Jede Revolte hat ihre Vorläufer, sucht ihre Anlässe und findet ihren Kulminationspunkt. Auch wenn das Jahr 1968 für eine globale Bewegung steht, eine Welle, die fast überall hinreichte, hatte doch jedes Land seine eigenen Katalysatoren und Betablocker, die dieses verstärkten und jenes abschwächten. Mässigend wirkten in der Schweiz die föderale Struktur, die Doppelidentitäten der Sprachregionen, die nicht manifeste faschistische Vergangenheit. Aufputschend der Übereifer der Schweizer Militärs im Kalten Krieg und die exzessive Bewirtschaftung des Schweizerischen Bünzlitums durch die Obrigkeit, die an der Expo 1964 im Skandal um die «Gulliverumfrage» ihren Ausdruck fand: Denn Umfragen, die die Dinge wie sie sind bestätigen, sind der Normalfall. Umfragen, die die Dinge in Frage stellen, ein Unfall.
Ein solcher Unfall ereignete sich an der Expo 1964, als viele bzw. zu viele Schweizerinnen und Schweizer auf harmlose Fragen nicht so antworteten, wie man das von ihnen erwartete: Dass eine beachtliche Zahl von ihnen offenbar fand, man könne auch eine gute Schweizerin oder ein guter Schweizer sein, wenn man morgens erst um 9 Uhr aufstehe oder keinen Militärdienst leiste, war dem Bundesrat zu viel – und er verhinderte kurzerhand die Veröffentlichung der Umfrage.
Der kürzlich emeritierte Basler Soziologe Ueli Mäder nennt in seinem Buch: 68 – Was bleibt? aber noch weitere wichtige Anlässe, an denen sich in der Schweiz der Widerstand entzünden konnte: «Die Schweiz war in den 1960er-Jahren das einzige europäische Land, in dem die staatsbürgerliche und rechtliche Gleichstellung der Frau abgelehnt wurde. Ebenso wollte die Schweiz auch die internationalen Menschenrechtskonventionen nicht anerkennen. Und der Staatsschutz registrierte kritische Personen in der ‹Extremisten-Kartei›.» Insbesondere die Frauendiskriminierung wurde durch 68 endlich in genügendem Masse skandalisiert, so dass 1971 das Frauenstimmrecht auch in der Schweiz eingeführt werden konnte.
Als ein weiterer wichtiger Vorläufer, ja gar als geistigen Vater der 68er Bewegung, wird im Buch Max Imboden, der ehemalige Rektor der Universität Basel, genannt, dessen Schrift Helvetisches Malaise 1964 für Aufsehen sorgte. Imboden legte darin dar, «wie die Schweiz von einer revolutionären Nation im 19. Jahrhundert zu einer der konservativsten der Welt wurde». Max Imboden habe, führt sein Sohn Dieter aus, die Schrift als Weckruf verstanden und «befürchtet, dass die vormals berechtigte Reduit-Idee nach dem Krieg eine Anpassung an die technologischen Erneuerungen verhindern könnte».
Die Haltung zum Fortschritt ist ein Thema, das eine Einschätzung der Wirkungen von 68 im Kern sehr schwierig macht: Es ist zu fragen, wieviel Leiden an der Gegenwart und wieviel Zukunftsangst die 68er antrieb und ob diese Sorge, den Anschluss zu verpassen, sich nicht seit da verselbständigt hat in den permanenten Reformprojekten in den Institutionen. Und haben sich nicht dadurch auch die bürokratischen Zwänge verschärft, obwohl man sich doch gerade davon ja befreien wollte? Ist vielleicht die Kritik der 68er an den zerstörerischen Folgen eines ungezügelten Fortschritts nicht zu trennen von ihrer Angst, dass dieser ohne sie hätte stattfinden können?
Mäder hat in über hundert Interviews Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt, die alle irgendwie als 68er gelten können, darunter auch einige, die sich bereits selber forschend oder publizistisch mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Um einen Eindruck zu geben von den illustren Namen und der guten Vertretung der Ostschweizerinnen und Ostschweizer seien hier einige Namen in zufälliger Reihenfolge genannt: Regula Renschler, Joe Schelbert, Urs Jaeggi, Barbara Gurtner, Jochi Weil, Marianne Recher, Res Strehle, Arne Engeli, Urs Jäggi, Hansjürg Fehr, Isolde Schaad, Beat Dietschy, Hans Fässler, Roland Gretler usw. Allein schon die Versammlung eines solchen «Who is Who» der Deutschschweizer politischen und kulturellen Prominenz unter einem Thema macht neugierig auf dieses Buch und war wohl nur einem über seine Zunft hinaus weithin geachteten Forscher wie Ueli Mäder möglich.
