Beginnen wir mit dem Positiven: Harvey ist kein akademischer Marxologe und kein kritischer Schmetterlingssammler. Man nimmt ihm ab, dass es ihm um den Umsturz der herrschenden Verhältnisse geht: «Für jede revolutionäre Strategie ist es entscheidend, das Rätsel des Kapitals zu entschlüsseln und durchsichtig zu machen» (234). Um dieses Ansinnen zu unterstützen, untersucht Harvey in seinem Buch Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, wie die Bewegungen des Kapitals die Welt verändern und wie es in diesem Prozess immer wieder zu Krisen kommt. In seiner faktenreichen Analyse gelingt es ihm, viele marxistische Basics so zu integrieren, dass er auf schwierige Begrifflichkeiten verzichten und stattdessen in gut verständlicher Sprache die Entwicklungen nachzeichnen kann. Die Übersicht über den Krisenverlauf und seine historische Einbettung sind recht gut gelungen und insbesondere das geographische Moment arbeitet Harvey nachvollziehbar heraus: wie die Welt nach kapitalistischen Anforderungen strukturiert wird und wie die «Reproduktion des Kapitals von den scheinbar chaotischen Formen der ungleichen geografischen Entwicklung abhängig ist» (153). Doch dort, wo es um eine tiefergehende Erklärung der Krise ginge, wird Harvey unbestimmt und zeigt eine problematische Schlagseite.
Harvey lehnt die klassischen marxistischen Krisenerklärungen ab und schreibt, dass es einen sehr viel besseren Ansatz gebe, um die ökonomischen Verwerfungen zu untersuchen. Dazu zählt er eine Reihe von Schranken auf, die eine Krise erzeugen können und deren Überwindung immer wieder auf Kosten der Verstärkung einer anderen Schranke gehe: «Knappheit von Geldkapital, Probleme der Arbeitskraft, Disproportionalitäten zwischen Wirtschaftssektoren, Ungleichgewichte bei technologischen und organisatorischen Veränderungen, Disziplinprobleme im Arbeitsprozess und fehlende effektive Nachfrage» (117). Harvey negiert die krisentheoretischen Ansätze, die von einer Notwendigkeit und Verschärfung der Krisen ausgehen und ersetzt sie durch einige relativ einfach zu überwindende Schranken (sie werden eben nicht auf ein strukturelles Problem des Kapitalismus zurückgeführt). Natürlich lassen sich nicht alle Krisen monokausal aus der einen grossen Tendenz erklären, sondern müssen in ihrer besonderen historischen Situation untersucht werden. Dennoch ist es wichtig, die Frage zu stellen, welche grossen strukturellen Probleme die fortwährende Akkumulation von Kapital nach sich zieht.
Harvey weicht dieser Frage im vorliegenden Buch aus, obwohl er diesbezüglich eine Schlagseite hat: Ihm wurde immer wieder vorgeworfen, dass er eigentlich ein verkappter Keynesianer sei und seine Krisentheorie in den entscheidenden Momenten letztlich auf eine Unterkonsumtionstheorie hinauslaufe. Es lassen sich auch einige Stellen anführen, in denen Harvey klar in diese Richtung argumentiert; etwa wenn er davon spricht, dass eine Wiederbelebung der Weltwirtschaft ein keynesianisches Programm voraussetze (264) oder wenn er von den progressiven Momenten der staatlichen Umverteilung schwärmt (218). Aber Harvey schreibt auch: «Das eigentliche Problem ist nicht die mangelnde Nachfrage, sondern der Mangel an gewinnträchtigen Sphären für die Reinvestition der aus der Produktion von gestern gewonnen Überschüsse» (116). Allerdings krebst er bloss eine Seite später wieder zurück und spricht davon, dass das Problem sei, dass die Macht des Kapitals ein Nachlassen in der effektiven Nachfrage erzeugt habe.
