Erwartungen liegenden 8,6 Prozent, und die im Vorfeld etwa im «Guardian» hoffnungsfroh gehypte neue Remain-Gruppierung schaffte wie die Grünen knapp 4 Prozent.
Bei den letzten nationalen Wahlen hatten Tories und Labour zusammen 87 Prozent der Stimmen erreicht. In den jüngsten fünfzehn Meinungsumfragen waren es im Durchschnitt noch 71 Prozent. Das ist ein deutlicher Rückgang – aber der ist immer noch viel weniger stark als in anderen Ländern. Das Majorzsystem konzentriert die Loyalitäten weiterhin auf die beiden grossen Parteien.
Falls Grossbritannien im Mai an den EU-Wahlen teilnehmen wird, werden sich dort die zentrifugalen Tendenzen zweifellos verstärkt zeigen. Aber das war schon immer so, wegen des Proporzwahlsystems. Paradoxerweise war ja die EU-feindliche Ukip bislang vor allem im EU-Parlament und nur durch zwei übergelaufene ehemalige konservative Abgeordnete im nationalen britischen Parlament vertreten.
Im Auge des Sturms werden wieder ein paar Erklärungsmuster hervorgeholt. Der britische Ökonom Paul Collier nennt Brexit in einem Interview in der «Sonntagszeitung» (7.4.19) eine «Meuterei», eine «Revolte gegen London». Dabei arbeitet er mit dem Schema der Metropolen versus die Provinz. Das sind die einfachen Dichotomien, die schon nach der Trump-Wahl angeboten wurden und selbst bei Analytikern wie Didier Eribon tendenziell durchschlagen. Collier macht das an der eigenen Herkunftsstadt Sheffield fest, eine Industriestadt, die durch den Abstieg der Schwerindustrie arg gebeutelt worden ist. In seiner Erzählung wird Sheffield mit 570’000 EinwohnerInnen ebenso zur Provinz wie die lauschigen südenglischen Dörfer, in denen sich die konservativen WählerInnen für den Brexit entschieden haben. Das ist die analytische Nacht, in der alle Katzen grau sind. Und er bedient einen Zirkelschluss. Alles, was nicht die Metropole London ist, ist Provinz. Alles, was Provinz ist, ist gegen die Metropole London. Dagegen weist selbst ein viel gescholtener und missbrauchter Begriff wie die Agglomeration auf differenziertere sozialpolitische Situationen hin.
Dem Gegensatz von Metropolen und Provinz läuft derjenige zwischen «Eliten» und «Volk» parallel. Doch die Kritik an den Eliten droht öfters, nach rechts zu kippen. Wer von den Eliten spricht, sollte vom Kapitalismus nicht schweigen. Das kann man Collier nicht vorwerfen, im Gegenteil, er macht das offensiv: Nicht der Kapitalismus ist schuld, der ist nämlich grundsätzlich ein Erfolg. Er muss nur in den Auswüchsen gezähmt werden. Collier fordert in seinem jüngsten Buch einen sozialen Kapitalismus, in der deutschen Titelfassung mit einem fetten Ausrufezeichen versehen. Einige seiner vorgeschlagenen Massnahmen sind durchaus sinnvoll, aber in der grundsätzlichen Analyse und der Zielrichtung wird dieser Pragmatismus ideologisch. Wie einst in den 1990er-Jahren der sozialdemokratische dritte Weg 615-544-4111 , der eben gerade den Aufstieg der neuen neoliberalen Klasse gefördert hat.
Es sind unterschiedliche Gründe, die die gegenwärtige «Revolte» schüren. Unterschiedliche Gründe sind als solche auseinanderzuhalten und zu analysieren. Ceterum censeo: Es braucht eine differenzierte Klassenanalyse. Im Übrigen wird die Brexit-Revolte politisch von einer Elite angeführt; sowohl Nigel Farage wie Jacob Rees-Mogg sind Hedgefund-Manager. Das gilt ja auch näher zuhause. Der zum Rücktritt gedrängte Präsident der Zürcher SVP, Konrad Langhart, hat in einem aufschlussreichen Interview im «Tages-Anzeiger» (6.4.19) eine neue Front ausgemacht: ländliche versus städtische SVP. Die «Intellektuellen» um Köppel, Mörgeli und (leise gewispert) Blocher hätten die einfachen Parteimitglieder im Weinland verprellt. Tja, die Rede von der abgehobenen classe politique und der Elite kann in einer hübschen Pointe womöglich auf ihre Urheber zurückfallen.
In der EU, die bislang in der Brexit-Frage eine erstaunliche Geschlossenheit gezeigt hat, zeigen sich erste Risse. EU-Ratspräsident Donald Tusk schlägt eine längere Ausssetzung des britischen Austritts vor. Emmanuel Macron scheint dagegen die Geduld mit der britischen Politik auszugehen (Geduld ist zweifellos keine seiner Stärken). Aber das ist vorläufig Kaffeesatzlesen. Bis zur ausserordentlichen Tagung des Europäischen Rats am kommenden Mittwoch sind vorerst wieder zwei Tage lang die britischen PolitikerInnen gefordert.