Dass sich Mäder einer direkten Bewertung der unterschiedlichen Lebenswege in Kategorien der Treue oder des Verrats an den damaligen Idealen enthält, gehört selbstverständlich zu seinem Neutralitäts-Ethos als Soziologe. Andererseits bleibt somit auch einiges, das sich gerade am biografischen Material zeigen liesse, etwas in der Schwebe: Zum Beispiel die Frage, wie sich die Klassenherkunft der Aktivistinnen und Aktivisten und deren spätere politische und berufliche Entwicklung zueinander verhalten oder inwiefern die von vielen im Alter geteilte liberale Grundhaltung von ihnen als Kontinuität oder als Korrektur der Ideen von 68 wahrgenommen wird?
Weil sich die Zeitzeugen-Methode auf den Reflexionsstand der Befragten verlassen muss, fehlt es ihr zudem auch an Möglichkeiten einer kritischen Einordnung der Aussagen. Dieser Mangel fällt in den Passagen zum Israel-Palästina-Konflikt besonders ins Gewicht, da die Motive für die starke Palästina-Solidarität der 68er und der sich daraus entwickelnden Friedensbewegung so nicht erörtert werden. Deren oft unkritische Parteinahme für die Palästinenserinnen und Palästinenser, die im Fall des Attentats auf die israelische Olympiadelegation in München 1972 gar Hand bot für die politische Rechtfertigung der neuerlichen Ermordung von Juden in Deutschland, und die starke negative Fixierung auf den Zionismus gehen nicht auf im normalen Antiimperialismus der damaligen Linken.
In gewisser Weise atemberaubend und gekonnt kontrapunktisch zusammengestellt ist der Zeitraffer, in dem Mäder die wichtigen Ereignisse der 60er- und 70er-Jahre darstellt. Hier ein kleiner Ausschnitt: «Am 16. Oktober setzen an den Olympischen Spielen in Mexiko die beiden US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos ein Zeichen für die ‹Black Power›. Sie erheben bei der Siegerehrung (Gold- und Bronzemedaille) die rechte Faust und werden ausgeschlossen. Am 31. Oktober will US-Präsident Johnson die Bombenangriffe auf Nordvietnam einstellen. Am 5. November setzt sich bei den US-Präsidentschaftswahlen der Republikaner Richard Nixon durch. Am 7. November ohrfeigt Beate Klarsfeld den deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit. Im Dezember erscheint Asterix auf Deutsch.»
Ebenfalls eine grosse Stärke des Buches sind Stellen wie die folgende, in denen die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der biografischen Bezüge der Protagonistinnen und Protagonisten sichtbar werden: «Aber dann kam 1968 Günter Amendt nach Zürich und beeindruckte Res Strehle. Amendt regte an, die weichen Matten in den Turnhallen lieber für freie Sexualität denn für harte Abgänge von den Ringen zu nutzen. Das kam an. Res Strehle fühlte sich als Pazifist. Zudem berührten ihn Schriften von gewaltfrei widerständigen Theologen wie Dietrich Bonhoeffer, Leonhard Ragaz oder Paul Tillich. Bei vielen 68er-Bewegten spielten sozial-religiöse Motive mit. So etwa bei Peter (‹Pierre›) Sigerist, Mascha Madörin, Peter Bichsel oder Hardy Hepp, der heute erklärt: ‹Aber auch Karl Barth, Mahalia Jackson oder die Gleichnisse im neuen Testament begleiteten mich auf meinem Weg in ein selbständiges Leben›.»
Mäder nennt am Anfang vier einfache Annahmen als Ausgangspunkt für seine Gespräche zu 68: «Erstens: Der 68er-Aufbruch reagierte, von Utopien inspiriert, auf autoritäre Strukturen, bürokratische Zwänge und konsumistisches Verhalten. Zweitens: Der 68er-Aufbruch (…) trug dazu bei, eng geführte Traditionen aufzubrechen und gesellschaftliche Einrichtungen zu demokratisieren. Drittens: Die 68er-Bewegung schwächte sich über ideologische Verhärtungen selbst. Sie bleibt aber bis heute über Folgeprojekte und engagierte Personen wirksam. Viertens: Heutige Jugendliche orientieren sich, von pluralistischen Sozialstrukturen geprägt, an politischen Identitäten, die Widersprüche zulassen und neue soziale Verbindlichkeiten suchen.»
Für die ersten drei Annahmen liefert das Buch eine grosse Fülle an Material – erdacht, erlebt und erstritten durch die befragten Protagonistinnen und Protagonisten. Es ist dadurch nicht nur eine Schweizer Geschichte der letzten 50 Jahre, sondern auch eine Fundgrube für weitere Forschungen. Was aber die vierte Vorannahme über die heutigen Jugendlichen und ihre Belege im Buch betrifft, so ist diese, angesichts vieler heute auch von Leistungsdruck und Abstiegsängsten geprägten Jugendbiografien, wohl mehr dem Idealisten und weniger dem Empiriker Mäder zuzuschreiben. Dass er ein solcher aber den ganzen langen Gang durch die Institution Universität geblieben ist, weist ihn letztlich als einen 68er aus, der selber seinen Idealen die Treue hielt.
*zuerst erschienen in: Saiten, 4/2018