Den «New European» gibt es noch immer. Einst, nach der Brexit-Abstimmung im Juni 2016, als Pop-up-Zeitung gestartet und provisorisch auf vier Nummern angelegt, hat die Wochenzeitung seither 137 Mal die Vorteile der EU und Europas beschworen, mit Ernst und Witz und etlicher grafischer Fantasie. Dabei ist die Zeitung nicht etwa in einer der Medienmetropolen gestartet worden, sondern von einem regionalen Verlag aus. Jetzt, zum einstmals geplanten offiziellen Austrittsdatum, ist der «New European» in einer «very special edition» erschienen. Die ganze Nummer besteht aus täglichen Aufzeichnungen des Schriftstellers Will Self. Vom 6. bis zum 26. März hat er für jeden Tag ein bis zwei Seiten geschrieben, im gleichen Gestus illustriert von Martin Rowson.
Self ist ein unvergleichlicher Autor, sprachmächtig, gebildet, wütend, sein Repertoire umfasst Milieustudien ebenso wie Vorblicke in eine gentechnologisch veränderte Zukunft. Als Polemiker war und ist er ein gern gesehener Gast in den Medien. Sein bekanntester Ausflug in die Politik besteht immer noch darin, dass er einst während einer Reportage über den Wahlkampf von Tony Blair in dessen Flugzeug beim Drogenkonsum erwischt wurde. «A Plague on all your Houses» beginnt er, mit Shakespeare’s «Romeo und Julia», und dann spiesst er die Absurditäten der englischen (ja, vorwiegend englischen) Selbstzerstörung auf. Seine Kraft im Erfinden von Beschimpfungen ist beträchtlich, wobei das Material dafür sich in den Hinerzimmern von Whitehall, im Parlament und in den Medienhäusern häuft. Self ist gegen den Brexit, aber er ist auch gegen eine selbstgewisse Remainer-Mentalität, die er mit Waitrose verbindet, jenem Detailhändler, der als Genossenschaft organisiert ist und seiner überwiegend urbanen Klientel mit einem gepflegten Image sowie bio- und fairtrade-Sortiment ein gutes Gewissen verspricht. Natürlich ist die Identifizierung einer Waitrose-Schickeria nicht ganz unrichtig, aber sie versetzt doch auch einen Stich ins Herz, weil Waitrose auch unser Lieblinshändler ist (obwohl seine Qualität in letzter Zeit nachgelassen hat). Nun gut, Self schlachtet gerne heilige Kühe, und dazu gehören Ausfälle nach links und nach rechts. Ein bitterböses Lesevergnügen – nein, ich behaupte nicht, schon alles gelesen zu haben. Zum Schluss weiss er dann ja auch nicht wirklich weiter (er pendelt mittlerweile zwischen London und Paris, wo er selbstverständlich die gilets jaunes unterstützt), und seine Verwünschungen werden vor allem von jenem BildungsbürgerInnentum gelesen, das er so hart drannimmt.
Der «Guardian» stemmt sich weiterhin gegen den Brexit, aber es gibt Verschiebungen unter den KommentatorInnen. Bislang standen die eher linken hinter Corbyn und dessen Forderung nach Neuwahlen und hofften grossäugig, eine Corbyn-Regierung werde dann mirakulös einen besseren Deal hinkriegen, oder begrüssten insgeheim unter dem Motto «Sozialismus in einem Land» den Austritt aus der neoliberalen EU; die Liberalen dagegen setzten auf ein zweites Referendum, in dem sich die aufgeklärte Rationalität hoffentlich durchsetzen werde. Jetzt ist auch Gary Young, zögernd, wie er sagt, auf den Referendumspfad eingeschwenkt. Es ist auch das Eingeständnis einer Ratlosigkeit: Wenn das Volk wieder für Leave stimmen sollte, dann müssen wir uns halt damit abfinden.
Brexit-müde, sei die Nation, heisst es überall. In den Buchhandlungen sind jeweils ein paar Brexit-Bücher zusammengestellt, selbst (oder gerade) in der lokalen unabhängigen Buchhandlung (einem wahren Kleinod), ohne dass sie noch grosse Nachfrage finden. Umgekehrt verzeichnet der BBC-Fernsehkanal, der die Parlamentsdebatten überträgt, ungeahnte Zuwachsraten, und die Sondersendungen der BBC und von Channel 4 ebenso. Über vier Millionen ZuschauerInnen schauten zu, als Theresa May letzte Woche ihre zweite Niederlage einfuhr, gleich viel wie die ewige Seifenoper «Eastenders» oder die neue Staffel des schottischen Krimis «Shetland» sahen. Ein Kränzchen sei an dieser Stelle auch noch dem Privatsender Sky gewidmet, dessen unermüdlicher Präsentator Dermot Murnaghan die Götterdämmerung mit Bravour und Witz meistert. Allerdings steht zu vermuten, dass ein Grossteil des Aufschwungs aufs Konto der Waitrose-Allianz geht. Die «Mail on Sunday», aus persönlichen Gründen auf Chefredaktorenebene in einen verbissenen Kampf mit der Schwesterzeitung «Daily Mail» verwickelt, ist nicht mehr so ganz rabiat wie diese für den Brexit (aber immer noch gleich rabiat Anti-BBC); doch kann sie es nicht lassen, in ihrer personalisierten Berichterstattung die Chancen von Boris Johnson als Premierminister zu pushen, der, wie sich eben dieser «Mail on Sunday» entnehmen lässt, durch seine neuste 31-jährige Freundin ein jüngeres Image und neuen Drive verpasst bekommen hat. Man weiss nicht so genau, ob das Bestreben, die treibende Frau hinter dem getriebenen Mann zu suchen, eine neue weibliche Ermächtigung abbilden soll oder den alten Sexismus bedient. Lady Macbeth kommt einem natürlich in den Sinn, aber Will Self warnt zu recht, dass man Parallelen mit Shakespeare nicht übertreiben sollte. Das waren schliesslich Tragödien, und wir sind längst, mit Marx, bei den Farcen.