Es hat wieder nicht gereicht. Am Montagabend konnte sich das britische Parlament auch im zweiten Anlauf nicht auf einen Kompromiss bezüglich eines weicheren Brexit einigen. Worauf Premierministerin Theresa May am Dienstag der Labour Party Verhandlungen über eine gemeinsame politische Strategie in Bezug auf den Brexit anbot. Fehlt nur noch eine Regierung der nationalen Einheit.
Im Vorfeld zur zweiten Reihe der Parlamentsabstimmungen waren dem Vorschlag eines EFTA-Beitritts die grössten Chancen eingeräumt worden. Er unterlag mit 21 Stimmen. Das war eine deutliche Verbesserung gegenüber letzter Woche, als er mit 188 zu 283 Stimmen abgeschmettert worden war. Diesmal war der EFTA-Beitritt aus taktischen Gründen von Labour unterstützt worden, ja, Parteichef Jeremy Corbyn hatte die Parteidisziplin eingefordert – mit britischer Ironie wird das samt durchaus sadomasochistischer Färbung als «whip» bezeichnet, wenn die EinpeitscherInnen der Partei die Runde machen. Dennoch stimmten 25 Labour-Abgeordnete, vorwiegend aus Wahlbezirken mit Mehrheiten für den Brexit, gegen den Vorschlag, 35 enthielten sich der Stimme.
Am knappsten fiel das Resultat für eine Zollunion zwischen dem UK und der EU aus. Sie wäre der kleinste gemeinsame Nenner eines weichen Brexit, ein Ökonomismus der einfacheren Art. Nix von gemeinsamen Werten, sozialen Verpflichtungen, nur pragmatisch verhindern, das ganze Gewirr ökonomischer Beziehungen auf einen Schlag zu durchtrennen. Selbst ihr Protagonist, der europafreundliche Tory-Abgeordnete Kenneth Clark, räumt diesen Minimalanspruch unumwunden ein. Aber die Zustimmung zu einer Zollunion durchs Parlament hätte immerhin symbolisiert, dass man die ganze Chose nicht einfach so schlittern lassen will.
Bemerkenswerterweise war die Abstimmung, mit der sich die ParlamentarierInnen zum zweiten Mal das Recht zusprachen, selbstständig Abstimmungen durchzuführen, deutlicher ausgefallen als die erste. Nach der ersten erfolglosen Serie hatte man befürchten müssen, dass einige Tories kalte Füsse über den eigenen Mut kriegen würden, aber die Mehrheit für eine Selbstermächtigung des Parlaments erhöhte sich noch um eine Stimme auf 45. Für ein positives Resultat zur Zollunion reichte es trotzdem nicht. Bei der ersten Abstimmung war sie mit sechs Stimmen unterlegen, jetzt fehlten ihr drei Stimmen. Das Parlament bewegt sich wie ein nicht sehr majestätischer Gletscher. Dass es nicht zur Mehrheit kam, lag unter anderem an den Liberaldemokraten und den aus der Labour Partei ausgetretenen Unabhängigen, Remainern, die immer noch auf eine Annullierung des Austritts oder eine zweite Abstimmung setzen.
Verständlicherweise aber etwas deprimierend, oder deprimierenderweise aber verständlich, wird die Mitgliedschaft in einer Zollunion ebenso wie in der EFTA nur als technisch-ökonomische Frage behandelt. Selbst die Scottish National Party ist für die Personenfreizügigkeit, weil die vor allem wichtig für die schottische Ökonomie sei. Dass man sie als Menschenrecht einklagen könnte, steht ausser jeder Debatte.
Nach den negativen Parlamentsabstimmungen versammelte sich das Kabinett am Dienstag zu einer siebenstündigen Sitzung. Am Abend verkündete Theresa May, sie werde bei der EU eine weitere Verschiebung des Austrittsdatums beantragen und bot Labour-Chef Corbyn Gespräche über eine gemeinsame politische Deklaration an. Eine «Sensation», die «wie eine Bombe» einschlug. Viel Empörung bei den Brexiteers, «politischer Selbstmord», «Ausverkauf», «Kollaboration mit einem Marxisten». Letzte Woche hatte unter anderem der ehemalige konservative Regierungschef John Major die Idee einer Regierung der nationalen Einheit ins Spiel gebracht. Sollte May tatsächlich an so etwas denken? Aber man kann den Vorschlag nicht so ganz ernst nehmen, und vieles der Empörung von rechts wirkt künstlich. Zuerst einmal ist das Gesprächsangebot das Eingeständnis einer Niederlage. Am Wochenende hatte May noch kaum verhüllt damit gedroht, ihren dreimal gescheiterten Deal ein viertes Mal vors Parlament zu bringen. Jetzt scheint sie eingesehen zu haben, dass er ein weiteres Mal krachend scheitern würde. Auch Neuwahlen sagen den Tories nach den jüngsten Umfragen eine Niederlage voraus. Vor achtzehn Monaten wären Gespräche mit der Opposition notwendig und sinnvoll gewesen; jetzt wirken sie als verzweifeltes taktisches Geplänkel. Corbyn kann von seinen bisherigen Vorschlägen (Zollunion, Elemente eines Binnenmarkts, Schutz der Rechte der ArbeitnehmerInnen) nicht abrücken. Wenn May diesem Paket wider alle Erwartungen zustimmen würde, wäre eine Spaltung der konservativen Partei wahrscheinlich. Viel eher kalkuliert May wohl damit, dass sie nach dem Gespräch, oder den Gesprächen, mit Corbyn diesem die Schuld am Scheitern zuschreiben kann, um sich bei den Tories verzweifelt als Parteichefin im Gespräch zu halten. Worauf dann wieder das Parlament an der Reihe wäre. Und das alles bis zum 12. April.
Die Debatte im Unterhaus vom Montag wurde kurzfristig durch eine Demonstration von elf Mitgliedern des Extinction rebellion movement abgelenkt, die sich dezent bis auf die Unterhosen und Slips entkleideten und sich an das Plexiglas der Publikumsgalerie anleimten. Was dann Gelegenheit zu etlichen Witzchen über die «nackte Wahrheit» bot, welche die Regierung der Bevölkerung jetzt bieten müsse. Die DemonstrantInnen haben ja recht, dass Brexit alle mindestens ebenso wichtigen Fragen wie den Klimanotstand blockiert. Was es umso dringlicher macht, dass die Brexit-Blockade aufgelöst wird.
Das Pfund sinkt, und die Hauspreise in London sind erstmals seit langer (sehr langer) Zeit gefallen. Aber, versichert der lokale Häusermakler, das ist nicht besorgniserregend. Der Hypothekarsatz – in dem auf Kredit finanzierten britischen Häusermarkt der Hebel aller Bewegungen – werde vorläufig stabil bleiben. Die Finanzsysteme seien global so miteinander verknüpft, dass sich England solo eine heftige Zinsfussanpassung nicht leisten könne. Das ist nicht als politische Aussage gemeint, sondern da spricht der herrschende ökonomische Sachverstand. Der ist politisch, weil viele Brexiteer diese globale Interdepenzenz ignorieren. Er ist auch erschreckend technokratisch, weil man das gleiche schon vor dem Finanzcrash gesagt hatte.