Das passt auch dazu, dass Harvey das Problem der Überakkumulation kaum systematisch herausarbeitet. Gedanken dazu lassen sich bloss verstreut im Buch finden. So ist es dann auch eher eine weitere Verrätselung als eine Entschlüsselung der Krise, wenn Harvey unvermittelt meint: «In dem Masse, in dem überschüssiges Kapital und eine wachsende Bevölkerung zum Problem werden, bildet die Verstädterung eine wichtige Möglichkeit, beide zu absorbieren» (164). Es ist augenscheinlich, dass Geld gerade in Krisenzeiten in den teurer werdenden Immobilien auf Manhattan oder in Zürich geparkt wird, aber es bleibt Harveys Rätsel, wie die Städte Kapital produktiv absorbieren können – und nur dann könnte von erfolgreicher Absorption gesprochen werden. Um dies zu beantworten, müsste man sich eben mit den hintergründigen Tendenzen befassen, die auf die Profitraten des Kapitals drücken und damit die Verwertung in der produktiven Sphäre verhindern; was dazu führt, dass Kapital in anderen Bereichen angelegt werden muss.
So unbestimmt und teilweise verwirrend wie es in der Krisenerklärung zu und her geht, so problematisch sind Harveys grundsätzliche Überlegungen zur Entwicklung des Kapitalismus. Er zählt sieben «Handlungsbereiche in der Evolution des Kapitalismus» auf: «Technologien und Organisationsformen; gesellschaftliche Verhältnisse; institutionelle und administrative Strukturen; Produktion und Arbeitsprozess; die Beziehung zur Natur; die Reproduktion des alltäglichen Lebens und der menschlichen Spezies; und die geistigen Vorstellungen von der Welt» (123). Das alles hängt bei Harvey nun irgendwie dialektisch zusammen 615-544-2377 , aber kein Moment hat den Vorrang. Unbestimmter geht es nicht: Gesellschaftliche Verhältnisse und die Beziehung zur Natur? Institutionelle Strukturen und der Produktions- und Arbeitsprozess? Alles irgendwie gleichrangig? Man muss es nun nicht gleich mit Georg Lukács halten und jedes Problem der Menschheit im Kapitalismus auf ein Problem der Warenstruktur zurückführen. Aber man sollte sich doch bewusst sein, dass die besondere historische Form, in der die Reproduktion der Menschheit organisiert ist, nicht unbedingt gleichrangig ist mit der Frage, welche «geistigen Vorstellungen» von der Welt sich die Menschen machen.
Wo Harvey in einigen Fragen bloss Verwirrung stiftet, da wird es richtig ärgerlich, wenn es um den Staat geht. Zwar bleiben seine Beschreibungen oberflächlich, so auch wenn er den von ihm so genannten «Finanz-Staat-Nexus» beschreibt. Man kann in so einem Buch wohl auch keine ausgereifte Staatstheorie erwarten. Aber was Harvey zum Thema zu sagen hat, lässt befürchten, dass selbige mehr als schief herauskommen würde. Er empört sich, dass der Kapitalist «den Staat kontrolliert» (103) und die Möglichkeiten der Regierung im «vom Unternehmerinteresse beherrschten Staat» (105) immer mehr unterhöhlt werde. Harvey hat offensichtlich keinen Begriff vom Staat als Staat des Kapitals. So klingt es denn auch so, als könne man den Staat den KapitalistInnen irgendwie entringen, wenn er sich fragt, ob die Übernahme und Veränderung der Institutionen (137) ein Weg sei, oder wenn er vom «Umverteilungssozialismus in der Zeit nach 1945» (217) spricht.
In seiner Auffassung des Staates kommen schliesslich alle angesprochenen Probleme zusammen: Seine keynesianische Schlagseite, wenn er die staatliche Wirtschaftsankurbelung als Voraussetzung «zur Wiederbelebung des globalen Wachstums» (264) bestimmt; seine Diffusität in Bezug auf die gesellschaftlichen Bereiche, wenn er meint, dass revolutionäre Ideen auch in den «institutionellen Arrangements» (224) zum Tragen kommen müssten; und seine Unklarheiten in Bezug auf eine revolutionäre Bewegung, wenn er meint, eine solche könne auch von dem Punkt ausgehen, wo sie beginnt, «institutionelle und administrative Strukturen zu reformieren einschliesslich der Neugestaltung von staatlicher Macht» (221).
* Dieser Text erschien erstmals in der sozialistischen Zeitung vorwärts als Rezension von David Harveys «Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln».